Società | Zeitgeschichte

Die Toten vom Zerzertal

Vor 50 Jahren kommt es im Zerzertal zu einem Lawinenunglück bei dem 7 Alpini sterben. Was kaum bekannt ist: Verurteilt werde jene, die die Hintergründe aufgedeckt haben.
Villalta
Foto: Privat
Heute kann man es sich kaum mehr vorstellen, welches Klima damals geherrscht hat“, sagt Carlo Bertorelle. Der Bozner Oberschullehrer, heute in Pension, lässt die Gedanken 50 Jahre zurück schweifen. Es geht um ein tragisches Unglück, bei dem sieben junge Soldaten im Vinschgau ihr Leben verlieren, um die Tatsache, dass das Militär auch mit Hilfe der Bozner Gerichtsbarkeit alles tat, um von der eigenen Verantwortung abzulenken und ein Nachspiel, das bis heute in der offiziellen Darstellung nicht vorkommt. „Für uns ging er damals um sehr viel“, erinnert sich Bertorelle, „denn man wollte uns mit allen Mittel verurteilen und ins Gefängnis stecken“.
 
 
Der Grund: Bertorelle und seine Genossen, damals in der linken Splittergruppe „Lotta continua“ (LC) engagiert, deckten etwas auf, was der Staat und vor allem das Militär vertuschen wollte.
Doch blenden wir die Zeit zurück.
 

Das tragische Unglück

 
Es ist vier Uhr früh am 12. Februar 1972 als die 49. Kompanie des 5. Alpiniregiments von der Oberdörfer Alm bei St. Valentin auf der Heide zu einer Schießübung aufbricht. Obwohl es in dieser Nacht einen heftigen Schneesturm gibt, treiben die Offiziere die rund 200 Mann starke Kompanie durch den hüfthohen Schnee. Doch die Alpini kommen nur rund 300 Meter. Dann löst sich ein Schneebrett, die Lawine erfasst die Nachhut und reißt 18 Soldaten bis in den Zerzerbach hinunter mit. Absolut schlecht ausgerüstet, können die restlichen Soldaten kaum etwas tun. Einige Soldaten können sich selbst noch aus den Schneemassen befreien. Anderen kommen die Männer der freiwilligen Feuerwehr von St. Valentin um Hubert Stecher zu Hilfe. Doch für 7 Alpinisoldaten kommt die Hilfe zu spät. Sechs ersticken unter den Schneemassen, einer kann zwar noch lebend geborgen werden, verstirbt aber unmittelbar danach am Unglückort.
 
 
Die Opfer sind junge Alpini aus Verona, Belluno, Sondrio, Mailand, Bergamo und Trient. Ihre Namen: Domenico Marcolongo (21), Romeo Bellini (21), Duilio Saviane (27), Davide Tognella (21), Gianfranco Boschini (21), Valdo del Monte (21) und Luigi Corbetta (21).
 

Die Verantwortung

 
Unmittelbar nach dem Vorfall erheben die Angehörigen schwere Vorwürfe gegen die Vorgesetzten. Man habe die Alpini zum Marsch gezwungen, obwohl die Wetterverhältnisse katastrophal und die Lawinengefahr selbst für einen Laien ersichtlich waren. Doch das Oberkommando tut alles, um die eigenen Leute zu entlasten und den Vorfall als tragische Unglück abzutun.
Da sich die Angehörigen aber nicht so einfach abspeisen lassen, kommt es zu einem Strafverfahren. Während der Roveretaner Anwalt Sandro Canestrini dabei als Anwalt der Angehörigen auftritt, werden die Militärs unter anderem vom damaligen Südtiroler MSI-Chef Andrea Mitolo vor Gericht vertreten.
 
 
Es ist auch politisch ein Zusammenprall verschiedener Welten. Wobei die Bozner Gerichtsbarkeit – allen voran der damalige Staatsanwalt Mario Martin – ganz klar auf Seiten der Militärs steht. Am Ende kommt es zur Anklage nur gegen den Leutnant Gianluigi Palestro, dem schwerwiegende Unterlassungen und Fehler vorgeworfen werden. Es sind die Zeugen, wie der Bergführer Ulli Kostner, der Feuerwehrkommandant Hubert Stecher oder der St. Valentiner Koperator Ludwig Patscheider, die vor Gericht aussagen, dass man an diesem Morgen auf keinen Fall aufbrechen hätte dürfen. Prozessentscheidend ist auch ein Gutachten des Ingenieurs Floriano Calvini, der die These der Verteidigung im Verfahren demontiert. Weil seine Verantwortung augenscheinlich ist, wird Palestro schließlich wegen schuldhafter Tötung in sieben Fällen zu lachhaften 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Das Urteil wird sowohl vom Berufungsgericht als auch vom Kassationsgericht bestätigt. Gianluigi Palestro wird im laufenden Verfahren vom Verteidigungsministerium zum Hauptmann befördert. Während die Hinterbliebenen in einem Zivilverfahren Schadenersatz fordern und sich diese Verfahren über zehn Jahre lang hinzieht.
 

„Di naía si more“

 
Das Unglück passiert mitten in der heißen Phase der außerparlamentarischen Opposition. Carlo Bertorelle, damals 24 Jahre alt, ist als Student an der Uni in Florenz in der außerparlamentarischen Linken und der Gruppe „Lotta continua“ engagiert. Innerhalb der Streitkräfte bildet sich in jenen Jahren die Gruppe „Proletari in Divisa“, die kritisch die militärischen Hierarchien und die Rolle des Heeres hinterfragt. In ganz Italien kommt es so nicht nur zur Politisierung der Soldaten, sondern auch zu Protesten und Widerstandakten in den Kasernen. So etwa geben LC und die Proletari in Divisa ein Weißbuch mit dem Titel „Di naia si more“ heraus, in dem man auch auf die Hintergründe des Unglücks im Zerzertal eingeht.
Wir haben eine dieser damals typischen controinchieste gemacht“; erinnert sich Carlo Bertorelle. Er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben Zeugen des Unglücks befragt, Überlebende und Helfer. Am Ende kommt dabei eine ganze andere Wahrheit heraus, als das, was man offiziell verkaufen will.
 
 
 
Wie sehr diese Wühlarbeit den damaligen Mächtigen gegen den Strich geht, wird schon bald klar. Die Staatsanwaltschaft Bozen geht unter der Federführung von Mario Martin gegen Carlo Bertorelle & Co drastisch vor. Martin erhebt gegen 8 Personen Anklage wegen „Vilipendio delle Forze Armate“. Bertorelle wird beschuldigt der Autor und Verfasser des Weißbuches zu sein. Gianpiero Mughini ist der Direktor der Zeitung von „Lotta Continua“, der das Weißbuch beigelegt war. Zudem stehen im Juni 1973 auch Walter Kögler, Rosmarie und Edeltraut Ladurner, Klaus Griesser, Domenico Sacco und Friedrich Hofer vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen die Flugblätter und die Schrift „Di naia si more“ verteilt zu haben.
Diese Angeklagten werden freigesprochen, während Mughini und Bertorelle zu einem Jahr und 4 Monaten Haft verurteilt werden. Ihre Anwälte Sandro Canestrini, Renato Balladrini und Gianni Lanzinger legen vor dem Verfassungsgericht zwar Beschwerde gehen dieses Meinungsdelikt ein, doch wird das Urteil später im Berufungsverfahren bestätigt. „Mein Glück war, dass die Strafe letztlich in der Kassation verjährt ist“, sagt Carlo Bertorelle.
 
 
Wie sehr die Waage der Justitia hier nach rechts ausgeschlagen hat, wird an dieser Geschichte mehr als deutlich. Leutnant Gianluigi Palestro, der für den Tod von sieben jungen Soldaten verantwortlich gemacht wurde, bekam acht Monate Haft. Jene, die diese Geschichte aufgedeckt haben, wurden zur doppelten Strafe verurteilt.
Leutnant Gianluigi Palestro, der für den Tod von sieben jungen Soldaten verantwortlich gemacht wurde, bekam acht Monate Haft. Jene, die diese Geschichte aufgedeckt haben, wurden zur doppelten Strafe verurteilt.
 

Südtirols LC

 
Dieses Missverhältnis gründet darin, dass die Mitglieder von „Lotta Continua“ damals als gefährliche Staatsfeinde gesehen wurden. Der Staat bekämpfte die außerparlamentarische Linke mit allen Mitteln. Dabei setzte er auch immer wieder Spitzel gegen LC ein. Einer davon ist Luciano Menagatti. Der damals 35-jährige ehemalige ENEL-Angestellte und CGIL-Funktionär aus Ferrara schließt sich Anfang der 1970er Jahre der von Rossana Rossanda gegründeten Gruppe „Il manifesto“ an. Zudem geht er auch bei LC ein und aus. Was niemand weiß: Luciano Menegatti arbeitet jahrzehntelang für das „Ufficio Affari Riservati“ im römischen Innenministerium. Unter dem Decknamen „Dario“ liefert er für Geld Informationen aus der außerparlamentarischen Linken. Dabei liefert er auch Berichte aus und über Südtirol. So berichtet er 1975 von einem Waffenschmuggel aus München nach Triest. Dabei wären in Auer ein Teil der Waffen an Neofaschisten aus Bozen und Padua übergeben worden.
Spitzel Dario berichtet aber auch über Carlo Bertorelle. Es geht dabei um die Unstimmigkeiten in der Fiorentiner LC-Gruppe, über einen Genossen, der zu Gewalt gegen die Rechte auffordert. „Einer der Leader (Bertorelle Carlo) hat deshalb seinen Ausschluss aus dem Führungsgremium gefodert, aber es kam zu keiner Abstimmung über diesen Vorschlag“, schreibt Luciano Menegatti, alias Dario.
 
 
 
Überhaupt überwachen sowohl das Innenministerium wie der italienischen Nachrichtendienst SID auch Südtirols Lotta Continua kontinuierlich. So existiert ein Akt der Bozner Quästur vom 24. Mai 1976. Auf 5 Seiten werden darin auch alle Südtiroler Mitglieder von LC penibel aufgelistet. Laut Quästur gibt es in Südtirol zwei Gruppen, eine in Bozen mit rund 250 Mitgliedern und eine in Meran mit 150 Mitglieder. Der Sitz in Bozen befinde sich in der Via Taramelli 13, zudem hänge davon auch der Kulturzirkel „Ottobre“ in der Reschenstraße 98 ab. In Meran befinde sich der LC-Sitz unter den Lauben, Nr. 105.
Dann werden über zwei Dutzend Namen aufgeführt. Die Liste geht von Alexander Langer, Silvano Bassetti, Bruna Dal Ponte, Andrea Emeri über Rosa Infelise, Gianni Lanzinger bis zu Erwin Prossliner und Edi Rabini. Zur Meraner Gruppe gehören Walter Kögler, Solveg Pichler, Stefano Fidenti oder Enzo Nicolodi.
In dem Akt findet sich auch der Name von Carlo Bertorelle. Zudem heißt es in der Rubrik über die gefährlichen Aktivitäten: „opera di proselitismo all´ interno delle caserme del capoluogo e provincia attraverso i cosidetti proletari in divisa“.
Damit wird auch verständlich, warum man Carlo Bertorelle unbedingt verurteilen musste.

 

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Heinrich Zanon Ven, 02/11/2022 - 09:52

Erst heutzutage ist man mit den Lawinenwarnungen so pingelig, übrigens mit durchwachsenen Ergebnissen, wie sich gerade erst dieser Tage erschreckend massiv gezeigt hat.
In jener grauen Vorzeit, über welche im Bericht von Christoph Franceschini verdienstvoll die Rede ist, hatte der Wahnsinn Methode. So hatten bereits unter ähnlichen Vorzeichen am 7.3.1970 in Prags am Fuß der Auffahrt zur Plätzwiese 7 Alpini bei einer Übung durch einen Lawinenabgang den Tod gefunden.

Ven, 02/11/2022 - 09:52 Collegamento permanente
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△rtim post Ven, 02/11/2022 - 10:17

Danke für diesen Beitrag und Anstoss für einen reflektierten Geschichtsumgang.
Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sogenannte Rechtswirklichkeit sind ja (mitunter) entscheidender als die Rechtsnorm.
Das Instrumentarium "vilipendio" in all seinen Formen gibt es ja bis heute und wird nach wie vor auch genutzt.
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NB: "Ihre Anwälte Sandro Canestrini, Renato Balladrini und Gianni Lanzinger legen vor dem Verfassungsgericht zwar Beschwerde gehen dieses Meinungsdelikt ein, doch wird das Urteil später im Berufungsverfahren bestätigt."
Hier hat sich wohl ein kleiner Fehler eingeschlichen. Anders als z.B in der BRD können in Italien Bürger-innen, Anwälte keine "Beschwerde beim Verfassungsgericht" einreichen. Gemeint ist hier daher wohl das Oberste Berufungsgericht, der Kassationsgerichtshof.

Ven, 02/11/2022 - 10:17 Collegamento permanente
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Christoph Fran… Ven, 02/11/2022 - 12:01

In risposta a di △rtim post

Nein hier hat sich kein Fehler eingeschlichen. Nur eine kleine Unschärfe. Die Anwälte haben im Verfahren die Verfassungsmäßigkeit des entsprechen Vilipendio-Artikels aufgeworfen. Das sei ein Meinungsdelikt, das in einem modernen Rechtsstaat nicht unter Strafe gestellt werden kann. Das Gericht hat die Frage an das Verfassungsgericht weitergeleitet. Dieses hat anders entschieden.

Ven, 02/11/2022 - 12:01 Collegamento permanente
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Sebastian Felderer Ven, 02/11/2022 - 10:39

Oh ja, 50 Jahre.... und ich sage: Immer noch das selbe Schauspiel. Die Justiz fraglich, vor dem Gesetz bei weitem nicht alle gleich, 8 Monate für 7 Tote, auch heute noch Ähnliches und Widerstand oder Kritik immer noch am Pranger, mehr als die Täter und Verantwortlichen.
Beim Rückblick auf das Unglück, das ich noch sehr gut in Erinnerung habe, weil ich ja in St.Valentin geboren und aufgewachsen bin, fehlt ein wichtiger Name. Leutnant Palestro wird den Befehl für das Manöver gegeben haben, aber der "sottotenente" war ein Vinschger, der über die örtlichen Verhältnisse und Gefahren sehr genau Bescheid wusste. Er hätte genau so unter den Leichen sein können, wäre ihm das Schicksal nicht gut gestimmt gewesen. An ihm hätte es gelegen, die Ausführung des Befehles zu verweigern oder wenigstens bessere Bedingungen abzuwarten. Dies alles ist nicht geschehen und heute wird sein Name vergessen. Ich kenne den Grund und es ist sicher bequemer, die Geschichte über die Rechte und Linke abzuwickeln, als über die effektiv Verantwortlichen. Das Schicksal kennt nicht rechts oder links, es marschiert immer gerade aus und schlägt zu ohne Rücksicht auf Verluste.
Rechts und links gibt es beim Zerzertal und man spricht von orographisch in diesem Fall. Es war genau der linke Hang, eben "lotta continua" entsprechend. Als ich als Leiter der Umweltschutzgruppe im Jahre 1999 die Erweiterung des Skigebietes Watles zu verhindern versuchte, ging es unter anderem genau um diesen Lawinenhang und ich habe mich in der Dokumentation auf genanntes Unglück bezogen. Für die Absicherung dieses Hanges waren Erdverschiebungen von 7.000 Kubikmeter vorgesehen, um die Piste für die Abfahrt durch das Zerzertal vor eventuellen Lawinenabgängen zu schützen. Es kam nicht dazu. Unsere Dokumentation und die Argumente gegen die Erweiterung waren zu gut und das Projekt wurde abgelehnt. Gott sei Dank, das Zerzertal ist ein unberührtes Tal geblieben und das "Marterl" für die sieben Soldaten "genießt" die verdiente Stille und Ruhe in der Einsamkeit der Bergwelt.

Ven, 02/11/2022 - 10:39 Collegamento permanente