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“Der Gast ist ihnen völlig egal”

Lois Hechenblaikner hat die Tourismus-Exzesse in seiner Heimat in einem Buch verewigt. Der Tiroler Fotograf über Ischgl und das “hinterfotzige Geschäftsmodell Après Ski”.
Lois Hechenblaikner
Foto: Michael Maritsch

Sein einziges Werkzeug ist eine Leica. Mit der kleinen, unscheinbaren Kamera in der Hand möchte man ihn für einen Amateurfotografen halten. Doch Lois Hechenblaikner ist alles andere als das. Geboren 1958, im Tiroler Alpbachtal aufgewachsen, setzt er sich seit den 1990er Jahren mit dem tourismusbedingten Wandel seiner Heimat auseinander. Nachdem er fast zwei Jahrzehnte als Reisefotograf um die ganze Welt gereist war.

26 Jahre und 9.000 Bilder später hat Hechenblaikner – für die Euregio war er 2014 eine “Person des Monats” – beschlossen, ein neues Fotobuch über eines der beliebtesten Skigebiete in den Alpen, das zur Drehscheibe der Ausbreitung von Covid-19 für ganz Europa wurde, zu veröffentlichen. “Ischgl” zeigt die ungeschminkte Wahrheit der ausufernden Après-Ski-Kultur und “bietet einen ungeschönten Blick auf die Mechanismen einer profitorientierten und verantwortungslosen Vergnügungsindustrie”. So bewirbt der Steidl Verlag, bei dem Hechenblaikners jüngstes Buch erschienen ist, das Werk. Und es hat eingeschlagen. Am 4. Juni ist es erschienen – nach nur vier Tagen war “Ischgl” ausverkauft. Der Verlag ist bereits mit dem Nachdruck beschäftigt, in Kürze soll der Fotoband wieder erhältlich sein, versichert Hechenblaikner, der nicht nur Tirol, sondern auch Südtirol bestens kennt. Nicht zuletzt, weil er und seine Frau in Bruneck geheiratet haben.

salto.bz: Herr Hechenblaikner, haben Sie mit einem derartigen Siegeszug Ihres Buches gerechnet?

Lois Hechenblaikner: Nein, überhaupt nicht. Die Idee ging ja nicht einmal von mir aus, sondern vom deutschen Kunst- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich, der für meine bisherigen Fotobücher Texte geschrieben hat. Er hat mir nahegelegt, dieses Thema Steidl anzubieten, dem weltweit führenden Verlag für Fotokunst (mit Sitz in Göttingen, Deutschland, Anm.d.Red.). Das habe ich gemacht und Gerhard Steidl hat sofort zugesagt. Normalerweise wartet ein Fotograf drei bis sechs Jahre, bis er bei Steidl ein Buch bekommt – sofern er überhaupt von diesem Verlag aufgenommen wird.

Wie lange haben Sie gewartet?

Unglaubliche elf Wochen.

In dem Buch zeigen Sie Bilder aus über 26 Jahren, die Sie in Ischgl fotografierend unterwegs waren. Warum haben Sie 1994 überhaupt damit begonnen?

Das hat nichts mit Ischgl zu tun. Der Massentourismus in den Alpen ist mein Lebensthema. Ich bin genauso in St. Anton, in Kitzbühel, im Salzburger Land und, tatsächlich wenig, aber auch in den Dolomiten unterwegs. Die gesamte alpintouristische Berauschungs-Industrie hat mich stets interessiert, weil sie zu einem wirtschaftlichen Erfolgsmodell geworden ist. Ich habe mich gefragt, wie es diese Entwicklung geben kann, und beschlossen, fotografische Langzeitstudien zu machen.

 

In Ischgl dokumentieren Sie vor allem die Exzesse der Après-Ski-Szene – ein Phänomen, das es nicht nur dort oder in Tirol gibt.

In all diesen Lokalen braucht es ja einen eindeutigen Komplizen: der Gast, der da mitmacht. Interessant an dem Ganzen ist, dass das Produkt sosehr angenommen wird. In Südtirol passiert am Kronplatz, in Reischach einiges. Die haben die promilleverdächtige Tiroler Betriebstemperatur übernommen. Man könnte nun fragen: Welcher kulturelle Hintergrund bringt so etwas hervor?

Wo liegt die Verantwortung für diese “Tourismushölle”, wie der SPIEGEL das nennt, was im Bayerischen Rundfunk als “nacktes Grauen” bezeichnet wird, das Sie mit ihren Bildern festhalten?

Ich habe auffällig oft beobachtet, dass ganz viele jener Typen, die diese Lokale betreiben, einen bäuerlichen Hintergrund haben. Das hängt ganz einfach damit zusammen, dass dieser vermeintlich “edle Wilde” beim Gast sehr gut ankommt. Während seiner begrenzten Zeit, die er vor Ort verbringt, hat der Gast ja doch einen relativ oberflächlichen Zugang. Urlaubszeit ist immer die kürzere Zeit im Leben. Man ist immer etwas ausgelassener, man gönnt sich was, schaut vielleicht weniger genau hin, ist losgelöster, entspannter. Und es gibt eben solche Entspannungs-Spezialisten, die dieses Bedürfnis erkannt, den Gast wie in ein Kokon eingewickelt und abgeholt haben. Aber eines ist mit Blick auf Südtirol interessant.

Und zwar?

Ich war da viel unterwegs und vor zwei Jahren beim Ski-Weltcuprennen in Gröden. Da wurde mir erzählt, dass es dort im Vergleich zu Kitzbühel oder Sölden relativ wenig Après Ski gibt. Es ist im Verhältnis sehr wenig los. In Gröden gibt es andere Gastronomie, ja, aber niemals eine so ausgeprägte Après-Ski-Kultur. Oder -Unkultur, muss man sagen.

Après Ski ist zweifelsfrei nicht würdevoll. Vielmehr ist es eine moderne Form von hochpromillisierter Wegelagerei

In Gröden verbringen im Verhältnis mehr Italiener ihren Urlaub, während Ischgl vor allem bei Deutschen beliebt ist. Kann das eine Erklärung sein?

In Gröden hat man mir erzählt, dass der italienische Gast lieber gepflegt essen geht und ein Glas Wein trinkt. Es ist interessant, auch den kulturellen Hintergrund zu betrachten: Anscheinend ist der Italiener in seiner Alltags-Seelenlandschaft ausgeglichener als der Deutsche.

Welchen Menschen sind Sie in Ischgl begegnet? Wie kann man sich den typischen Ischgl-Gast vorstellen?

Ganz allgemein haben Touristiker fleißig Marketing gelernt. Und Marketing heißt auch, die Zuspitzung eines Profils herausschälen: Was sind wir oder was wollen wir sein? Wenn das jemand lang genug und professionell macht, kriegt er die Zielgruppe, die er unbedingt haben wollte – weil er genau diese Zielgruppe anspricht. Die Region Serfaus Fiss Ladis hat sich beispielsweise auf die Familie und das Kind spezialisiert. Sie sagen, Kinder sind der Zukunftsmarkt, denn wenn sie hier in ihrer Urlaubszeit sozialisiert worden sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie später wiederkommen. Was durchaus stimmt. Ischgl hat eben auf die Zielgruppe “Vollgas unlimited” gesetzt, auf einen hedonistischen Gast. Und ihn bekommen. Darunter sind ganz viele erfolgreiche Menschen, Showmen, aber eine vor allem sehr sexualisierte Klientel. 40 Prozent der Menschen sind heute geschieden. So entwickelte sich Ischgl zu einem hormonellen Graumarkt: der ideale Nährboden für Fremdgänger, Blindgänger und Draufgänger. Ischgl mutierte zu einer unterleiblichen Restplatzbörse.

 

Was macht Après Ski in Ischgl so erfolgreich?

In Ischgl manifestierte sich ein Phänomen, das in keinem anderen Ort so extrem ausgeprägt ist – weil es auch nirgendwo sonst diese Dichte an Après-Ski-Lokalen gibt. Warum betreiben dort so viele Après-Ski-Lokale im Verhältnis zu anderen Orten? Man hat diese große Dichte an Lokalen als ideales Geschäftsfeld ausgedehnt – und zwar, weil es der Gast angenommen hat. Das heißt, es gibt einen Mitmacher. Ohne Gast wäre das nie gegangen. Ich habe so viel Zeit in den Après-Ski-Lokalen verbracht und kann bis heute nicht verstehen, dass man da hineingeht und gegen Bezahlung bei dieser katastrophalen Trivialmusik drin bleibt. Ich habe keinen einzigen Wirt getroffen, der die Gäste mit der Peitsche hineintreibt, das basiert auf Freiwilligkeit. Für den Gast ist es anscheinend ein dankbares Produkt, als Gegenpol zu seiner Alltagswelt. Ein Ventil, wo er gegen teures Geld Druck ablassen, und sich sprichwörtlich fallen lassen kann.

Wie sehen Sie Ihre Rolle in dem ganzen Spektakel? Sind Sie auch ein Mitmacher?

Das kann gar nicht sein, denn ich bin Anti-Alkoholiker. Ich habe zeitlebens kein einziges Bier, kein einziges Glas Wein getrunken. Es gibt keinen besonderen Grund dafür, es schmeckt mir ganz einfach nicht. Klar: Nüchtern ist das Ganze nur schwer auszuhalten.

Sie sind also das beobachtende Element, ein Feldforscher?

Ich mache fotografische Kultursoziologie. So beschrieb ein deutscher Journalist mein Wirken. Ein Produktionsbetrieb, der sich im globalen Wettbewerb behaupten muss, hat die Möglichkeit, seinen Produktionsstandort zum Beispiel nach Asien zu verlegen. Tourismuswirtschaft hingegen ist immer ortsgebunden: Dort, wo sie ist, ist sie. Das heißt, man muss seinen Kunden herholen. Daher ist ganz viel an Marketing passiert, um Zielgruppen anzusprechen. Das Hauptproblem der Tourismuswirtschaft ist, dass die Gäste jedes Jahr neu angelockt werden müssen. Eine deutsche Reiseleiterin hat mir einmal gesagt: Die Tiroler sind Weltmeister im Anlocken von Gästen. Auch in Ischgl hat man anfänglich – ganz simpel reduziert – nur Betten vermietet, Essen, Getränke und Liftkarten verkauft. Dann hat man sich gefragt, was könnte der Gast noch brauchen, was können wir ihm noch anbieten? Das Profil wurde extrem geschärft und auf eine sportlich-aktive, hedonistische und lifestyle-orientierte Zielgruppe gesetzt.

Der Gast ist ihnen in Wahrheit völlig egal, Hauptsache das Geld ist bei uns geblieben

Sie setzen sich mit dem Phänomen, das Sie beobachten, nicht nur an der sichtbaren Oberfläche auseinander?

Eine wesentliche Grundlage, das Basisfundament meines fotografischen Werkes ist das Buch des deutschen Soziologen Gerhard Schulze “Die Erlebnisgesellschaft”. Schulze unterteilt die Erlebnisgesellschaft in fünf Milieugruppen: Niveaumilieu, Selbstverwirklichungsmilieu, Integrationsmilieu, Unterhaltungsmilieu und Harmoniemilieu. Um das Harmoniemilieu ging es in meinem letzten Buch “Volksmusik”, die ich auch 21 Jahre lang beobachtet habe. Diese Menschen hatten es im Leben nicht immer unbedingt einfach, stammen aus einer eher einfachen Bildungsschicht und streben nach Harmonie. Wenn die ein Konzert besuchen, so wollen sie für zwei Stunden in eine schmerzfreie Zone ohne jedes Fragezeichen ans Leben.

Die typischen Kastelruther-Spatzen-Fans?

Exakt, die verkörpern diese Zielgruppe ganz deutlich in einer unglaublichen Dichte. Ich kenne Kastelruth, war unzählige Male dort – und habe regelmäßig flüchten müssen. All die Jahre die ich dort war habe ich es kein einziges Mal ein ganzes Wochenende ausgehalten. Ein paar Stunden im Zelt, und mein Körper reagierte, ich fing immer an zu zittern. Eigentlich müsste ich den Kastelruther Spatzen heute noch eine dicke Rechnung schicken, für die akustische Beleidigung meines Gehörapparates.

Die sosehr weinerliche Musik der Kastelruther Spatzen, welche dem Heimatkitsch zugeordnet werden kann, entspricht aber sehr wohl der Seelennatur ihrer Fans. Für mich war es hart, aber ich wollte das alles festhalten. Denn Ernsthaftigkeit erlangt ein fotografisches Werk erst in der Langzeitbeobachtung des jeweiligen Themas. In diesem Fall war es in Form einer Typologiestudie an den Fans der volkstümlichen Musik. Après Ski hingegen ist dem Unterhaltungsmilieu zuzuordnen. Das ist eher eine hedonistische Gesellschaft. Wie schon gesagt: die “Vollgas unlimited”.

 

Wie reagieren die Menschen in Ischgl wenn sie merken, dass Sie sie fotografieren?

Wesentlich zu bedenken ist: Der Mensch in der Masse verhält sich anders als das einzelne Individuum. Gruppendynamik spielt eine große Rolle. Wenn ich dazukomme, muss ich ein Teil davon werden. Das heißt, ich muss mich in derselben Fröhlichkeit befinden, darf nicht als moralinsaurer Prediger auftreten, sondern muss mich für sie freuen können.

Wie schaffen Sie das, wenn Ihnen dieses Treiben doch so zuwider ist?

Mir liegt es, auf Menschen zuzugehen, ich habe kein Problem im Erstkontakt. Bei Massenveranstaltungen gehe ich ganz spontan auf Menschengruppen zu, und werde für kurze Zeit ein Teil von denen.

Ischgl mutierte zu einem hormonellen Graumarkt: der ideale Nährboden für Fremdgänger, Blindgänger und Draufgänger

Fürchten Sie bei Ihrer Arbeit keine rechtlichen Konsequenzen?

Bei meinen Volksmusikbildern habe ich mit den einzelnen Personen immer Rechtsverträge abgeschlossen, und habe mir das sogenannte Model Release unterschreiben lassen. Bei diesem Thema arbeitete ich mit einer analogen Großformatkamera, die am Stativ steht. Jede Aufnahme dauert mindestens 20 Minuten, bis man damit fertig ist. Da hat man Zeit, und ich habe mit den Leuten gesprochen, habe mir notiert, was sie beruflich machten und was ihre Motivation war, nach Kastelruth oder sonstwo hin zu kommen.

Aber bei einem Thema wie Après Ski schafft man das nicht. Dort habe ich eher selten etwas unterschreiben lassen. Nur in Momenten, die ganz heikel waren. Davon abgesehen, ich arbeite im Kunstkontext, wo man viel weniger Probleme mit dem Urheberrecht bekommen kann. Weil das ganze Buch etwas erklärt, was so noch nie da gewesen ist. Damit bekommt es so etwas wie eine kulturwissenschaftliche Bedeutung. Wenn mich jemand klagen würde, so würde er in einem Gerichtsprozess wahrscheinlich nicht durchkommen. Ein Richter würde mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, das Buch hat so viel Erkenntniswert, dass das allgemeine Interesse dem Einzelinteresse überwiegt. Dazu gibt es auch bereits positiv geführte Musterklagen von Künstlern.

 

Im Laufe der Jahre haben Sie tausende Fotos in Ischgl geschossen. Wie haben Sie daraus die rund 200 Bilder für Ihr Buch ausgewählt?

Für den Erfolg eines Buches ist ein gutes Editing, also die Auswahl und die Abfolge der Bilder, ausschlaggebend. Mein Problem ist, dass ich selbst oft auf der Leitung, mir selbst im Weg stehe. Kurzum: man hat zu wenig Abstand zum eigenen fotografischen Werk. Mir hat ein befreundeter Fotokünstler dabei maßgeblich geholfen. Unter enormen Zeitdruck haben wir über sechs Wochen hinweg ganz intensiv immer wieder Bilder ausgewählt und reduziert, und dann einen Bildteppich gelegt, damit sich eine kluge Bildabfolge, eine Bildgeschichte ergibt. Jede Doppelseite muss funktionieren, formalästhetisch und inhaltlich zusammenstimmen.
Zwischendrin gibt es immer wieder schöne Whiteouts, die nur weiße Nebellandschaft ohne Sonne und ohne blauen Himmel zeigen, eine Ruhezone für das Auge. Dann geht es wieder voll ins Geschehen. Das ist in diesem Fall sehr geglückt und der Grund, warum das Buch so greift und so immenses Medieninteresse weckt. Die erste Auflage war nach vier Tagen ausverkauft. Wir konnten es selbst kaum glauben. Mein Verleger Gerhard Steidl hat sofort darauf reagiert, und gleich nachgedruckt. Ende nächster Woche erscheint bereits die zweite Auflage.

Ein weiterer nicht zu leugnender Erfolgsfaktor ist die Tatsache, dass Ischgl in den vergangenen Monaten als Corona-Hot-Spot zu unrühmlicher Berühmtheit gelangt ist.

Genau.

Es ist ein scheinkatholischer Dualismus, der hier zutage tritt

Warum sind so viele Menschen derart scharf darauf, sich die Bilder, die Sie zeigen, anzuschauen?

Ich glaube, dass man solche Bilder in dieser Dichte bisher einfach nicht kannte und man hat es nicht geglaubt, dass sich Wintersport in eine solche Richtung entwickeln könnte. Die Tourismusindustrie neigt stark dazu, gewisse Dinge auszublenden, zu verdrängen. Dabei bin ich ja nur auf die Spuren gegangen, die ohnehin da waren: Jede Woche gibt es während der Wintermonate in den Zeitungen Berichte über Schlägereien, ausgeschlagene Zähne und Tragödien in gewissen Orten. Und ich frage mich, ich frage mich ernsthaft, welchem Dualismus unterliegt der Staat, dass man diese unglaublichen Ausuferungen zulässt? Meine Frau war einmal mit in Ischgl und schockiert, als sie zugeschaut hat, was dort abläuft. Was passiert mit Kindern, die heute in Orten wie Sölden oder Ischgl aufwachsen? Welches Bild manifestiert sich in deren Köpfen? Ist der Gast ein Monster? Ist er völlig entfremdet? Was ist das? Und es passiert ja auch etwas mit den Orten: In St. Anton haben sie schon vor Jahren mit etwas begonnen, das “vandalismussicheres Bauen” heißt.
Das ist ja furchtbar, wenn ich denke, dass Tourismus an und für sich ein absolut würdevoller Job sein kann. Grundvoraussetzung dafür ist allerdings, dass er würdevoll gestaltet wird. Après Ski ist zweifelsfrei nicht würdevoll. Vielmehr ist es eine moderne Form von hochpromillisierter Wegelagerei.

Letztendlich geht es im Tourismus um die Begegnung von Menschen. Damit das gelingt, muss Tourismus in einem gewissen würdevollen Format passieren. Das andere aber ist ein völlig entfremdetes, entgrenztes Format, das Menschen auf die Dauer krank macht. Es gibt ein paar Wenige, die abcashen und unfassbares Geld verdienen. Und die Orte werden kaputt, sie verlieren ihr Gesicht, sie dehydrieren und verbrennen, haben nur noch eine Fratze.

Ich bin kein kollektiver Feind der Tourismuswirtschaft

Wie erklären Sie sich, dass dieses Tourismusmodell, das über Jahre bestens funktioniert hat, auch in Zeiten noch attraktiv zu sein scheint, in denen andererseits Schlagworte wie Nachhaltigkeit, Entschleunigung, sanfter Tourismus hoch im Kurs sind?

Es ist ein scheinkatholischer Dualismus, der hier zutage tritt. Für mich ist es Wegelagerertum der Neuzeit, was in Ischgl und anderen Orten wie St. Anton, Sölden oder dem Zillertal entstanden ist. Ich kenne auch Hoteliers, die überhaupt nicht einverstanden damit sind, was dort abgeht. Es gibt Leute, die genauso den seelischen Müll und all die Missstände abbekommen, die aus den Auswüchsen des Après-Ski-Businesses erwachsen. Aus diesem Grund habe ich in das Buch auch trocken-nüchterne Polizeiberichte hineingegeben. Ich selbst habe bis maximal 20 bis 21 Uhr fotografiert. Länger schaffe ich es nicht, auch ich habe meine Grenzen. Die Fortsetzung der Nacht habe ich mit Polizeiberichten abgedeckt, die ich offiziell bekommen habe – was gar nicht einfach war. Die Berichte halten die Grundmelodie so eines Ortes fest. Warum ist man seinen Führerschein sofort los, wenn man alkoholisiert mit dem Auto fährt, aber wenn man bei uns besoffen mit den Skiern fährt, passiert mit großer Wahrscheinlichkeit nichts? Weil man – und das ist völliger Dualismus vonseiten des Staates, der in dieser Sache den Mund hält, wodurch all die Ausschweifungen passieren können – der Tourismuswirtschaft, unter Anführungszeichen, “entgegenkommen” wollte. Unverantwortliche Unternehmer nutzen das schamlos aus. Hauptsache das Geschäft und der Alkoholverkauf stimmen. Der Gast ist ihnen in Wahrheit völlig egal, Hauptsache das Geld ist bei uns geblieben.

Was ich sagen will: Es gibt eine extrem dualistische Haltung und ein hohes Maß an Unverantwortlichkeit. Deswegen habe ich mir gedacht, ich halte diese Bilder fest. Ich glaube aber auch, dass es irgendwann dieses hinterfotzige Geschäftsmodell Après Ski so nicht mehr geben wird. Denn wenn generell alles menschliche Leben vergänglich ist, sind auch gewisse Phänomene und Erscheinungen vergänglich.

 

Sie stammen selbst aus Tirol und sind in einem Tourismusbetrieb groß geworden. Werden Sie in Ihrer Heimat als Nestbeschmutzer wahrgenommen?

Ja, sicher.

Immerhin halten Sie mit Ihrem Fotoapparat dem Ganzen den Spiegel vor.

Ja, das mache ich. Oft ist es ja so, dass Künstler woanders hinziehen oder woanders leben. Aber Tourismus ist mein Thema, mein Lebensthema. Also habe ich das umgedreht: Ich bringe meine Arbeiten woanders hin und bleibe hier in Tirol. Ich habe verstanden, dass ich in die Kunstwelt eintreten und international publiziert werden muss. Meine Bücher erscheinen im Ausland – und wirbeln dann ja doch Staub auf, wie man gesehen hat. Das kann man nicht mehr aufhalten. “Ischgl” hat in der medialen Berichterstattung keinen einzigen Verriss, sondern nur Lob und Anerkennung gekriegt, weil jeder sieht, dass das eine ernsthafte Arbeit ist und dass ich die seriös begleite. Ich bin kein kollektiver Feind der Tourismuswirtschaft, im Gegenteil: Ich kann mich über jeden gut geführten Tourismusbetrieb freuen.

Eigentlich müsste ich den Kastelruther Spatzen heute noch eine dicke Rechnung schicken, für die akustische Beleidigung meines Gehörapparates

Stellen Sie sich vor, in 25 Jahren erneut zu fotografieren: Welche Motive, welche Szenen werden Ihre Aufnahmen zeigen? Dieselben wie die des letzten Vierteljahrhunderts? Oder wird sich etwas geändert haben?

Das ist eine hypothetische und abstrakte Annahme. Hoffen wir, dass sie in 25 Jahren noch Schnee haben. In Ischgl selbst bin ich überzeugt, dass ein gewisser Reinigungs- oder Selektionsprozess kommen wird. Sie werden sehen, so können sie nicht weitermachen. Weil sie solchen Schaden genommen haben. Auf der anderen Seite aber steht der Gast, und die Zielgruppe, die Ischgl bedient, gibt es ja wirklich! Ich habe noch nie von jemanden gehört, der schreiend aus einem Après-Ski-Lokal rausgelaufen wäre, weil er sich dort beschissen fühlte. Sondern man war und ist bereit, diese Schweine-Preise zu zahlen. Phänomenologisch gesehen hat die Erlebnisgesellschaft einen Heißhunger und dadurch, dass das Leben von vielen Menschen in den Städten vermutlich auch einsam und unrund ist, nehmen sie dieses Produkt dankbar an.

Der Alpenraum ist so etwas geworden wie ein Überdruckventil für die Leistungsgesellschaft: Druck ablassen gegen Bezahlung. Das ist das Konzept. Und das haben diese Orte ganz speziell herausgearbeitet. Wer aber alles dem Marketing unterwirft, berücksichtigt gewisse Parameter des Lebens nicht mehr. Dabei hat dieses Tun, dieses Geschäftsfeld absolute Rückkoppelung auf die Leute im Dorf: Wenn jeden Tag Besoffene und Torkelnde durch den Ort ziehen und jeden Tag die Rettung durchfahren muss, wirkt das auf die Leute zurück. Das Schlimmste ist dann, wenn du den hasst, von dem du eigentlich lebst: den Gast. Zuerst machen sie ein Monster daraus, das sie abmelken – und dann kommt die Watschen zurück. Es bräuchte eine ganzheitliche Betrachtung dieses Geschäftsfeldes, weil es eben ein diabolisches ist. Tourismus funktioniert nur dann, wenn er würdevoll gemacht und in sich stimmig ist. Aber wenn er in dieser berauschten Wegelagerertechnik passiert, kommt eine Watschen zurück. Das tust du nicht umsonst, man zahlt auch einen Preis dafür. Und den Preis mache ich mit den Mitteln der Fotografie sichtbar.

 

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Alois Spath Dom, 06/14/2020 - 20:38

Nicht nur Hechenblaikners Fotos sind gestochen scharf, genau so prägnant und sezierend sind auch seine Sätze in diesem Interview (wie auch in anderswo gelesenen Texten). Schon erstaunlich, wie es dem Künstler gelingt, den Blick derart zu fokussieren und zu solcher Verdichtung der Aussagekraft zu gelangen.

Dom, 06/14/2020 - 20:38 Collegamento permanente
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Dygruber Georg Ven, 06/19/2020 - 13:55

Die Überschrift finde ich eine Anmassung, man kann nicht einem ganzen Ort so etwas unterstellen. Sehr treffender Beitrag, passende Bilder, mindestens ebenso gute Kommentare. So ein Mann sollte als Verbinder gewonnen werden, der hat die Weisheit. Ich denke vieles hat eine Eigendynamik bekommen, die nicht mehr stoppbar war. Der Autor selbst bezeichnet z.B. Lech am Arlberg als sehr achtsam, also ist kein Tourismus Gegner.

Ven, 06/19/2020 - 13:55 Collegamento permanente
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Günther Mayr Lun, 06/29/2020 - 13:44

"Eigentlich müsste ich den Kastelruther Spatzen heute noch eine dicke Rechnung schicken, für die akustische Beleidigung meines Gehörapparates"
Was soll das?
Wenn ihm die Musik nicht passt, warum geht er dann hin oder bleibt dort?
Mit Gewalt zuhören - selber blöd!
Da muß sich der Lois schon selber bei der Kappe nehmen!
Oder: wer schimpft - der kaft? ...

Lun, 06/29/2020 - 13:44 Collegamento permanente