"Eine unglaubliche Bereicherung"
Der aktuelle globale Wandel stellt uns alle vor neue Herausforderungen. Auch die Wissenschaft kommt nicht umhin, alte Paradigmen zu überdenken und neue Wege zu finden, um immer komplexer werdnde Phänomene, Prozesse und Entwicklungen zu verstehen und zu erklären. Der Blick aus nur aus einer einzigen wissenschaftlichen Perspektive reicht häufig nicht (mehr) aus, um Phänomene wie Migration, Klimawandel oder globale Ungleichheiten zu erklären. Und genau an diesem Punkt setzt die transformative beziehungsweise transdisziplinäre Forschung an. Neben der Integration von Wissen und Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen, geht die transformative Forschung noch einen Schritt weiter. Sie bezieht die von der Forschung betroffenen Akteure mit ein und schafft damit ein neues Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft. Unter diesem Titel – "Wissenschaft für die Gesellschaft - Transformative Wissenschaft, partizipative Forschung und soziale Innovation" fand am 4. und 5. September eine Expertentagung an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen statt. Mit dabei war auch Prof. Susanne Elsen. Erste Erfahrungen in der transformativen Forschung und Entwicklung hat die Sozialwissenschaftlerin und Dozentin an der Uni Bozen vor rund dreißig Jahren gemacht. Heute freut sie sich sehr über das neue Interesse an diesem Ansatz, der – Zitat – "lange diskreditiert oder marginalisiert wurde".
Frau Prof. Elsen, warum braucht es überhaupt Transdisziplinarität in Wissenschaft und Forschung?
Prof. Susanne Elsen: Komplexe Problemstellungen lassen sich nicht aus einer einzigen Perspektive angehen. Nehmen wir zum Beispiel das Handlungs- und Forschungsfeld nachhaltiger Stadt- und Regionalentwicklung. Hier müssen ExpertInnen der Raumplanung, der planungsbezogenen Soziologie, der Stadtentwicklung, der lokalen Ökonomie, der Naturwissenschaft, etc. zusammenarbeiten und ihr Wissen zu einer gemeinsamen Lösung integrieren.
Sie selbst kommen aus den Sozialwissenschaften. Welche Rolle spielen diese in der umfassenden Betrachtung und Analyse von Phänomenen?
Sozialwissenschaft hat in den angesprochenen komplexen Situationen neben ihrer Kompetenz in der Analyse die Rolle der intermediären Instanz, der Facilitatorin, der Analytikerin der Ausgangssituation, der Netzwerkerin und der Advokatin der Interessen der BürgerInnen.
Forschende werden ErfinderInnen von kreativen Forschungssettings, Lernende, VermittlerInnen, Lehrende und DokumentatorInnen.
Wie unterscheidet sich transformative Wissenschaft von herkömmlichen, “etablierten” Forschungsansätzen?
Transformative Wissenschaft hat den Anspruch, nicht nur zu analysieren und zu erklären, sondern auch Veränderungen anzuregen und zu gestalten. Sie ist immer inter- oder transdisziplinär, geht aber darüber hinaus und bezieht betroffene Akteure außerhalb des Wissenschaftsbereiches in ihre Wissensproduktion ein. Bereits die Definition der Forschungsfrage unterscheidet sich erheblich dann, wenn nicht nur WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen sich darauf einigen müssen, sondern wenn betroffene Menschen mitreden und alle sich auf Augenhöhe begegnen.
Welchen Herausforderungen muss sich die transformative Forschung dabei stellen?
Eine besondere Herausforderung in der transformativen Forschung besteht in der Tatsache, dass sich durch die Beteiligung von Betroffenen die Prozesse zeitlich und in der Dynamik verändern. Hier ist hohe Steuerungskompetenz gefragt, ohne diese oft wichtigen Entwicklungen zu unterbinden. Darüber hinaus stehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor der Herausforderung, ihr Wissen verständlich zu kommunizieren und sowohl Lehrenden als auch Lernende in außerakademischen Welten zu sein. Das erfordert auch diskursive und aktivierende Methoden der Forschung und interaktive Prozesse der Rückkoppelung. Mehr noch als die Frage der Rolle ist es aber die der Haltung.
Inwiefern?
Leider wähnen sich viele VertreterInnen der Akademischen Welt immer noch im Elfenbeinturm. Auf der anderen Seite sind auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger herausgefordert, sich selbstbewusst in die Prozesse der Forschung und Entwicklung einzulassen und zu erkennen, dass Wissen Macht ist und transformative Forschung etwas bewegen kann.
Mit transformativer Forschung hält Demokratie Einzug in eine der letzten Bastionen, nachdem sie in Politik und Wirtschaft längst angekommen ist.
Transformative Wissenschaft scheint nicht nur eine Wissenschaft für die, sondern auch mit der Gesellschaft zu sein. Dahingehend, dass der Austausch mit den direkt von der Forschung Betroffenen im Zentrum steht.
Ja, so kann man es nennen.
Welche möglichen Konflikte ergeben sich dadurch? Zwischen Forschern und Beforschten, aber auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich dem Forschungsgegenstand anzunehmen und anzunähern versuchen?
Die Konflikte können verschiedener Natur sein, aber Konflikt in Transformationsprozessen ist nicht per se schlecht. Im Gegenteil: Konflikt ist das Feuer unter dem Kessel der Demokratie. Mit transformativer Forschung hält Demokratie Einzug in eine der letzten Bastionen, nachdem sie in Politik und Wirtschaft längst angekommen ist. Konflikte bilden den Kontext von Lernprozessen für alle Beteiligte, Konfliktfähigkeit vorausgesetzt.
Und konkret? Ist es nicht so, dass gewisse Disziplinen ein größeres Ansehen, ja sogar, eine Vormachtstellung in der akademischen Welt genießen?
Da gibt es durchaus Beispiele. Konflikte gibt es etwa zwischen den einzelnen beteiligten Disziplinen, bei denen einige immer noch die Definitionsmacht beanspruchen. Human- und Sozialwissenschaft genießen diese Macht eher selten. Die Selbstzuschreibungen von Bedeutung hat etwas mit dem Ansehen und dem Wert zu tun, der gesellschaftlich bestimmten Bereichen zugewiesen wird. Wirtschaftswissenschaft genießt mitunter eine hohe Definitionsmacht auch wenn wir um ihre Schwächen wissen. Auch bestimmte Bereiche der Naturwissenschaft, von denen angenommen wird, dass sie wirtschaftlich besonders relevant sind, bleiben weitgehend unhinterfragt. In komplexen Handlungs- und Forschungssituationen existieren immer Interessenkonflikte. Ein erster Schritt ist immer, eine Situations,- Interessen und Akteursanalyse zu erarbeiten um eine Übersicht über die Komplexität der Situation und mögliche Konflikte aber auch Bündnisse zu erzielen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen vor der Herausforderung, ihr Wissen verständlich zu kommunizieren und sowohl Lehrenden als auch Lernende in außerakademischen Welten zu sein.
Wie verändert sich dabei die Rolle der Forschenden?
Forschende werden ErfinderInnen von kreativen Forschungssettings, Lernende, VermittlerInnen, Lehrende und DokumentatorInnen.
Zur Tagung, die vergangene Woche in Brixen stattgefunden hat. Wer waren die Geladenen?
TeilnehmerInnen unserer Tagung waren hochrangige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und der Schweiz, die alle sowohl in ihren Biographien als auch in ihren jeweiligen Wirkungsfeldern die Tansdisziplinarität vertreten. Auch Studentinnen und Studenten unserer Forschungsdoktorate haben an dieser Tagung teilgenommen und am zweiten Tag Fragen aus ihren eigenen Forschungsvorhaben mit den ExpertInnen der Tagung diskutieren können.
Welche waren für Sie persönlich besonders aufschlussreiche Vorträge?
Prof. Dr. Roland Scholz von der ETH Zürich ist zum Beispiel promovierter Mathematiker als auch klinischer Psychologe mit einer Habilitation in Sozialpsychologie. Er ist derzeit für eine international agierende Forschungseinrichtung im globalen Phosphormanagement tätig. Was zeigt, dass QuerdenkerInnen in der Praxis sehr gefragt sind. Ich könnte auch die anderen sehr außergewöhnlichen wissenschaftlichen Werdegänge skizzieren, aber dies sprengt den Rahmen dieses Interviews. Zentral ist, dass wir es mit Menschen in der akademischen Welt zu tun haben, die nach Erkenntnis streben und die Grenzen einzelner Disziplinen erkennen. Sie agieren nicht nur interdisziplinär mit anderen, sondern eignen sich neues und anderes akademisches Wissen und methodische Grundlagen für ein erweitertes Agieren an. Das ist eine unglaubliche Bereicherung, die auch ich erlebe.