Einwanderung. Debatte über Ungleichheit
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Dabei sind stets Einwanderung und Asyl zentrale Themen. Oder genauer gesagt: wie man sie verzerrt. Statt faktengestützten Diskussionen gibt es vor allem Pöbelei und Propaganda.
Die Flüchtlinge aus Syrien kamen: Das Boot ist voll.
Dann kamen die Flüchtlinge aus der Ukraine – das Boot ist nicht mehr voll.
Dazu kommt, dass die Allermeisten von uns nicht wissen, worüber sie reden. Es hilft, sich zunächst einmal die Geschichte der Migration vor Augen zu führen: Allein zwischen 1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent. Mitte des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die Flüchtlingszahlen in Europa höher als heute. In Europa, nicht weltweit. Neu ist auf dem alten Kontinent die außereuropäische Herkunft der Migranten. Und viele, ja, die meisten kommen legal. Die illegale Migration über die ständig gesprochen wird ist wesentlich kleiner als die legale Migration.
Ausschlaggebend für diese Entwicklung war der chronische Arbeitskräftemangel, denn ohne diesen wären die meisten Migranten nicht gekommen. Aber das war kein natürlicher Prozess. Vielmehr ist es eine Entwicklung, die durch eine Jahrzehntelange Politik zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktliberalisierung gefördert wurde, die das Wachstum prekärer Arbeitsplätze befeuert hat, die einheimische Arbeitnehmer nicht annehmen wollen. Die apokalyptischen Reiter des Neoliberalismus schufen, da das Wachstumsmodell nach „Ford“ in die Krise geriet, eine Alternative, in der die Ungleichheit dramatisch wuchs und riesige Niedriglohnsektoren entstanden.
Politiker von links bis rechts kennen diese Realität, aber sie wagen nicht, dies zuzugeben, aus Angst, als nachgiebig gegenüber Einwanderung angesehen zu werden. Stattdessen entscheiden sie sich dafür, auf politische Effekthascherei zurückzugreifen, die den Anschein von Kontrolle erweckt, in Wirklichkeit aber als Deckmantel dient, um die wahre Natur der Einwanderungspolitik zu verschleiern. Im Rahmen dieser Aktuellen Regelung wird immer mehr Migranten die Einreise gestattet, und die Beschäftigung von Arbeitnehmern ohne Papiere wird weithin toleriert, da sie den entscheidenden Arbeitskräftemangel ausgleichen.
Nein, die Migrationspolitik ist nicht restriktiver geworden, aber die Abschottung vor Asylsuchenden sehr wohl. Eine aktuelle Studie der Universität Oxford, die 6500 Migrationsgesetze in 45 Ländern zwischen 1945 und 2010 untersucht hat, kam zum Schluss, dass die Einwanderungspolitik für die meisten Migrantengruppen in den letzten Jahrzehnten liberaler geworden ist. In Deutschland z.B. wirkten 61% aller seit 1945 verabschiedeten Vorschriften mildernd, 35% restriktiver und 4 Prozent neutral.
Flüchtlinge, die die Vielfachkrise unserer Welt im fundamentalen Sinne verkörpern, werden dagegen zunehmend daran gehindert, die Europäische Union oder andere reiche Staaten zu betreten. Klar ist allerdings auch die Tatsache, dass Flüchtlinge und Migranten oft ineinander übergehen, oder dass Klimaflüchtlinge sich oft als Migranten ausgeben.
Die gegenwärtige Realität zeigt, dass wir Debatten über Einwanderung nicht von umfassenderen Debatten über Ungleichheit, Arbeit, soziale Gerechtigkeit und vor allem über die Art der Gesellschaft, in der wir leben wollen, trennen können.
Josef Lazzari