Società | Interview

„Tiefer statt breiter wachsen“

Martina Hellrigl erzählt, wie aus einer Idee im Obervinschgau eine Sozialgenossenschaft wurde, die biologische Landwirtschaft, soziale Integration und regionale Kooperation verbindet, weiterwächst und heuer das zehnjährige Jubiläum feiert.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: Vinterra
  • SALTO: Frau Hellrigl, was kann man sich unter Vinterra vorstellen?

    Martina Hellrigl: Vinterra ist eine Sozialgenossenschaft mit Sitz in Mals im Vinschgau. Mindestens 30 Prozent der Mitarbeitenden müssen einer sozialen Randgruppe angehören. Viele Sozialgenossenschaften spezialisieren sich auf Dienstleistungen, das Besondere an Vinterra ist jedoch die Kombination aus sozialer Arbeit und biologischer Landwirtschaft.

    Wir haben mit biologischem Gemüse- und Getreideanbau begonnen, mit dem Ziel, diese Erzeugnisse nicht nur zu verkaufen, sondern sie auch als Basis für weitere Tätigkeitsfelder zu nutzen – etwa in der Veredelung oder Gastronomie.



    Wie wurde das konkret umgesetzt?

    2019 konnten wir ein wichtiges Projekt realisieren: das Bistro Vinterra in Mals. Dort verarbeiten wir nicht nur eigene Produkte, sondern auch andere biologische Erzeugnisse aus der Region. Durch diese Vernetzung mit anderen Betrieben sind wir heute Teil der regionalen Wirtschaft.

  • Das Bistro Vinterra in Mals: Foto: Vinterra
  • Vinterra wird heuer zehn Jahre alt, wie kam es ursprünglich zur Gründung?

    Es gab bereits im Vorfeld längere Vorarbeiten. Elf Gründungsmitglieder kamen aus den Bereichen Sozialarbeit, Landwirtschaft, Gastronomie und ein paar waren auch Quereinsteiger, wie ich selbst. Den Nährboden für die Gründung lieferte der „Malser Weg“. Mals bot ideale Bedingungen: Im Obervinschgau sind Flächen für biologischen Gemüseanbau leichter zu pachten als anderswo, wo der Apfelanbau mehr dominiert. Wir waren die erste Sozialgenossenschaft in Südtirol, die mit Landwirtschaft begonnen hat, was uns fördertechnisch zunächst einige Hürden bescherte. Dennoch haben wir es geschafft, und die Landwirtschaft war über Jahre unser einziger Tätigkeitsbereich.


     

    „Vielfalt heißt, Füße in vielen Orten verankert zu haben.”


     



    Wie hat sich Vinterra seitdem weiterentwickelt?


    Nach kleineren Versuchen im Gastronomiebereich, die sich wirtschaftlich nicht tragen ließen, war die Eröffnung des Bistros ein großer Schritt. Parallel dazu wuchs unsere landwirtschaftliche Fläche von anfänglich 2,5 auf etwa 5 Hektar. Unser Sortiment wuchs ebenfalls– heute sind es rund 30 Gemüsesorten und drei Getreidesorten.


    Gab es besonders herausfordernde Phasen?

    Die ersten Jahre waren wirtschaftlich schwierig. Während der Covid-Zeit haben unsere Mitarbeiter*innen geholfen, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Der erste Corona-Lockdown kam nur ein halbes Jahr nach der Eröffnung des Bistros. Das war ein harter Einschnitt. Wir haben damals beschlossen, neue Genossenschaftsmitglieder zu gewinnen – mit Erfolg: Die Mitgliederzahl verdoppelte sich, und die Einlagen stabilisierten unser Kapital. Das gab nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern war auch ein starkes Signal der Unterstützung. Zusätzlich erhielten wir Fördermittel und Hilfe von Initiativen wie „Südtirol hilft“. 

     

    Welche Menschen arbeiten bei Vinterra – und was gibt ihnen die Arbeit?

    Wir beschäftigen etwa 15 Personen ganzjährig, viele davon in Teilzeit. Dazu kommen saisonale Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Gastronomie sowie Praktikant*innen – oft junge Menschen, die sich beruflich orientieren möchten.

    Unsere Zielgruppe umfasst Menschen mit psychischen Erkrankungen, Suchterfahrungen, Langzeitarbeitslosigkeit oder körperlicher Einschränkung. Besonders in der Landwirtschaft erleben viele die Arbeit als stabilisierend. Ein Mitarbeiter mit psychischer Erkrankung hat einmal erzählt, wie heilsam für ihn die tägliche Arbeit im Freien ist – das Erleben der Natur und ihrer Kreisläufe.

    Auch die Infrastruktur hat sich stetig verbessert. Im Bistro organisieren wir regelmäßig Veranstaltungen, und im Jubiläumsjahr 2025 legen wir besonderen Fokus auf Kultur und Begegnung. Unsere Arbeit wurde vielfältiger – Vielfalt heißt, Füße in vielen Orten verankert zu haben.

  • Die Arbeit auf dem Felde: Heilsam für manche Foto: Vinterra
  • Wie schafft ihr ein gutes Arbeitsumfeld für unterschiedliche Menschen?

    Wir achten auf gute Rahmenbedingungen, das Betriebsklima ist entscheidend. Wenn Menschen sich wohlfühlen, arbeiten sie besser und sind belastbarer. Dafür braucht es Fachpersonal, das nicht nur anleitet, sondern auch begleitet.

    Darum sind die Förderungen so wichtig: Sie ermöglichen uns, ausgebildete Sozialarbeiter*innen einzusetzen, die gezielt unterstützen können. Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf brauchen mehr Zeit, Verständnis und Flexibilität, das kann eine rein wirtschaftlich ausgerichtete Struktur oft nicht leisten.

     

    Wer sind eure Kunden – und wohin wird geliefert?

    Unsere treuesten Kund*innen sind öffentliche Einrichtungen wie Altersheime und Schulküchen im Ober- und Mittelvinschgau. Auch private Haushalte und einzelne Betriebe bestellen regelmäßig bei uns. Ab Sommer liefern wir mindestens einmal wöchentlich, teilweise auch ins Pustertal oder nach Gröden. Über das ganze Jahr wird Lagergemüse ausgeliefert.



    Wie ist die Situation in der Gastronomie?

    Der Absatz in der Gastronomie ist schwieriger. Zwar beliefern wir einige Betriebe, etwa das vegane Hotel LA VIMEA in Naturns – ein langjähriger, treuer Partner –, aber viele Gastbetriebe kaufen nur punktuell ein. 

    Momentan gibt es eine Initiative, um Gastronomie und Landwirtschaft besser zu vernetzen – unterstützt durch Gemeinden und Tourismusvereine. Eine Online-Plattform soll dabei helfen, Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Vinterra wird daran teilnehmen.

     

    „Das Schöne an einer Genossenschaft ist, dass sich neue Ideen entwickeln können, von innen heraus.“

     



    Wie sehen die nächsten Schritte aus?

    Wir arbeiten daran, unsere Tätigkeiten wirtschaftlich zu stabilisieren. Ohne die öffentliche Förderung für soziale Arbeit könnten wir nicht bestehen. Allein mit dem Verkauf von Gemüse oder Gastronomieerträgen könnten wir die Strukturen nicht aufrechterhalten – besonders in einer ländlichen Region wie dem Vinschgau, wo Preisgestaltung schwieriger ist als in der Stadt.

    Unser Ziel ist nicht zwangsläufig Wachstum, sondern eine sinnvolle Weiterentwicklung: Bestehendes stärken, Abläufe verbessern, Vielfalt sichern. In diesem Sinne wollen wir „nach innen dichter“ werden, also tiefer statt breiter wachsen.

  • Im Bistro: Ort der Begegnung Foto: Vinterra
  • Ist eine konkrete Veränderung geplant?

    Aktuell nicht. Aber das Schöne an einer Genossenschaft ist, dass sich neue Ideen entwickeln können, von innen heraus. Jeder kann sich einbringen. Wir bleiben offen für Entwicklungen und neue Impulse, auch aus dem Umfeld.



    Was wünschen Sie sich zur 10-Jahres-Feier?

    Vor allem Begegnung. Wir haben ein buntes Programm geplant – mit Themen, die unsere Arbeit widerspiegeln: soziale Integration, biologische Landwirtschaft, nachhaltige Lebensstile.

    Im Herbst veranstalten wir einen Workshop zum Thema Upcycling-Mode, das sind Formate, die man in Städten wie Bozen oder Meran häufiger findet. Uns ist wichtig, solche Impulse auch in den ländlichen Raum zu bringen. Mit dem Bistro haben wir einen Ort geschaffen, der genau das ermöglicht.

  • Das Programm: Zum zehnjährigen Jubiläums von Vinterra Foto: Vinterra