Mein erstes Album
Vor genau zehn Jahren hat Carlo Speranza im Rahmen seiner Ausstellung in der Stadtgalerie Brixen ebendiese verschwinden lassen. „Ich habe zurückrestauriert und alles wieder in die Architektur integriert. Der Verlauf der Mauer beim Eingang war identisch und auch den Marmorlauf am Boden habe ich reproduziert.“ Durch Speranzas Einwirken war die Stadtgalerie von einem Tag auf den anderen sozusagen spurlos verschwunden. „Ich hab das über Nacht gemacht“, erzählt er und erinnert sich mitunter an die Bullenstreife, die während der Arbeiten des Künstlers weit nach Mitternacht vorbeikam und nachfragte, was der ihnen Unbekannte da wohl im Schilde führe. Speranza beschwichtigte und beteuerte, er mache „nur eine Ausstellung“. Sein Werk vollendet, setzte sich Speranza am frühen Morgen in die Bar gegenüber und beobachtete das Geschehen, die Reaktionen, die Aufgeregtheit mancher ortskundiger Passanten. Zehn Jahre später stellt Speranza wieder in einer Galerie aus. Dieses Mal bespielt er die Galerieräume von Alessandro Casciaro in Bozen. Und er behauptet: „Das ist meine erste Ausstellung!“
„Das ist nun meine erste Ausstellung in einem professionellen Rahmen, mit einer Verkaufs-Galerie“ präzisiert Speranza und vergleicht diesen Tatbestand in Bezug auf den Ausstellungstitel Self-titled mit den jeweils ersten Alben seiner Lieblingsbands. „Sehr viele Bands hatten bei ihrem ersten Album den Titel der Band auch für das Album gewählt. Ich sehe diese Ausstellung, in diesem Sinne, sozusagen auch als mein erstes Album.“ In Bozen zeigt Speranza Arbeiten aus seiner jüngsten Schaffensphase, also unmittelbar nach jenen Jahren, als er plötzlich von der Bildfläche der lokalen Kunstszene – „für ein Experiment“ wie er sagt – verschwand. Wie einst die Stadtgalerie in Brixen.
„Ich bin nicht verschwunden“, korrigiert er leicht verlegen, „ich habe vor ein paar Jahren die Entscheidung gefällt, dass ich aus vielen Dingen aussteigen möchte. Ich entfernte meine Profile im Internet und beendete die Accounts auf den diversen sozialen Plattformen.“ Er wollte für seine Kunst auch nicht mehr jene Dinge machen, „die – wie andere behaupten –, die man tun müsse. Etwa auf Ausstellungseröffnungen gehen. Werbung machen. Kontakte pflegen. Reden. Oder Netzwerken.“ Ihm gefalle Netzwerken nämlich „überhaupt nicht“, da es für das eigentliche künstlerische Schaffen „vollkommen unnötig“ ist. Viel wichtiger fände er, dass seine Arbeiten „gelingen und gut sind“, dafür gebe er alles.
Volle Pulle. Von 6 Uhr morgens bis 11 Uhr am Abend. Von Sonntag bis Samstag.
Das selbst auferlegte social distancing war für Speranza zudem ein Selbstversuch, mit welchem er der Frage nachgehen wollte, ob er nach jahrelangem Abtauchen, in vielleicht zehn Jahren, in der öffentlichen Wahrnehmung wohl gar verschwunden wäre. Heute kann er dies zwar nicht zu 100% belegen, auch wenn ein einladendes Feedback in Speranzas Jahren des Rückzugs von der lokalen Kunstwelt mehr oder weniger ausblieb. Er folgert daraus, dass wohl jene, „die sich nicht aktiv in den Kunstbetrieb einbringen, nachfragen, reden oder nett sind, auch nicht kontaktiert werden.“ Dieser kontaktlosen Zeit konnte Speranza dennoch etwas äußerst Positives abgewinnen: „Ich konnte in Ruhe professionell arbeiten und meine Arbeiten auf hohem Niveau fertigen.“
Will er mit seiner Haltung und mit seiner Kunst irritieren? „Um Irritation geht es mir nicht“, kontert er, „die Frage ist bei mir immer: Was passiert, wenn... Bei allem, was ich mache.“ In der Kunst könne er diese seine Fantasiewelt ausleben und darstellen, um eben „die Welt anders zu zeigen.“ Die besondere Sichtweise auf die Dinge haben ihren Ursprung in seiner Kindheit, sagt er: „Ich war immer überzeugt, dass man eigentlich alles anders machen kann.“
„Es geht um meine Arbeiten, um die Bilder aus meinem Kopf, die ich zu Objekten forme.
Dass er Talent für künstlerisches Schaffen mitbringe hätten seine Eltern bei ihm bereits als Kind entdeckt. So richtig zugelassen hat Speranza die Kunst allerdings erst viele Jahre und Jobs später. Eine erste Ausstellung mit kleineren Arbeiten stellt er im Buchladen in Bruneck auf die Beine. Es folgen Einladungen, Gruppenausstellungen, Erfolge, Rückschläge, An- und Verkäufe, Aufnahmen in Privatsammlungen, sowie das Hadern mit der Szene und mit sich selbst.
Und nun sein offizielles erstes „Album“, seine „erste“ Ausstellung. Speranzas Anzüge am Kleiderhaken fallen gleich ins Auge. Sie warten am Eingang der Galerie, sind aus Schleifpapier und stehen explizit für Speranzas Fragen: „Welche Spuren hinterlässt man als Künstler in der Welt? Und welche Spuren hinterlässt die Welt bei mir?“
Ob eine Harfe als Bogen, eine Scharfschützen-Trompete von Miles Davis, der Schlagring mit Zähnen oder die verschiedenen Melonen als auflockernde Erfrischung zwischendurch: Carlo Speranza begreift die Welt als Experimentierfeld und erfindet sich immer wieder neu. Bis zur nächsten Verschwindung.