Cultura | Salto Afternoon

Banalität des Lebens

Jörg Zemmler hat für "Seiltänzer und Zaungäste" 114 personalisierte Kurzgeschichten erdacht, Katrin Klotz hat eine Rezension dazu geschrieben. Ein Gastbeitrag mit Hinweis
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Foto: Klever Verlag

Jörg Zemmler ließ 2015 mit dem sehr schön gestalteten Lyrikband papierflieger luft, erschienen im Klever Verlag, aufhorchen. Die Form des Bandes entsprach dem Inhalt und so war es nicht nur ein inhaltliches Vergnügen diese Gedichte zu lesen. In sehr reduzierter Form heißt es da z.B. „es lacht / die sonne / es kam / eine wolke“ oder an anderer Stelle „nur ein schritt schneller / als die welt / so wählst du dir / die flucht“. Die erste Auflage ist davon bereits vergriffen, eine neue Taschenbuchausgabe gerade druckfrisch erschienen. Der neue Band beinhaltet keine Lyrik, sondern Prosa, Kurzprosa. Zemmlers neues Werk Seiltänzer und Zaungäste, wieder erschienen im Klever Verlag,  vereint 114 Geschichten. Begegnungen, die das Leben nicht besser schreiben könnte mit 114 unterschiedlichen Hauptfiguren, die den Geschichten jeweils die Titel geben. 

 

Die Kurzprosatexte sind leise, unaufdringlich, sie erzählen von gewöhnlichen Menschen wie du und ich, die einmal mehr und einmal weniger außergewöhnliche Begegnungen haben, sie erzählen von gewöhnlichen, manchmal auch lustigen, Alltagssituationen. Kurzprosatexte haben in der deutschen Literatur eine Tradition, mich erinnern sie stark an die Geschichten von Herrn K., die man immer und immer wieder lesen kann und man immer wieder etwas Neues entdeckt. Waren es bei Brecht Parabeln, die uns von der Welt erzählen, erzählt Zemmler von der Banalität des Lebens, er erzählt vom Menschlichen.


Der Titel Seiltänzer und Zaungäste verrät bereits einiges über die Figuren des Buches. Zum einen handelt es sich um Akteure, zum anderen um Zuseher. Auch die Leser*innen werden zu Zusehern, beobachten die verschiedenen Mikrokosmen und möchten doch sehr viel mehr wissen über die Figuren und Situationen, ein bis zwei Seiten sind viel zu kurz, um ausreichend über eine Figur informiert zu werden. Diese Leerstellen machen die Geschichten aber spannend und lassen uns über die eine oder andere Figur noch länger nachdenken. Die Figuren heißen Sabine, David, Anuschka, Mut… die Liste ließe sich um 110 Namen erweitern. Männer- und Frauenfiguren wechseln sich dabei ab. Sie hadern mit ihrem Namen, vergessen Namen von ihnen bereits vorgestellten Figuren, scheitern an ihren Vorsätzen und bieten so ein großes Identifikationspotenzial für die Leser*innen. In einer Rezension von Petra Ganglbauer hieß es sehr schön, „sie (gemeint sind die Figuren) wandern am menschlichen Grat zwischen dem Wollen und der Umsetzung, dem Wünschen und der Wunscherfüllung, der Klarheit und der Gespaltenheit.“ Diese Gratwanderung und die immer wiederkehrenden Wendungen machen den Reiz dieser Texte aus. Die Banalität des Lebens ist gar nicht so banal, und Zemmler versteht es hervorragend, mit der Erwartungshaltung von uns Leser*innen zu spielen. Und deshalb kann man, ähnlich wie bei Brecht, auch diese Texte immer wieder lesen, immer wieder neu entdecken. 

Mit freundlicher Genehmigung von: Kulturelemente