Cultura | Film

Was heißt schon "normal"

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl auf Besuch in Südtirol

Letzten Dienstag und Mittwoch war der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl in Südtirol zu Gast, um seinen 2014 herausgekommenen Film "Im Keller" zu zeigen und in der Bozner Dokumentarfilmschule ZeliG eine Masterclass zu geben. Der Rahmen war die 13. Ausgabe der vom Kulturverein Mairania 857 organisierten Dokumentarfilmreihe Docu.emme, als Partner traten die ZeliG, die BLS (Business Location Südtirol) und die FAS (Film Association South Tyrol) auf den Plan.


Zahlreich waren die Menschen am Dienstag Abend im Meraner Kulturzentrum erschienen, um den bekannten Regisseur live zu erleben. Einige mussten sogar draußen bleiben, so voll war der Saal um 20.45 Uhr schon, als Seidl kurz auf die Bühne trat. Nach dem Film stand er dem Publikum ausführlich Rede und Antwort.

"Im Keller" wirft einen Blick auf das mehr oder weniger geheim gehaltene Leben im Keller der ÖsterreicherInnen. Seidl dehnt die Idee des Dokumentarischen, die Räume und Szenen sind durchinszeniert. "Es gibt keine Wirklichkeit an sich, sondern wir machen sie erst", so Seidl. Er erschafft eine mit Hilfe des Kameraauges, eine, in der das Gewohnte sich ziemlich fremd anfühlt und das Fremde dann irgendwie vertraut.


Menschen bauen sich Keller, um dort ihre Freizeit zu verbringen, Feste zu feiern, ihre Lüste auszuleben. Wir sehen hier keine Werkzeug- oder Obstverarbeitungskeller, sondern unterirdische erweiterte Wohnzonen wie zum Beispiel die Stube einer der Protagonisten Josef O., die voller Nazi-Devotionalien steckt. In einer Szene sehen wir ihn mit den Mitgliedern seiner Musikkapelle am Trinken, in einer anderen erzählt er von seinem besten Hochzeitsgeschenk, einem gemalten Hitler-Bild. Wir lernen eine masochistische Caritas-Angestellte und eine Frau kennen, die mit ihrem Sklaven im Keller ganz besonders dominant sein kann. Ein Mann präsentiert seine im In- und Ausland erlegten Jagdtrophäen und erzählt vom Verzehr einer Warzensau im Mantel eines Wiener Schnitzels. Eine Frau besucht ihre lebensechten Puppenbabys, ordentlich in Schachteln verstaut, und hätschelt sie, als wären sie ihre eigenen Kinder. Eine Truppe von Männern unterhält sich über vermeintlich frauenverachtende Aspekte des Islam und unterhält sich mit Schießübungen.
Gewalt, Sex, Waffen, Jagd. Liebessehnsucht. In den Kellern lebt der Mensch seine Wallungen, so Seidl.

Es herrscht Festivalstimmung im Raum, das Publikum lacht, stöhnt und echot den Film. Offensichtlich finden es alle gut, dass es den Organisatoren gelungen ist, Seidl nach Südtirol zu holen. Dann lassen diese sich auch nicht lumpen, wenn er ganz divenhaft einen extra guten Wein vor Ort einfordert. Bemerkenswert ist, dass die Filmreihe Docu.emme immer kostenlos ist. Nur eine Box für freiwillige Spenden hängt am Ausgang - die leider viele Menschen willentlich komplett übersehen.

Der 1952 in Niederösterreich geborene Ulrich Seidl arbeitet sehr lange an den Filmen. Die Suche nach geeigneten Leuten dauert, nicht viele waren bereit, ihr Intimstes vor der Kamera zu zeigen. Das Outing eines Paares, das sadomasochistische Praktiken lebt, kann heutzutage immer noch den Arbeitsplatz kosten. Zwei Freunde von Josef O. wurden bei Erscheinen des Films als ÖVP-Gemeinderäte identifiziert - sie sind von ihren Ämtern zurückgetreten.
Der Regisseur will seine ProtagonistInnen nicht ans Messer liefern, nicht ausstellen oder über sie urteilen. Er ist kein Aufdeckungsjournalist. Seidl sucht das Vertrauen seiner ProtagonistInnen, nur so kann ein solcher Film gemacht werden. Über die Gestaltung und Weiterverarbeitung des Materials entscheidet aber er alleine, Kunst machen sei schließlich kein demokratischer Prozess. Mit diesem Film hofft er, dass sich die ZuschauerInnen selber Gedanken machen über ihre eigenen Keller, und damit meint er auch ihre Abgründe. Und dass die gezeigten Menschen und Geschichten gar nicht so weit weg von uns selber wären. Das Menschliche interessiert ihn dort, wo es ins Extreme geht. Normal gibt es nicht - denn wer über normal und unnormal urteilt, agiert höchstens von seiner eigenen subjektiven Position aus.

Der Dokumentarfilm "Im Keller" ist weniger schräg als Seidls Spielfilme "Hundstage" (2001) oder weniger hart als "Models" (1999) oder das Glanzstück "Import Export" (2007). Aber es ist auch ein schwieriges Unterfangen, die zwei verschiedenen Genres zu vergleichen.
Diese Kellerwelten sind private, abgeschirmte, mit Ausnahme der Volksoper, und oft eigenartig leer. Diese Leere begleitet einen auch nach dem Film noch ein wenig.