Ein tragisches Reiseerlebnis
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Am Vorabend des Ersten Weltkriegs entstand Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig. Ende des vorvergangenen Jahrhunderts hatte Mann anderthalb Jahre in Rom und Palestrina, einer Kleinstadt in der angrenzenden Region Latium, verbracht. Dort arbeitete er an ersten Novellen, und dort begann er auch die Buddenbrooks. Politisch war Manns Interesse am Gastgeberland bis dahin nie gewesen, selbst dann nicht, als 1922 mit Mussolini ein neuer Machthaber in Rom übernahm. „Nach Italien“, stellt die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Lavinia Mazzucchetti fest, „war Thomas Mann damals wiederholt gereist, ohne sich ein Problem daraus zu machen.“ Mit ‚daraus‘ ist der Faschismus gemeint.
Ein Sinneswandel setzte bei Mann im Spätsommer 1926 ein. Mit seiner Ehefrau Katia und den beiden jüngsten Kindern Elisabeth und Michael verbrachte er die Sommerferien in Forte dei Marmi, einem Badeort am Tyrrhenischen Meer, auf halbem Weg zwischen La Spezia und Viareggio. Aus der Pensione Regina ging ein Brief an Hugo von Hofmannsthal. Mann verehrte den Wiener Kollegen als Schriftsteller, wenn er auch dessen politische Vorlieben - Hofmannsthal zeigte sich vom italienischen Faschismus sehr angetan - nicht immer teilen mochte. Bei Hofmannsthals Vortrag beispielsweise ein paar Monate später an der Münchner Ludwigmaximiliansuniversität war der ebenfalls in München beheimatete Mann lieber zuhause geblieben. -
„Unser Aufenthalt geht hier zu Ende“, beginnt der Brief aus Forte dei Marmi, „am 11. [September] reisen wir ab. Wir haben Licht und Wärme in Überfülle gehabt, und die Kinder waren glückselig am Strande und im warmen Meer. An kleinen Widerwärtigkeiten hat es anfangs auch nicht gefehlt, die mit dem derzeitigen unerfreulichen überspannten und fremdenfeindlichen nationalen Gemütszustand zusammenhingen, und uns belehrten, daß man jetzt nicht gut tut, einen Badeort dieses Landes in der rein italienischen Hochsaison aufzusuchen.“ Resümierend fügt Mann am Schluss des Briefes an: „Natürlich hat das eigentliche Volk seine Liebenswürdigkeit bewahrt und steht geistig nicht unter dem blähenden Einfluß des Duce. Im Ganzen aber kann ich nicht sagen, daß dieser Besuch meine Achtung vor dem Italiener gehoben hätte.“
„...weshalb ich Ihr schönes Vaterland vorläufig lieber meide.“
Im Jahr darauf gab Mann weitere Details jenes Italienaufenthalts preis, der seiner Haltung zum Faschismus eine entscheidende Wende geben sollte. Enzo Ferrieri, dem Gründer der Mailänder Literaraturzeitschrift Il Convegno, verriet er, „weshalb ich Ihr schönes Vaterland vorläufig lieber meide.“ Mann bewegten „politische Gründe. Natürlich habe ich nichts gegen den Fascismus [sic!], wenn er Italien Ordnung und Glück bringt, aber ich habe manches gegen seine menschlichen Erscheinungsformen, gegen eine gewisse nationale Gereiztheit und Gespanntheit, die mir seit einiger Zeit den Charakter des italienischen Bürgertums zu bestimmen scheint.“ Zum einen war Mann eine geradezu lächerlich anmutende Affäre sauer aufgestoßen. Nachdem seine kleine Tochter Elisabeth eine kurze Strecke nackt am Strand gelaufen war, hatte ein Passant die Familie angezeigt, wegen ‚Beleidigung Italiens‘. Anstatt, wie von Mann erwartet, gesunden Menschenverstand walten und die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, brummte die zuständige Behörde ihm eine Strafe von fünfzig Lire auf. Doch das war noch nicht alles.
„Insofern gelingt dem Autor die Auseinandersetzung mit dem Italien seiner Zeit, zu der vielen Schriftstellerkollegen offenbar der Mut oder auch der Wille gefehlt hat.“
Vollends vergällte der Familie ein Varietéabend den Italienurlaub. Den negativen Höhepunkt der unangenehmen Erlebnisse in Forte dei Marmi stellte der Auftritt eines Magiers dar. Der Künstler manipulierte sein Publikum, erniedrigte einzelne Gäste, schwadronierte von der Größe Italiens und sorgte für eine beklemmende Atmosphäre. Drei Jahre vergingen, bis Mann den dreiwöchigen Aufenthalt in seiner Erzählung Mario und der Zauberer verarbeitete. „Ein tragisches Reiseerlebnis“ lautete der Untertitel, an dem nur das Adjektiv erfunden ist. Alles im Buch Geschilderte beruhte auf Tatsachen, allein den dramatischen Schluss mit dem gewaltsamen Ende dichtete Mann hinzu.
Einen Beleg für die Stimmigkeit des Erlebten lieferte ein undatierter Brief an Thomas Mann. Absender war Gerard Hopkins, ein Mitarbeiter der Oxford University Press in London; das Schreiben ist auf Firmenpapier verfasst. Hopkins hatte zur selben Zeit wie die Manns in Forte dei Marmi Urlaub gemacht und auch die Vorstellung des Zauberkünstlers besucht. Dessen Namen war Mann entfallen, im Buch heißt er Cipolla. In seinem Antwortschreiben bestätigt Mann alle Angaben Hopkins‘. (Bemerkung am Rande: Auch der Brite irrt, wenn er den Zauberer als ‚Gabriele‘ identifiziert. In Wirklichkeit hieß der Künstler Cesare Gabrielli.)
„Vor allem ging es ihm darum, die bedrückende Atmosphäre von Entwürdigung und Zwang, Überwachung und Einengung in einem faschistischen Staat zu schildern, in dem man niemandem trauen kann, auch nicht den Behörden und Vertretern der Staatsmacht.“
Mann verwahrt sich Rezensenten gegenüber stets dagegen, „in dem Zauberer Cipolla einfach eine Maskierung Mussolinis zu sehen.“ Warum aber hat er seinem Magier ausgerechnet diesen Namen gegeben? Cipolla bedeutet Zwiebel. Mann, durchaus des Italienischen kundig, wird die Redensart più doppio d‘una cipolla gekannt haben, die einen doppelbödigen, heimtückischen, betrügerischen Mensch umschreibt. Mann räumte folgerecht ein, „daß die Novelle entschieden einen moralisch-politischen Sinn hat.“ Vor allem ging es ihm darum, die bedrückende Atmosphäre von Entwürdigung und Zwang, Überwachung und Einengung in einem faschistischen Staat zu schildern, in dem man niemandem trauen kann, auch nicht den Behörden und Vertretern der Staatsmacht. Insofern gelingt dem Autor die Auseinandersetzung mit dem Italien seiner Zeit, zu der vielen Schriftstellerkollegen offenbar der Mut oder auch der Wille gefehlt hat. Mit Mario und der Zauberer macht Mann seine Ankündigung an Enzo Ferrieri wahr, die „Hypertrophie des nationalen Anspruchs“ aufzuzeigen, „die dem Fascismus menschlich eigentümlich zu sein scheint.“
Mario und der Zauberer erschien 1930 im S. Fischer Verlag. Von seiner Aktualität hat die Erzählung bis heute nichts eingebüßt. Eine besonders schöne gebundene Ausgabe erschien letzten Herbst, wieder bei Fischer.Thomas Mann, Mario und der Zauberer. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023, ISBN 978-3-10-397552-9
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