Cultura | Salto Afternoon

Die Qualität auch Zuhören zu können

Die Kuratorin für zeitgenössische Kunst Judith Waldmann hat die aktuelle Ausstellung bei Kunst Meran gestaltet. Es geht um Kraft, die aus Schmerz entsteht.
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Foto: Ivo Corrà

salto.bz: Mit einer Arbeit der Künstlerin Monica Bonvicini propagiert die von Ihnen kuratierte Ausstellung "Turning Pain Into Power" auch dazu, "den Mund aufzumachen“ und "Ungerechtigkeiten nicht stillschweigend hinzunehmen". In Zeiten von Facebook oder anderen sozialen Medienangeboten – wo mitunter die aggressive Haltung bildungsferner Menschen dominiert – würde man sich auch wünschen, einige Menschen "würden den Mund halten." Wie kann dennoch ein guter, niveauvoller Meinungsaustausch gelingen?

Judith Waldmann: „I won’t shut up“ ist der Titel der Arbeit auf die Sie anspielen. Das heißt soviel wie: „Ich werde den Mund nicht halten“. Im Kontext der Ausstellung, die sich mit verschiedenen Formen von Diskriminierung auseinandersetzt, ist das als Aufforderung zu verstehen sich gegen genau diese aktiv zu Wehr zu setzen. Ob dies im „realen“ oder im digitalen Raum stattfindet ist zweitrangig. Es geht darum sich zu vergegenwärtigen, dass man eine Stimme hat – dass man in Europa das Recht auf freie Meinungsäußerung besitzt, von welchem man Gebrauch machen darf, wenn Mitmenschen – oder man selbst – ungerecht behandelt werden. In der Arbeit schwingt die Aufforderung mit, bei Rassismus, Homophobie, genderspezifischer Gewalt, Vorurteilen, Hass und diskriminierenden Handlungen jeder Art entschieden entgegenzutreten. Hier geht es um Zivilcourage – nicht darum sich am Shitstorm auf Facebook zu beteiligen und selbst zum Aggressor zu werden der andere diskriminiert oder runtermacht. Ein guter und niveauvoller Meinungsaustausch muss meiner Meinung nach in jedem Falle eines beinhalten: Die Qualität auch Zuhören zu können. 
 


Manche Arbeiten in der Ausstellung kommen im ersten Moment plakativ daher. Muss eine Kunstschau mit Sensibilisierungsanforderungen dem "Wachrütteleffekt" folgen? Was ist die subtilste Arbeit in der Ausstellung?

Es gibt Arbeiten in der Ausstellung die ganz unmittelbar ansprechen und direkt auf den Punkt kommen, wie beispielsweise Regina José Galindos Performance, die Sie 1999 in Guatemala-Stadt aufführte. An ein vertikales Bett gefesselt, wirft ein Diaprojektor Bilder auf den nackten Körper der Künstlerin. Diese Bilder geben Zeitungsartikel wieder, die von den unzähligen Missbrauchsfällen an Frauen in Guatemala berichten. Auf diese Weise nutzt die Künstlerin ihren Körper im wahrsten Sinne des Wortes als Projektionsfläche, um die an Frauen verübten Verbrechen ins Bewusstsein zu rufen und zur Auseinandersetzung mit ihnen aufzufordern. Das Wort "wachrütteln" ist hier ein ganz passendes.
 

In dem wir uns mit der Geschichte von queeren Menschen aus der Vergangenheit auseinandersetzen, sorgen wir uns auch um die Menschen in der Zukunft.
(Philipp Gufler)


Andere Arbeiten schlagen eher leisere Töne an, wie beispielsweise die Arbeit „L’Arbre D’Oublier“ (Baum des Vergessens) des brasilianischen Künstlers Paulo Nazareth. Hier führt der Künstler ein Gegenritual an einem für den Sklavenhandel geschichtsträchtigen Ort durch. In der Stadt Ouidah in Benin (Westafrika) mussten Menschen, bevor sie auf die Schiffe regelrecht verfrachtet wurden um als Sklav*innen nach Nord- und Südamerika transportiert zu werden, ein grausames Ritual vollziehen. Sie wurden dazu angehalten den Baum zu umrunden und dabei die eigene Geschichte, die eigene familiären Bande zu vergessen. Ziel dieses Unterfangen war es diesen Menschen ihre Identität zu rauben, um sie als „unbeschriebenes Blatt“, das nicht aufbegehrt, an die Sklavenhalter zu übergeben. Nazareth setzt in seiner Performance zu einer symbolischen Geste an. Er versucht den Baum so oft er nur kann rückwärts zu umrunden um auf diese Weise soviel verlorene Identität wie möglich wieder zurück zu holen. Ein sehr berührender Akt, der für die Ausstellung, die vom Wandel von Schmerzvollem in Kraftvolles erzählt, zentral ist. 
 


In einem Raum lädt ein Video zum Mittanzen ein, daneben ist man dazu eingeladen Botschaften zu hinterlassen. Beide Arbeiten animieren sofern die Besucher*innen sich darauf einlassen möchten zum Mitmachen ein und erinnern dezent an Ihre vorhergehende für Kunst Meran gestaltete Ausstellung "TOGETHER. Interact – Interplay – Interfere". Ist hier ein kuratorisches Wesensmerkmal von Judith Waldmann zu erkennen?

Ihre Beobachtung ist vollkommen richtig. Das Team von Kunst Meran hat es sich auf die Fahne geschrieben die Besucher*innen vermehrt einzubinden und als Alltagsexpert*innen zu Wort kommen zu lassen. Die Besucher*innen können in den Ausstellungen ihre Spur hinterlassen und machen diese somit zu einem vielstimmigen Konzert, welches nicht nur die Künstler*innen, Kurator*innen oder die Institution zu Wort kommen lässt. Wir sind überzeugt, dass es ein richtiger und wichtiger Schritt ist, den Besucher*innen mehr Raum und Sichtbarkeit einzuräumen, um Ihr Feedback zu hören und von ihm lernen zu können. 
 

 

Sie haben für die Gruppenschau zahlreiche Arbeiten zusammengetragen, die "wachrufen und sensibilisieren". So auch eine Auseinandersetzung mit der Figur Daniel Küblböck...
 
Philipp Gufler hat in seiner Videoarbeit ein sehr persönliches, berührendes und ebenfalls wachrüttelndes Porträt der Sängerin und Entertainerin Lana Kaiser geschaffen, die 1985 als Daniel Küblböck geboren wurde. Während den Recherchen zur Ausstellung hat mich Martina Oberprantacher auf die Arbeiten von Gufler aufmerksam gemacht. Ich war auf Anhieb begeistert und tief beeindruckt davon wie er es schafft Geschichte aufzuarbeiten und auf sehr eindrückliche Art und Weise künstlerisch zu vermitteln. Die gleichnamige Videoarbeit „Lana Kaiser“ hat mir eine ganz neue Perspektive auf den Star Lana Kaiser gegeben. Ihr Mut, in der damals recht heteronormativ geprägten Medienlandschaft, zu ihrer Queerness zu stehen und damit einhergehende Probleme und Anfeindungen auch offen anzusprechen ist beachtlich und hat großen Respekt verdient. „Ich fühle mich nicht männlich – ich fühle mich nicht weiblich – ich fühle mich gut“ ist eines der starken Zitate Lana Kaisers die Gufler integriert hat und die man nicht mehr so schnell vergisst. Kaisers Rolle als Identifikationsfigur für queere Menschen der Zweitausender ist nicht zu unterschätzen. Auch in anderen Arbeiten setzt sich Gufler mit queerer Geschichte auseinander. Eine der Motivationen dazu hat der Künstler selbst pointiert in Worte gefasst: „In dem wir uns mit der Geschichte von queeren Menschen aus der Vergangenheit auseinandersetzen, sorgen wir uns auch um die Menschen in der Zukunft. Damit ist für mich eine generationsübergreifende Solidarität für eine queere Zukunft gemeint.“