Picknicks, Siedler, Hungerstreiker

Auch nach dem Besuch von US-Präsident Obama und Außenminister Kerry ist in Palästina keine Aufbruchstimmung zu spüren. Nur wenige Menschen glauben daran, dass es Friedensverhandlungen geben wird, und noch weniger, dass diese zu einer Verbesserung der Lage führen könnten. Es gibt dringendere Sorgen.
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Beim Familienpicknick mit schwer bewaffneter Eskorte: Auch so treten Siedler in Erscheinung. Die antiken Ruinen von Sebastia im Westjordanland, ein beliebtes Ausflugsziel, sind an diesem Frühlingstag von der israelischen Armee umstellt, gepanzerte Jeeps riegeln die Zufahrtsstraßen zu dem malerischen Hügel ab. Doch es fällt kein Schuss, die Militäroperation hat einen gespenstisch-friedlichen Zweck.

Die Soldaten patrouillieren zwischen Picknickkörben und spielenden Kindern, und bewachen Touristengruppen, die andächtig historischen Ausführungen lauschen. So weit, so unschuldig. Nur: Die Touristen sind Vertreter der Siedlerbewegung, die Männer tragen Schusswaffen unter den Hemden, und die Botschaft des Ausflugs klar: Dieses Land ist unser, von Gott gegeben, und wenn wir schießen müssen, um hier picknicken zu können.

Es mag erstaunen, dass die Szene, mitten im Westjordanland, 12 Kilometer von Nablus, so friedlich bleibt. Natürlich deuten bereits die schweren Waffen der willfährigen Armee-Eskorte darauf hin, dass die Siedler bei den Einwohnern von Sebastia, allesamt Palästinenser, nicht willkommen sind. Aber die Ungezwungenheit der Siedler erinnert an Erzählungen aus der Zeit von vor der ersten Intifada, als Siedler unangefochten palästinensische Dörfer passierten, ja sogar dort einkauften.

Ein ortsansässiger Palästinenser, der Besitzer des kleinen Kaffees in Sebastia, grummelt, eine Schande sei dieser Picknick-Kolonialismus. Noch mehr, da, so geht zumindest das Gerücht in Sebastia, der Gouverneur von Nablus die Besucher vorher angekündigt habe, als „ausländische Touristen“ zuerst, und dann sogar als „israelische Friedensaktivisten“. Die Empörung über dieses falsche Spiel ist groß, denn Vertreter der Siedlerbewegung sind nur allzu häufig in gewaltsame Übergriffe verwickelt, wie auch Obama in seiner Jerusalemer Rede im März kritisiert hatte.

Die Siedlung von Shavei Shomron etwa, in Sichtweite von Sebastia am nächsten Hügel gelegen, sorgte im Februar dieses Jahres für Schlagzeilen, weil sie ihr ungefiltertes Fäkalwasser auf angrenzende Felder im Gemeindegebiet von Sebastia leitete. Und letzte Woche bestätigte der israelische Generalstaatsanwalt eine Entscheidung des Bildungsministeriums, der Jeschiwa in der südlich von Nablus gelegenen Siedlung Yitzhar den Geldhahn abzudrehen. Als Begründung führte er an, dass Studenten und manchmal sogar Rabbiner „während der Unterrichtszeit“ in "ernste und umfassende Gewalttaten gegen die örtliche palästinensische Bevölkerung und die Sicherheitskräfte“ verwickelt seien.

Die Siedlungen, deren Ausbau die israelische Regierung fortwährend unterstützt, sind allerdings nur ein Grund dafür, dass der Friedensverhandlungszeit, die in den Artikeln einiger Nahostkorrespondenten bereits angebrochen scheint, wohl wenig Chancen auf Erfolg beschieden sein werden. Gewiss, nach US-Präsident Obama kam Außenminister Kerry, und es werden bereits Bedingungen aufgestellt und Forderungen zurückadressiert.

Doch noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass diesmal für die Menschen in Palästina mehr herauskommen wird als das wiederkehrende Verkehrschaos, wann immer ein Präsident oder hoher Gesandter auf Stippvisite kommt.

Auch der Rücktritt des technokratisch-neoliberalen Premierministers Salam Fayyad am Sonntag wird in europäischen und amerikanischen Regierungsbüros wahrscheinlich mehr bedauert als hier in Palästina.  Er war Ansprechpartner und Erfüllungsgehilfe für eben jene Wirtschafts- und Sicherheitspolitik, die hier viele als gescheitert ansehen, weil sie das Grundproblem der Besatzung nicht löst, aber beim Sich-Damit-Einrichten auch zu Korruption und Repression führt. Ein Beispiel sind die zahlreichen Verhaftungen von Hamas-Mitgliedern durch palästinensische Sicherheitskräfte im Westjordanland, auch bei bloßem Verdacht oder Denunziation, jemand sei Hamas-Mitglied.

Viel drängender als erneute Friedensverhandlungen sind hier: Arbeitslosigkeit, Armut, die exorbitant hohen Kosten für Wohnungen, Lebensmittel. Oder: Die Lage der Palästinenser in israelischen Gefängnissen: 4.812 Inhaftierte sind es nach Schätzungen der NGO Adameer, darunter 219 Minderjährige.

Immer wieder führt der Tod oder die berichtete Misshandlung eines Häftlings zu Protesten, Kundgebungen und Zusammenstößen mit der israelischen Armee. Im Februar 2013 starb ein 30-jähriger Tankstellenangestellter, Arafat Jaradat, kurze Zeit nach seiner Verhaftung in israelischem Gewahrsam. Er war verdächtigt worden, Steine und einen Molotowcocktail geworfen zu haben; seine Familie ist überzeugt, dass sein Tod die Folge von Folter sei.

Am 2. April starb Maysara Abu Hamdiyeh, ein Häftling seit 2002, der an Kehlkopfkrebs gelitten hatte. Seine Verwandten werfen der Gefängnisverwaltung vor, dass ihm lebensrettende Behandlungen vorenthalten wurde. Nachdem sich die Nachricht von seinem Tod verbreitete, kam es zu wütenden Protestkundgebungen in seiner Heimatstadt Hebron.

Die Uniprofessorin Rula Abu Duhou hat selbst 9 Jahre im Gefängnis verbracht, nachdem sie als 18-Jährige während der Ersten Intifada verhaftet wurde und unter Zwang ein Geständnis unterschrieb; nun unterrichtet sie an der Hochschule Bir Zeit und setzt sich in der NGO Addameer für palästinensische Gefangene ein. Sie meint: „Wir Palästinenser sind über alles verschiedener Meinung: Wir sind für oder gegen Oslo (also die Abkommen von 1993 und 1995, Anm. d. Red.), für oder gegen Verhandlungen, wir streiten über die Wirtschaftspolitik, aber in Bezug auf die Gefangenen sind wir uns einig: Das Thema der Inhaftierten ist das einzige, dass alle Palästinenser, und alle politischen Gruppen, vereint.“

Dass die Frage der Gefangenen derzeit so virulent ist, hängt für sie mit zwei Gründen zusammen: „Nach Oslo haben sich die Haftbedingungen mehr und mehr verschlechtert; momentan sind so schlecht wie seit den 1970ern nicht mehr, Ernährung, Gesundheitsversorgung, Besuche, alles.“ Es gebe derzeit 25 Fälle von krebskranken Inhaftierten, denen die nötige Therapie vorenthalten werde; allein im letzteN Jahr seien 5 Palästinenser in Haft an Krebs gestorben.

Dazu kommt, dass seit dem Gefangenenaustausch vor eineinhalb Jahren, bei dem mehr als tausend palästinensische Gefangene im Gegenzug zur Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalits freikamen, viele Ex-Häftlinge erneut festgenommen wurden. Einer davon, vielleicht der bekannteste, ist Samir Issawi aus Jerusalem. Seit seiner Verhaftung im August 2012 ist er in den Hungerstreik getreten, der bis heute andauert; trotz Zwangsernährung ist er so geschwächt, dass er nach Angaben von Addameer in Lebensgefahr schwebt.

Rula Abu Duhou ist überzeugt, dass die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung dabei ist, sich anzuheizen. Das Schicksal der Häftlinge sei dabei ein zentrales Thema, aber nicht das einzige: „Die Lebensumstände hier verschlechtern sich zusehends, die Armut, die Inflation, die Bewegungseinschränkungen durch die Israelis, all das verlangt nach radikaleren Lösungen als sie von der Autonomiebehörde, oder von etwaigen Verhandlungen zu erwarten sind.“ Eher als um echte Verhandlungen gehe es der israelischen Regierung und den Amerikanern um bloßes Krisenmanagement.

Doch sie ist zuversichtlich: „Wir Palästinenser haben in der Vergangenheit gezeigt, wie man auf der Straße Politik machen kann. Dann sind uns die Menschen in den arabischen Nachbarländern gefolgt. Ich glaube, wir werden auch hier bei uns bald wieder Bewegung sehen werden...“

Es ist eine wiederkehrende Frage, mit wem man auch spricht in Palästina: Kommt die dritte Intifada? Und wie wird sie aussehen? Falls es denn zu einer erneuten Protestbewegung kommt, so kann es gut sein, dass sie sich, neben dem Widerstand gegen die Besatzung, auch gegen die palästinensische Autonomiebehörde selbst richten wird. Dagegen spricht der Umstand, dass diese 150.000 Angestellte hat, und umso mehr Familien von den durch sie geleiteten internationalen Geldern abhängen. Dafür spricht, dass sich ihre Funktion für viele genau darin erschöpft. Gegen die Siedler, die Bedingungen der Häftlinge, die Besatzung, kann sie wenig ausrichten.