Ist das Kunst oder kann das weg?
In der kollektiven Auffassung sind Industriegebiete überwiegend negativ konnotiert – werden sie doch von der Lokalbevölkerung zumeist für nichts als lebensfremde Betonwüsten der Schwerindustrie erachtet, deren brüske Fassaden allenfalls von politisch aufgeladenen Parolen und grenzwertiger Symbolik geziert werden. Bezeichnet werden diese künstlerisch mehr als fragwürdigen Ornamente mit dem Gattungsnamen „Graffiti“ – einem Italianismus, welcher ursprünglich eine in Stein geritzte Schraffur bezeichnete, im Laufe der Zeit jedoch einen Bedeutungswandel durchlief und nun mehr oder minder die Gesamtheit an Gekritzel und Schmierereien im öffentlichen Raum bezeichnet.
Doch es geht auch anders, und so gilt geschmackvoll inszenierte Sprüherei in den USA spätestens seit Banksy als etablierte Kunstform. „Streetart“ ist mehr als nur triviales Gekritzel, dient die häufig bemerkenswert elaborierte und ästhetisch ansprechende Sprühkunst, bei der das Hauptaugenmerk auf der artistischen Ausgestaltung liegt, Szenekünstlern mitunter als Instrument süffisanter Gesellschaftskritik, die zum Schmunzeln anregt – und zum Nachdenken. Für den Volksmund ist und bleibt es jedoch „Graffiti“.
Inzwischen erfreut sich Streetart international größtenteils positiver Resonanz und ist mittlerweile in fast jeder Großstadt vertreten – auch in der hiesigen Landeshauptstadt, in der schmucke und technisch anspruchsvolle Wandmalereien die eingangs erwähnten tristen Fabrikfassaden verschönern. So werden einige vielbefahrene, vormals trostlose Hauptverkehrswege wie Buozzi- und Lanciastraße seit nunmehr einigen Jahren von ausdrucksstarken Eyecatchern flankiert und dadurch das industrielle Ambiente aufgewertet – hebt sich die bunte Streetart doch deutlich vom rohen Backstein ab und verleiht den archaischen Industriemonumenten einen ganz eigenen, aparten Charme.
Insbesondere stark befahrene Durchzugsstraßen wie Torricelli- oder Mayr-Nusser-Straße erfahren durch stilvolle Sprühkunst eine immense Aufwertung, besonders aus touristischer Warte. Streetart direkt in der Bozner Stadteinfahrt signalisiert nach außen hin Kosmopolitismus, Stilempfinden und Fortschrittlichkeit; man gibt sich gesellschaftlich à jour, will sich dem Zeitgeist fügen, aber dennoch bodenständig bleiben – das Konzept geht auf, ohne dabei einen hermetischen Einheitsbrei zu schaffen, an dem man sich schnell sattsieht; reicht die Motivik der Sprühereien doch von kafkaesken Obskuritäten über abstrakte Matrizen bis hin zu phantastischen Traumlandschaften. Auch finden sich bei genauerer Betrachtung Referenzen zur klassischen Literatur; die Szene besitzt Selbstironie, spielt mit Vorurteilen und fordert okkasionell den Intellekt des Betrachters heraus.
Organisiert und gefördert wird die Straßenkunst von dem Projekt „MurArte“, einer im Turin der 1990er-Jahre entstandenen Initiative, welche in Bozen vom Verein „Volontarius“ vertreten wird. Das Konzept dahinter ist gleichermaßen simpel wie genial: Die Gemeinde weist engagierten Jugendlichen ausgewählte Mauerabschnitte zu, auf denen sie sich künstlerisch frei austoben dürfen. Dadurch sollen lokale Talente gefördert und desolate Stadtviertel ästhetisch aufgewertet werden. Bislang nur für banales Gekritzel missbrauchte Wandflächen tragen nun ansprechende Sprühmalereien, dem vulgären Durchschnittsgraffiti wird der Nährboden entzogen; neue Schmierereien gehen in den farbstarken Kunstwerken schlichtweg unter. Fürder steigert diese popkulturelle Gentrifizierung die Akzeptanz des Durchschnittsbürgers gegenüber Streetart, stimuliert sein Stilempfinden und bringt ihn der Kunst à la Keith Haring und Shepard Fairey abseits des Mainstreams näher.
Streetart in den Straßen Bozens wirkt sich spürbar auf das Stadtbild aus; man entsinne sich beispielsweise an die Mayr-Nusser-Straße vor zehn Jahren, als sich der Fahrzeugverkehr noch durch die jetzige Fahrradunterführung zwängte, die angrenzenden Ufermauern des Eisacks karg und mit derben Sprüchen gespickt. Heute wird die Uferstraße von knalliger Sprayart gesäumt, auch die durch den Bau der breiteren Bahnunterführung entstandene zentrumsseitige Wandfläche ist ausfüllend bemalt, was besonders der stauanfälligen Stadtzufahrt ein gewisses Maß an Auflockerung zukommen lässt und gelangweilten Fahrern bisweilen eine willkommene Ablenkung bietet.
Doch es werden auch Gegenstimmen laut, welche sich gegen Streetart im öffentlichen Raum aussprechen und stattdessen unbemalte Wände begehren, sei ihnen diese Kunstform doch etwas zu progressiv. Letztendlich muss ein Jeder für sich selbst entscheiden, was er für nennenswerte, schützenswerte und pflegenswerte Kunst erachtet – die Übergänge zwischen Graffiti und Streetart sind fließend und die Geschmäcker verschieden.
Es gibt, zum Glück, in Bozen
Es gibt, zum Glück, in Bozen keine "ehemaligen" Stahlwerke. Diese Fabrik produziert immer noch und beschäftigt hunderte von Mitarbeiter. Die Stahlwerke sind sogar die zweiten "Steuerzahler" im Lande. Ausserdem, Komplimente für den guten Artikel