Economia | Verbandstreffen
Klares Jein zu Nachhaltigkeit
Foto: Seehauserfoto
Bei der diesjährigen Generalversammlung des Südtiroler Wirtschaftsrings (SWR) in der Messe Bozen war neben dem gegenseitigen Schulterklopfen der Wirtschaftsverbände und Landespolitik eine provokante Keynote auf dem Programm. Gehalten wurde sie von dem Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research, Harald Pechlaner.
Ich bin frech, wenn ich diese Frage in diesem Raum hier stelle.
Wie bereits von seinen Vorrednern SWR-Präsident Federico Giudiceandrea, Landeshauptmann Arno Kompatscher und Wirtschaftslandesrat Philipp Achammer betont wurde, stünden unsere Wirtschaft und Gesellschaft vor großen Herausforderungen, so Pechlaner. Angesprochen wurden etwa die Digitalisierung, der demografische Wandel, die Wohnungsnot in Südtirol und die globale Erderwärmung.
„Vor uns liegen unglaubliche Herausforderungen, vor allem im Bereich der Nachhaltigkeit: der ökologischen, der sozialen und der wirtschaftlichen. Eine Nachhaltigkeit, die alle drei Säulen berücksichtigt, kann jedoch nur durch technologische Entwicklung erreicht werden“, sagt Giudiceandrea. „Die Geschwindigkeit, mit der sich die Technologie, insbesondere die künstliche Intelligenz, weiterentwickelt, führt zu radikalen Veränderungen in unserer Wirtschaft. Wir erleben die Geburt einer echten industriellen Revolution, die erhebliche Auswirkungen auf alle Sektoren haben wird.“
Künstliche Intelligenz werde zusammen mit anderen digitalen Technologien beispiellose Möglichkeiten für Innovation, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit für Unternehmen bieten. „Um diese Vorteile voll ausschöpfen zu können, ist es jedoch unerlässlich, dass Politiker und Institutionen die Bedeutung der Digitalisierung erkennen und entsprechend handeln“, so der SWR-Präsident. „Wir müssen - und ich nehme das auf - schneller sein. Dann kann man Krisen in Chancen umwandeln und Wettbewerbsvorteile erreichen“, schließt Landeshauptmann Kompatscher an.
Während der technologische Fortschritt sich rasant weiterentwickelt, sinkt sowohl die Anzahl der Tier- und Pflanzenarten auf diesem Planeten als auch die Geburtenraten in Europa. Für Pechlaner lässt sich der demografische Wandel mit einem Versagen in der Sorgearbeit („Care“ auf Englisch) beschreiben. Denn es gebe nicht nur die produktive, sondern auch die sogenannte reproduktive Wirtschaft. „Es ist uns nicht gelungen, im Rahmen unseres Kapitalismus die Care-Funktionen so garantieren zu können, dass sie gesellschaftlich auch weiterhin in hoher Qualität angeboten werden können“, sagt Pechlaner.
Was der Wirtschaftswissenschaftler mit Fachbegriffen umschreibt, ist die schwierige Vereinbarung von Beruf und Familie, vor allem für Frauen, aber auch die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems und der Fachkräftemangel in der Pflege. Es brauche deshalb ein neues Verhältnis zu Sorgearbeit im Wirtschaftssystem.
Wirtschaft neu denken
Das führt zu der Frage, wie der wirtschaftliche Erfolg in einer Gesellschaft gemessen werden kann und soll. Ist es ein wirtschaftlicher Erfolg, wenn ein neuer Mensch geboren wird? Profitiert die Wirtschaft davon, wenn es weniger psychische Krankheiten gibt und ältere Menschen würdevoll umsorgt werden? Sollen Frauen in Zukunft fürs Kinderkriegen und Muttersein bezahlt werden?
Noch rühmt sich der SWR damit, dass Südtirol in Europa aktuell einen Spitzenplatz im Verhältnis des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Einwohner*in einnimmt. Das Wachstum des BIP galt lange als Indikator für Wohlstand. So aussagekräftig das BIP für die wirtschaftliche Nachhaltigkeit sein mag, desto schwieriger wird es, soziale und ökologische Nachhaltigkeit durch dieses etablierte Messinstrument der Wirtschaftspolitik zu beurteilen.
„Brauchen wir Wachstum? Und welches Wachstum brauchen wir? Ich bin frech, wenn ich diese Frage in diesem Raum hier stelle“, gibt Pechlaner vor den versammelten Wirtschaftsvertreter*innen zu. Schließlich brauche es Wachstum und damit einhergehend technologische Entwicklung auch heute, um Armut zu beseitigen, die Bekämpfung von Krisen zu finanzieren und die Staatsverschuldung in Grenzen zu halten. „Wir müssen aber aufpassen, dass wir die künstliche Intelligenz und die technologische Entwicklung als Ausweg sehen, um aus einer zum Teil misslichen Lage unseres Wirtschaftssystems herauszukommen - so einfach wird das wahrscheinlich nicht funktionieren.“
Außerdem berücksichtige das BIP keine qualitativen Nachhaltigkeitsaspekte. „Das BIP dient weltweit als Messgröße, um die Staatsverschuldung zu regulieren. Auf Ebene der OECD und der Vereinten Nationen wird aber bereits mit neuen Messgrößen, wie der Better Life Index oder der Human Development Index, gearbeitet. Das sind Versuche parallel zum BIP ein System zu finden, wie wir Wirtschaftsleistung messen, und einen Gedanken zu entwickeln, der Wirtschaft wesentlich breiter fasst als wir das heute tun.“ Beispielsweise zählen beim Better Life Index der OECD auch die Bereiche Wohnen, Gesundheit, Arbeitsplätze, Einkommen, Gemeinschaft, Bildung, Umwelt, politische Beteiligung und Kriminalität zu den Indikatoren.
Auch beim Klimaplan der Provinz soll eine alternative Messgröße zum BIP herangezogen werden. Landeshauptmann Kompatscher erklärt im Gespräch mit salto.bz: „Ich verwende gerne das berühmte Zitat von Ex-Minister Giovannini. Die Idee, den Erfolg von Staaten mit dem BIP zu messen, war eine der folgenschwersten Fehlentscheidungen der Geschichte der Menschheit.“
Das beste Beispiel dafür sei unser Land: „Sind wir Südtiroler*innen glücklicher, zufriedener geworden? Wohlstand haben wir ohne Zweifel, auch wenn es in Südtirol Menschen gibt, die Probleme haben, über die Runden zu kommen.“ Was das Wohlbefinden betreffe, gebe es aber noch viel zu tun, beispielsweise bei der Behandlung psychischer Erkrankungen. „Wir haben eine Gesellschaft, die an ihrem Leistungsdruck zerbricht und wunschlos glücklich sein will. Das Problem ist aber, dass nach jedem erfüllten Wunsch ein neuer kommt. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, welche Wünsche für unser Leben wesentlich sind. Ich meine das vollkommen ernst.“
In einer Zeit, in der die Schere zwischen Arm und Reich auch in Südtirol größer wird, könnten solche Worte aus dem Mund eines gut bezahlten Politikers der Regierungspartei auf Skepsis stoßen. Nicht umsonst ergab die letztes Jahr vorgestellte Umfrage von Eurac und ASTAT zu Nachhaltigkeit und Klimawandel, dass laut den Befragten für die soziale Gerechtigkeit noch am wenigsten getan werde: 65,3 Prozent der Befragten gaben an, dass zu wenig für soziale Gerechtigkeit getan wird. Im Vergleich dazu wünschten sich 59,2 Prozent mehr Engagement im Naturschutz und 24,6 Prozent der Befragten mehr Maßnahmen für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft.
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Einige interessante
Einige interessante Überlegungen von Herrn Pechlahner und dem LH. KI muss auch zu den großen Gefahren der Zukunft gezählt werden.
"Schließlich brauche es
"Schließlich brauche es Wachstum und damit einhergehend technologische Entwicklung auch heute, um Armut zu beseitigen"
Eine gerechtere Verteilung würde schon reichen, auch ohne quantitatives Wachstum, um die Armut, zumindest in Europa, zu besiegen.
Ich würde Südtirol jetzt
Ich würde Südtirol jetzt weder als kapitalistisch noch als liberal einstufen. Wohl eher als eine dirigistische Staatswirtschaft, und das auch nicht erst seit gestern. Schön ist’s aber zu sehen, wie man sich wichtige Fragen stellt. Noch schöner wär‘s, wenn ein paar konkrete Antworten formuliert würden.
Südtirols Kapitalisten und
Südtirols Kapitalisten und Kompatschers Lieblingsfloskel. Wie Feuer und Wasser, nur dass es eben nur eine Floskel ist.
In den letzten 10 Jahren sind diejenigen, die bereits reich waren noch reicher geworden und einige aus dem sogenannten Mittelstand in Richtung Armut abgedriftet. Dies alles während der Landeshauptmann wunderschöne Worte für Overtourism und seine Folgen findet.
Salto sollte seine Blattlinie überdenken.
1. Kompliment an die Autorin
1. Kompliment an die Autorin Anna Luther, welche hier die Reden und Inhalte dieser Wirtschaftsversammlung recht gut zusammengefasst hat.
2. Kompliment an Harald Pechlaner, der den Herren (und den 2% Damen) teils ziemlich konkret den Spiegel vorgehalten hat. Er hat mit Studien-Zahlen und guter sympathischer und bodenständiger Rhetorik ziemlich klar definiert was Sache ist. Sukkus: es gibt nicht die eine und einzige Lösung oder Vision für die Zukunft. Aber wir müssen eben Acht geben, dass wir uns die Zukunft nicht durch & mit Blödheit, Borniertheit und Egoismus komplett verbauen & versauen. Und ... Zitat Pechlaner: "Wirtschaftspolitik ist Sozialpolitik" ... oder hat er es umgekehrt gesagt?
3. Kompliment an LH Kompatscher, der sich seiner Rolle bewußt war und die Wirtschaftsbosse zwar nicht vergrämt, aber doch, augenzwinkernd, ermahnt hat.
Jetzt geht es eigentlich nur mehr darum, genau das konkret umzusetzen, was da größtenteils ins Mikrofon geplappert wurde. Das wäre inzwischen schon ein Anfang!
Keinen 10er gibts für die Moderation; Wer Landtagsabgeordnete (es waren deren viele) namentlich begrüßt sollte dann auch alle nennen und nicht den guten Gert Lanz vergessen ...
p.s.; Der Präsi Giudiceandrea scheint übrigens ein recht fitter Kerl zu sein. A bissl zu digital vielleicht, aber doch mit einem gewissen Sinn fürs Gute und ohne Angst gehackt zu werden. Mal Sehen ?!?