Trutziger Archivar
Schauspieler Ernst Stötzner hat im Theatersaal des Walterhauses in Reihe M Platz genommen, sein Kollege Markus John auf einem Sessel im Mittelgang. Unvermittelt betritt indessen Henning Hartmann die Bühne und beginnt in belehrender Rhetorik mit seinen Ausführungen zu Geschichte und Geschichtsschreibung. Während er über jüngste Zeitgeschichte referiert, schmeißt er beiläufig die beiden Licht-Projektoren an, die im dezent eingerichteten Bühnenkubus mitunter als Leinwände dienen, um ab und zu historische Dokumente (und die Wahrheit) unter die Leute zu bringen. Ganz nebenbei wirft sich der/die Historiker/in in ein Frauenkostüm. Der Mann in Reihe M lauscht, ist aber plötzlich empört, lästert aus dem Publikumsraum Richtung Bühne und besteigt diese kurz darauf mit einiger Anstrengung. Er möchte was richtigstellen. Kollege John, der Mann im Mittelgang, wird dem selbsternannten "Bühnenstürmer" bald darauf folgen.
Es geht um das Erinnern und das Vergessen, sowie das sich Anpassen und das Mitlaufen...
Der für das Bühnenbild und die Regie verantwortliche Dušan David Parízek hat den Roman Trutz von Christoph Hein kongenial für das Theater adaptiert. Das Stück weiß mit einer kleinen Truppe an Bühnendarsteller*innen auszukommen, sodass die leicht verlängerte Theater-Doppelstunde (ohne Pause) im Walterhaus vor allem durch Kurzweil überzeugt. Es geht um das Erinnern und das Vergessen, sowie das sich Anpassen und das Mitlaufen. Und am Rande auch um das revolutionäre Piscator-Theater im Berlin der 1920er Jahre. Die Art und Weise wie der legendäre Erwin Piscator einst Theater dachte und umsetzte, kommt mit Trutz, knapp ein Jahrhundert nach Piscators Blütezeit – über Umwege – ins Bozner Waltherhaus. Die wenigen Bühnenelemente aus Holz, die Projektion historischer Dokumente und Fotos, das Spiel mit Licht und Schatten (und dem Publikum); das erinnert schon stark an das politische Theater der Weimarer Zeit. Als Beispiele zu nennen wären in diesem Zusammenhang das politische Propagandastück Revue Roter Rummel oder die monumentale Zeitrevue Trotz alledem! aus der Mitte der 1920er Jahre. Irgendwie erinnerte die Bühnenfigur Trutz auch an den Schriftsteller Franz Jung (Teil des Autorenkollektivs von Erwin Piscator und zwei Jahrzehnte später Häftling im Durchgangslager Bozen), dessen Stück Heimweh Trutz-Schauspieler Ernst Stötzner 1989 sogar als Regisseur auf die Bühne brachte. Es könnte aber auch einer der vielen anderen linken Autoren und Journalisten sein, die noch vor der Machtergreifung Hitlers journalistisch einwandfreie Rezensionen verfassten und plötzlich gar nicht mehr ins rechte Bild passten. Stattdessen schlugen die Nazis zu: nicht nur bei den Wahlen, sondern – wie auch bei Trutz – bei einem (un)gewöhnlichen Piscator-Theaterabend.
Mit Schwung und Witz werden in Trutz ernste Themen behandelt, die Schauspieler und die kurz nach Beginn hinzustoßende Schauspielerin Sarah Franke schlüpfen in viele Kostüme (Kamila Polívková) und Rollen, wechseln Mundart und Tonlage als wäre es das Normalste auf der Welt. Der aufmerksame Zuschauer ist Teil des Bühnenspiels, bleibt gefordert und sozusagen am Ball. Das ist gut so, geht es doch inhaltlich um viele "Spielbälle" in der Geschichte. Da fällt doch glatt auch der Satz, dass ohnehin alle Menschen wüssten, dass Wölfe Angst vor dem Feuer haben. Man denkt unweigerlich an die Propagandapresse aus dem Hause Athesia. Kurz. Dann geht das rasante Stück weiter.
An was soll bewusst erinnert werden? Was soll hingegen in Vergessenheit geraten?
Trutz ist Literatur und Zeitgeschichte in einer unterhaltsam umgesetzten Dramaturgie (Johannes Kirsten). Es geht den Macherinnen und Machern weniger um Zeitzeugen-Gesprächs-Theater, wie es die VBB in den vergangenen Jahren ein ums andere mal bemühte, sondern darum, Zeitgeschichte aus vielen Perspektiven griffig und mit etwas Biss zu erzählen.
Ganz nebenbei (und doch sehr vordergründig) spielt Trutz mit den Gegensätzen Erinnern und Vergessen. Der Hauptprotagonist, ein gelernter Erinnerungs-Junkie, wird am Ende Archivar eines drittklassigen Archivs. Klingt "zum Vergessen", ist aber genau das Gegenteil.
Habe es wohl verpasst, schade
Habe es wohl verpasst, schade!