Der Blick in die Flammen
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Alexander Abaturovs Dokumentarfilm (eine französisch-schweizerische Koprouktion) ist anfänglich das, was man aus filmischer Sicht als „Slow-Burn“ bezeichnen würde. Das Publikum besucht dokumentarische Filmvorführungen selten ohne Vorwissen, auch das Kinoplakat erstrahlt in Endzeitstimmungs-Orange und die leinwandfüllenden Bilder des Brands - auch aus nächster Nähe - sind unglaublich eindrücklich, besonders auf einer Kinoleinwand. Ähnlich dürften auch alle Kinogänger heute Abend, 20 Uhr, im Bozner Filmclub bereits wissen, was auf sie zukommt. Partner des heutigen Abends ist das Ökoinstitut Südtirol. Der Film ist der erste von sechs für die Reihe „Doc Day - Reflecting on Documentary Cinema“ der Film Association of South Tyrol, welche bis März im Monatsrhythmus über die Filmclubleinwand flimmern werden (siehe Infobox am Ende des Artikels).
Trotz eines informierten Publikums ist es wichtig, dass sich der Film erst mal zehn von neunzig Minuten Zeit nimmt, in welchen das Feuer nur am Rande und als Verbündeter in der kältesten Region Russlands eine Rolle spielt. Wir lernen die in der ländlichen, abgeschiedenen Region lebenden Menschen kennen, sehen die Proben eines Kindertheaters, das auf einer lokalen Legende beruht. Mehr als ein Urteil, welches die historischen Brände dem Klimawandel zuschreibt, oder eine Anklage zur stockend und unzureichend aus den Machtzentren angelaufener Hilfe zu erheben, interessiert den Filmemacher, die Flammen in gewisser Weise spürbar zu machen. „Paradise“ ist ein ungemein empathischer Dokumentar, den die einfache Bevölkerung interessiert. Gerade Szenen bäuerlichen Lebens könnten, nach Überwindung der 2,5 Zentimeter hohen Hürde der Untertitel (in Anlehnung an die Dankesrede von „Parasite“-Regisseur Bong Joon-Ho bei den Oscars), die uns das Jakutische verständlich macht, auch in Südtirol gedreht worden sein.
So nähern wir uns auch in den nächsten zehn Minuten allmählich dem Feuer an und das, trotz einer gewissen Langsamkeit mit einer Spannung, wie sie sonst fast nur in Spielfilmen entsteht, bis wir mit einer Gruppe von Jakutiern auf dem Anhänger eines Traktors in nächster Nähe zum Feuer ausharren, bis dann alles auf einmal schnell gehen muss: Die Gefahr ist dabei ganz klar keine fiktive, sondern eine reale, für den Zuseher beklemmende. Seinen Teil trägt auch der ausgezeichnete Soundtrack des Films dazu bei, dass uns diese Gefahr und Spannung im wohlklimatisierten Kinosaal auch erreicht: Villeneuve & Morando haben ihn gemeinsam mit Delphine Malaussena und dem Ensemble „Les Percussions de Strasbourg“ beigesteuert.
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Die Leichtigkeit und das viele Lachen - wohl als unbewusster Schutzmechanismus zu deuten - mit dem die Einheimischen die Brandbekämpfung selbst aufnehmen, ist zu Beginn schwer zu verdauen. Alltagsbilder unter orangem Himmel fallen immer wieder in die zivile Brandbekämpfung ein, das Feuer ist auch außerhalb des Leinwandformats präsent. Etwa wenn ein kleines Kind mit einem Hund unter safran-farbenem Himmel durch eine trocken raschelnde Wiese läuft, oder bei einer Unterbrechung der Brandbekämpfung, wenn, die Gasmaske auf der Stirn, im Dunst sitzend eine Zigarettenpause gemacht wird.
Das Lachen verschwindet nach und nach und der anfängliche, in der Gemeinschaft geborene Mut schlägt zusehends in den Mut der Verzweiflung um, Erschöpfung und verbrannte Erde machen sich breit. Es ist ein Kampf David gegen Goliath, der hier geführt wird. Das Feuer, der Goliath, hat keinen Sinn für biblische Gleichnisse und kennt als Naturgewalt auch keine Gnade. Unaufhaltsam nähert es sich Dörfern an, dem Versuch Brandschneisen zu schaffen zum Trotz, und vom langen Hoffen auf Regen unbeeindruckt. Die Sprecher, welche mahnen durchzuhalten, klingen selbst müde und wenig überzeugt und wir kehren zur Märchenformel vom Anfang zurück, die vielleicht so etwas wie Trost spendet, angesichts apokalyptischer Bilder.
Das Ende des Films ist wieder mehr den poetischen Bildern verpflichtet als den Gesprächen über das gemeinsam Durchlittene: Lächelnde Menschen unter Regenschirmen oder im Weiß des Schnees beim gemeinsamen Fischfang nach alter Tradition. Ein eindrucksvolles Zeugnis menschlicher Widerstandskraft in beklemmend schönen Bildern und Ton.
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DOC DAY
Der Film heute Abend wird im Originalton mit italienischen Untertiteln gezeigt.
Es folgt, am 16. November „Le spectre de Boko Haram“, von Cyrielle Raingou (in Zusammenarbeit mit Female Views).
21. Dezember: „Innocence“, Guy Davidi (i.Z. Female Views);
11. Januar: „Polos Prayers“, Hanna Nobis (Film Frauen Roundtable);
15. Februar: „The Natural History of Destruction“, Sergei Loznista (Foto Forum)
14. März: „Smoke Sauna Sisterhood“, Anna Hints (Female Views & Film Frauen Roundtable)
Der Beginn aller Vorführungen ist für 20 Uhr angesetzt. Kuratiert hat die Reihe von Emanuele Vernillo.