Cultura | Salto Gespräch

Orte der Einkehr

Margot Schwienbacher hat ein Buch über bäuerliche Kapellen gemacht. In Südtirol gibt es davon tatsächlich jede Menge. Ein frommes Gespräch über sakrale, lokale Baukultur.
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Foto: Folio

Salto.bz: Wo steht denn die älteste nachgewiesene Bauernkapelle in Südtirol? Und welche Heiligen werden in dieser Kapellen verehrt?

Margot Schwienbacher: Das ist sehr schwierig zu beantworten. Aus mehreren Gründen. Bei den ältesten Kapellen ist nicht immer überliefert, wann sie entstanden sind. Auch das Denkmalamt kann es nur annäherungsweise sagen. Manche Kapellen waren ursprünglich ein Bildstock und wurden im Lauf von Jahrhunderten ausgebaut und erweitert; auch da sind die Anfänge nur schwer zu belegen. Grundsätzlich ist es aber so, dass die ältesten Kapellen, die heute in bäuerlichem Besitz sind, oft nicht direkt von Bauern selbst erbaut wurden. Es waren Klöster, die für ihre Wirtschaftshöfe so genannte Klosterhofkapellen erbauen ließen – da gibt es etwa St. Daniel am Kiechelberg in Auer, das im 14. Jh. entstanden ist und dem alttestamentarischen Propheten Daniel geweiht ist. Der dazugehörende Kiechelberghof lieferte dem Benediktinerinnenkloster auf der Sonnenburg den Wein. Die heute profanierte Jenewein-Kapelle in Schlanders ist erstmals im 12. Jh. urkundlich erwähnt und dem heiligen Ingenuin von Säben – volkstümlich Jenewein – geweiht; der dazugehörende Hof belieferte das Kloster Marienberg mit Lebensmitteln. 
Zu den alten Kapellen zählen auch jene, die von Adeligen bei ihren Ansitzen und Gutshöfen errichtet wurden. Davon gibt es einige, die später in bäuerlichen Besitz übergegangen sind. Sie stammen oft aus dem späten 16., frühen 17. Jahrhundert; interessanterweise sind sie häufig der heiligen Anna geweiht.

Und wo steht die jüngste bäuerliche Kapelle?

Die jüngste Kapelle wurde noch während der Arbeit an diesem Buch fertiggestellt und im Sommer 2022 geweiht. Es ist die Kapelle vom Gialhof in Schluderns. Sie ist dem heiligen Bernhard geweiht, dem Schutzpatron der Bergsteiger und der heiligen Anna, die am 26. Juli ihren Festtag hat.
 

Wir möchten mit diesem Buch auch keineswegs den schnellen „touristischen Konsum“ der Kapelle fördern. Kapellen sind keine Museen, sondern immer noch Orte der Einkehr.  


Sie kennen nach den Recherchen zu diesem Buch sicher allerhand kuriose Kapellengeschichten. Was war denn für Sie die kurioseste Geschichte, die im Zusammenhang mit bäuerlichen Kapellen ans Tageslicht kam?

Ja, es gibt tatsächlich einige sehr kuriose Erzählungen, vor allem rund um die Baugeschichte. Manche davon gehören eindeutig ins Reich der Legenden. So eine Sage gibt’s zur Lechtlkapelle beim gleichnamigen Hof oberhalb von Tartsch im Vinschgau. Da geht es um eine junge Bäuerin, die die vorgeschriebene Wochenbett-Ruhe nicht eingehalten hat, weil sie ihrem Mann Essen aufs Feld bringen wollte. Sie wurde von einem wilden Stier abgefangen, der zu sprechen anfing: Nur weil sie gerade zufällig auf einem Karwendel- oder Thymianstock stehe – eine Symbolpflanze der Muttergottes–, würde er sie jetzt nicht angreifen. An besagter Stelle wurde dann eine Kapelle gebaut und Maria Empfängnis geweiht. Die Besitzer erzählen diese Sage sehr gerne und haben auch eine große Freude mit der Kapelle. Von Gernot Niederfriniger, dem Obmann des Südtiroler Volksmusikkreises, wurde 2015 sogar ein eigener Lechtl Marsch komponiert. Sprechende Tiere kommen sonst zwar nicht oft vor, aber es gibt doch einige weitere Sagen, wo durch geheimnisvolle Zeichen – Marienbilder oder rätselhaft auftauchende Kreuze – der Bau einer Kapelle angeregt wurde.
 


Worin unterscheiden sich die Kapellen im ladinischen Sprachraum von jenen im deutschen Sprachraum?

Vom äußeren Erscheinungsbild her gibt es keine auffälligen Unterschiede: Die architektonische Form und die Ausschmückung der Kapellen hängen ja häufig vom Entstehungszeitraum ab und vom jeweils vorherrschenden Baustil; auch die finanziellen Mittel der Erbauer und ihr persönlicher Geschmack spielten eine wesentliche Rolle. Im Gadertal gibt es relativ viele Kapellen, die von mehreren Höfen oder einem ganzen Weiler gemeinsam erbaut wurden – aber das trifft auch auf andere Landesteile zu. Der vielleicht markanteste Unterschied ist, dass in fast allen ladinischen Kapellen ein Bild oder eine Statue vom heiligen Josef Freinademetz zu finden sind. Manche neu errichteten Kapellen sind ihm auch direkt geweiht. 

In welchem Landesteil wurde beim Bau von Hofkapellen die architektonische Formgebung im Besonderen wertgeschätzt? Ist da auch – wie bei weltlichen Bauten – der Vinschgau Vorreiter?

Die bäuerlichen Kapellen sind enorm variantenreich und vielfältig und das trifft eindeutig auf alle Landesteile zu. Das hat – wie schon erwähnt – immer auch mit Geschmack und finanziellen Möglichkeiten der Erbauer zu tun. Manche Kapellen wurden wie „aus einem Guss“ gebaut und wirken sehr harmonisch, weil der Bau und die Innengestaltung in einem einheitlichen Stil gehalten sind – gerne barock, aber im 19. Jh. auch oft neu-romanisch oder neu-gotisch. Andere Kapellen sind einfach im Laufe von Jahrhunderten aus- und umgebaut worden und haben vielleicht einen eigenen Charme, weil sich in ihnen vieles mischt. Das Interessante an diesen bäuerlichen Kapellen ist ja vor allem auch, dass wir darin Zeugnisse der Volkskultur finden – z.B. eigenhändig geschnitzte Heiligenstatuen, Klosterarbeiten wie Reliquientafeln und Andachtsbilder, Mitbringsel von Wallfahrten, so genannte Bauernmalerei von Laienkünstlern, Votivtafeln, Rosenkränze, Kunstdrucke, selbst genähte Altartücher – die wir sonst oft nur noch in Volkskundemuseen finden können.
 


Welche Rolle spielen diese kleinen Kapellen heute? Sind sie lästige Denkmale, die es aufwendig zu pflegen und zu erhalten gilt, begehrte Ausflugsziele für nostalgische Tourist*innen, stumme Zeitzeugen…

Alle Kapellen, die wir im Buch aufgenommen haben, sind im Besitz eines Hofes, einer Höfegemeinschaft oder gehören bäuerlichen Interessentschaften. Sind sie denkmalgeschützt, dann besteht natürlich auch die Verpflichtung, sie instand zu halten. Da kann es manchmal zu Interessenskonflikten kommen. Oft gibt es dann aber auch die Unterstützung örtlicher Vereine beim Erhalt der Kapelle. Grundsätzlich sind die meisten Kapellenbesitzer*innen stolz auf dieses kulturelle Erbe: Für einige ist es tatsächlich immer noch vor allem ein privater Rückzugsort fürs Gebet, vielleicht für Familienfeiern wie Hochzeiten oder Taufen genutzt. Andere öffnen ihre Kapellen jährlich beim Patroziniumsfest, bei Bittgängen oder anderen besonderen Festen im Jahreskreislauf – dann spielt die Kapelle eine wichtige gesellschaftliche Rolle für die bäuerliche Gemeinschaft, den Weiler, das Dorf. In nicht wenigen Kapellen sind oft alle Sterbebilder der Toten einer Gemeinde gesammelt als eine Art kollektiver Gedächtnisort. Was am wenigsten zutrifft ist die Sache mit den „Ausflugszielen für nostalgische Touristinnen und Touristen“. Das mag zwar einzelne Kapellen betreffen, die als Kulisse für Fotomotive herhalten. Man darf aber nicht vergessen, dass die meisten Kapellen normalerweise verschlossen sind und nicht öffentlich zugänglich. Wir möchten mit diesem Buch auch keineswegs den schnellen „touristischen Konsum“ der Kapelle fördern. Kapellen sind keine Museen, sondern immer noch Orte der Einkehr.  
 

So eine Gesamtübersicht hat es bislang noch nicht gegeben.


Wo liegt denn die höchste Kapelle des Landes. Und welche Geschichte gibt es dazu?

Welches die höchste Kapelle ist, kann ich so gar nicht genau beantworten. Aber sicherlich handelt es sich dabei um eine Berg- oder Almkapelle, die wir auch im Buch aufgenommen haben, sofern sie in bäuerlichem Besitz sind. Da gibt es zwei sehr hoch gelegene in Langtaufers: die Kapelle bei der Weißkugelhütte und jene bei der Ochsenbergalm auf 2.150 m, die dem Schutzpatron der Almhirten, dem heiligen Wendelin geweiht ist. Besonders interessant ist der historische Hintergrund zur Kapelle auf der Bärentalalm im Ahrntal. Sie liegt auf 1.870 m und gehört zum Oberachrainerhof in St. Jakob. Auf dieser Alm hatten sich im Zweiten Weltkrieg zwei Brüder versteckt, um nicht an die Front eingezogen zu werden. Daraufhin wurde die gesamte Familie in Sippenhaft genommen, nur eine minderjährige Schwester blieb übrig und brachte den jungen Männern heimlich Lebensmittel ins Versteck. Sie gelobten, eine Kapelle zu bauen, sofern die Familie den Krieg heil überstehen würde. 1948 lösten sie das Versprechen ein und bauten die Kapelle Maria zum Guten Rat.

Die Kapelle auf Seite 24 hat einen besonderen Charme. Was gibt es über sie zu erzählen?

Das so genannte Schwoaga Kirchl befindet sich beim Schwaigerhof oberhalb von Steinhaus im Ahrntal, sehr entlegen auf rund 1.580 m. Es wurde um 1803 errichtet, ganz aus Holz innen und außen. Weil es so eingebettet ist zwischen Bauernhaus, Stadel und Mühle wirkt es ein bisschen wie ein „Spielzeugkirchlein“; man muss sich auch bücken, um durch die Tür hindurchzukommen. Die Kapelle ist Maria geweiht und am Altar ist auch ein hölzernes Tafelbild mit einer sehr einfachen Nachahmung vom Maria-Hilf-Motiv.
 


Welche Heiligen werden in Südtirol am häufigsten verehrt. Und auf was ist das zurückzuführen?

Mehr als die Hälfte aller Kapellen sind Maria geweiht; sie galt schon immer als besonders mütterliche Fürsprecherin in allen Lebenslagen. Ihre Verehrung und zahlreiche Marienwallfahrten erhielten seit der Zeit der katholischen Gegenreformation noch einmal einen besonderen Aufschwung. Man findet sie in unterschiedlichster Gestalt in den Kapellen: als Lourdes-Muttergottes, als Schmerzhafte Mutter mit dem toten Christus, als Himmelskönigin oder in der typischen Maria-Hilf-Darstellung nach Lukas Cranach mit dem kleinen Jesuskind im Arm. Bei den männlichen Heiligen gehören Josef und Antonius von Padua zu den beliebtesten Fürsprechern. Sehr oft kommen aber auch Heilige vor, die eine wichtige Schutzfunktion für den bäuerlichen Alltag hatten: Wasserpatrone wie der heilige Nepomuk, Viehpatrone wie der heilige Silvester, die Vierzehn Nothelfer oder der heilige Martin. Allgegenwärtig sind zwei Bauernheilige: der heilige Isidor und die heilige Notburga, die aus Rattenberg in Nordtirol stammte. Sie ist besonders leicht zu erkennen an der bäuerlichen Tracht und an der Sichel in der Hand, die mit ihrer Legende zu tun hat.
 


Wie sieht denn eine typische Hofkapelle aus? Wie eine untypische?

Typisch oder untypisch – die ganze Bandbreite der sehr unterschiedlichen Kapellen ist nicht leicht zu beschreiben. Sie können schmal sein wie Beichtstühle oder imposant wie kleinere Kirchen; so aussehen, wie man das von einem traditionellen, religiösen Bauwerk erwarten würde oder eine sehr moderne Form haben.
Der Südtiroler Bäuerinnenorganisation, die das ganze Buch-Projekt initiiert hat, war es ein Anliegen, möglichst alle bäuerlichen Kapellen im Land zu erfassen und zu dokumentieren. So eine Gesamtübersicht hat es bislang noch nicht gegeben. Vielleicht lässt sich das Interessante an diesen vielen Kapellen so zusammenfassen: Einerseits spiegelt sich in ihnen viel von der Veränderung im religiösen Verständnis und Brauchtum, in Architektur und Kunst, aber auch in der bäuerlichen Lebenswelt im Lauf der Jahrhunderte. Andererseits haben sie fast immer eine ganz individuelle, persönliche Note. 

Und am Ende noch eine Frage zur Landschaft. Von welcher Kapelle aus genießt man den atemberaubendsten Ausblick?

Für mich – mit familiären Wurzeln im Vinschgau – ist die Antwort eindeutig: vom großartigen Panoramafenster in der Kapelle am Gialhof aus; da scheint der Ortler zum Greifen nah.