Nackte Tatsachen
![Volkstheater München](/sites/default/files/styles/ar/public/2025-02/stueck.jpg?h=7a7233b1&itok=O1nrDm-0)
-
Ob Franziskaner, Benediktiner, Jesuiten oder Kapuziner – Fragen um Aufarbeitung möglicher Missbrauchsfälle stehen seit Jahrzehnten im Raum. Antworten bleiben aus. Seit wenigen Wochen – nachdem die Diözese Bozen-Brixen mit vielen Vorfällen selbstkritisch an die Öffentlichkeit ging –, wächst nun der Druck auf Orden und Ordensbrüder auch in Südtirol. Was passierte hinter den Klostermauern, in den Internaten? Was wurde dokumentiert? Was verschwiegen? Was verdrängt? Vielleicht hat der eine oder andere Täter oder Mitwisser von einst bereits im kleinen gelben Reclam-Büchlein Bilder von uns geblättert und die für die Theaterbühne verfassten und aufbereiteten Opfer-Geschichten des Autors Thomas Melle nachgelesen. Melle hat sein Stück aus dem Jahr 2016 in der Reihe Theater der Gegenwart veröffentlicht, das Südtiroler Kulturinstitut hat es gestern und vorgestern auf die Bühne des Waltherhauses gebracht.
Alles dreht sich um das Scheinbare und weniger Tatsächliche, das Mögliche im eigentlich Unmöglichen.
-
Theater zum Nachlesen: Das Theaterstück beginnt wie ein Psychothriller: Jesko Drescher, erfolgreicher Manager und Familienvater, sitzt am Steuer seines Wagens, als ein Foto auf seinem Handybildschirm aufpoppt. Vor Schreck rast er beinahe in eine Schulklasse hinein. Denn das Bild zeigt einen nackten Jungen: Jesko selbst – als zehnjährigen Schüler eines Eliteinternats. Erschüttert sucht Jesko drei seiner ehemaligen Schulkameraden auf. Er will mehr über die Aufnahmen erfahren. Doch je intensiver er sich mit dem Bild beschäftigt, desto stärker verschwimmen die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, Erinnern und Vergessen, Selbst- und Fremdwahrnehmung. Foto: Reclam
Thomas Melle besuchte (wie er im Nachwort niederschreibt) bis zu seinem Abitur das Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg. Vor 15 Jahren gelangten just von dieser Schule, Berichte über Missbrauch an die Öffentlichkeit. Auch das System, dass die Täter deckte. Die von Regisseur Christan Stückl 2023 für das Volkstheater München auf die Bühne gebrachte Inszenierung spielt in einem fein designten Wohnzimmer. Sie bleibt dort eingesperrt. Auf dem weißen Sofa machen sich die gefesselten Fassaden nur scheinbar gemütlich – ruckartig setzen sie sich hin, springen auf, gehen hin und her, sinken vermeintlich gedankenverloren wieder in die weißen Polster. Doch das saubere Weiß ist nur Schein, die weißen Westen sind beschmutzt. Aber mit was? Warum? Weshalb?
Den Anlauf zur gemeinsamen Aufarbeitung, in dieser für die ehemaligen Schüler zurückliegenden Geschichte um Pater Stein, macht ein Foto, Jesko bekommt es auf sein Handy geschickt, erkennt sich selber, doch er kann (und will) die Abbildung nicht einordnen. Ist er es wirklich? Ist das ein nettes Bild? Oder pornografisch? „Ich bin das, wieso bin ich das, ich bin da nackt, wieso?“
Jesko ist gut im Geschäft, ein Hansdampf in allen Gassen, sein Gesicht und sein Beruf haben ihn einigermaßen bekannt gemacht. Er ist ein Mensch der Öffentlichkeit. Und er ist erpressbar. Im Lauf des Stücks gesellen sich die Schicksale von Malte, Johannes und Konstantin hinzu. Einer von ihnen, so glaubt Jesko, wird der Erpresser sein. Alles dreht sich um das Scheinbare und weniger Tatsächliche, das Mögliche im eigentlich Unmöglichen. Auch die Rolle von Frauen an der Seite von Männern mit Missbrauch-Erfahrungen wird abgehandelt. Das Stück mäandert um zerstörte unschuldige Seelen, über einige (oder unzählige?) Missbrauch-Fälle, über Macht und Autorität im Zeichen der Kirche. Ein Teufelskreis.Ein Gastspiel des Münchner Volkstheaters: Regie: Christian Stückl / Mit: Jesko (Alexandros Koutsoulis), Bettina (Henriette Nagel), Malte (Janek Maudrich), Johannes (Max Poerting), Lehrerin (Carolin Hartmann), Konstantin (Jan Meeno Jürgens), Sandra (Nina Noé Stehlin) Foto: SALTOSchicht um Schicht wird das scheußliche Handeln von Pater Stein stets etwas kryptisch angedeutet. Seine Opfer verhandeln den Täter mit sich selbst und im kleinen Kreis. Angst und Mut stehen sich ohnmächtig gegenüber. Und immer steht die Frage im Raum: Machen sich die in die Jahre gekommenen Schüler zu Tätern, wenn sie ihr Schweigen nicht brechen? Oder sollen sie doch besser Geheimnis und Schmerz immer in sich weitertragen? Wie gut soll man zum Bösen stehen? Aus gutem Grund nimmt deshalb immer wieder auf dem Sofa (unsichtbar aber gut sichtbar) das "katholische Erbe" Platz: die Verheißungen, das Abmahnen und Strafen, das Buße tun. Was für eine Last.
Missbrauch findet – abgesehen von dem am Theaterabend in Bozen erzählten – natürlich nicht nur in Klöstern und Pfarreien statt, auch in Sportvereinen, Musikschulen, in Familien, hinter Bühnenvorhängen oder auch in Kommunen mit freundlich daherkommenden Freigeistern, wie etwa das Beispiel Otto Mühl – er würde 2025 seinen 100. Geburtstag feiern – einst zeigte. Mit seiner Mühl-Kommune wirbelte er (mit Mittätern und Mittäterinnen die sein Tun deckten) gesellschaftspolitisch viel Staub auf. Zunächst Star einer neuen Zeit, wurde er später zum Täter, predigte seine eigene "Kirche", bis in den 1990ern sein Missbrauch an Minderjährigen aufflog.
„Wäre es nicht schön, wenn alle Lügen aufhörten?“ heißt es am Ende im Waltherhaus. Im Originaltext läuft Bilder von uns weiter, Täter und Opferrollen verstricken sich verquer und zwei weitere Bühnenprotagonisten scheiden aus dem Leben.
Der Beifall in Bozen ist verhalten. Verständlich. Die Darbietung ob der ganzen Tragik: erste Klasse.Articoli correlati
Culture | JubiläumsjahrDer Kultur auf der Spur
Culture | LiteraturLiterarische Zeugnisse
Culture | Salto AfternoonDie Macht der Einbildung