Società | Flucht
In Südtirol gestrandet
Foto: Elisa Brunelli / salto.bz
„Wir können nur darüber entscheiden, wie wir damit umgehen“, sagt Thomas Brancaglion. Der Bozner Gemeinderat vom Team K ist als Mitglied der ASGI (Associazione per gli Studi Giuridici sull' Immigrazione) seit langem in der rechtlichen Flüchtlingsberatung tätig und kennt die Situation von Geflüchteten in Südtirol aus erster Hand. Laut der europäischen Gesetzgebung und dem völkerrechtlichen Abkommen der Genfer Flüchtlingskonvention muss Italien Menschen aus Drittstaaten, die Möglichkeit geben, einen Asylantrag zu stellen und ihnen gegebenenfalls Asyl gewähren.
Wir hätten viel weniger Spannungen und Reibungen.
„Wenn irgendwo ein Krieg ausbricht, sind wir gesetzlich zu Solidarität verpflichtet und müssen die Konsequenzen, so gut es geht, verwalten“, lautet deshalb der Ansatz von Brancaglion. „Ob die Personen dann hier bleiben oder nicht, können wir nicht entscheiden.“ Das hänge sowohl vom Ausgang des Asylverfahrens ab als auch davon, ob sich sie hier ein Leben in Würde aufbauen können.
Alessia Fellin von der Caritas argumentiert in dieselbe Richtung: „Wir sollten darüber nachdenken, wie wir die Einwanderung am besten handhaben können, die seit einiger Zeit kein Notfall oder etwas Außergewöhnliches ist, sondern ein struktureller Zustand des Planeten und als solcher angegangen werden sollte. Die Herausforderung besteht gerade darin, die Ströme mit einer mehrjährigen und diversifizierten Strategie steuern zu können, die die legale Einwanderung für Asylberechtigte ermöglicht.“
Gründe dafür, die eigene Heimat verlassen zu müssen, gibt es neben dem Krieg viele. Diese müssen von den EU-Staaten geprüft werden. Zurzeit haben Flüchtlinge in Italien neben dem Recht auf Asyl, auch das Recht auf subsidiärem und besonderen Schutz, alles Varianten des internationalen Schutzes. Fellin betont, dass neben dem Krieg und der Gewalt auch ethnische, religiöse, rassistische, politische und kulturelle Verfolgungen zur Flucht drängen.
Zudem seien die gravierenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Weltregionen eine weitere Ursache: „Die Menschen suchen ständig nach besseren Beschäftigungs- oder Bildungsmöglichkeiten und versuchen, sich mit anderen Familienmitgliedern wieder zu vereinen“, so Fellin. Nicht zuletzt seien auch der Klimawandel und Umweltkatastrophen ein weiterer Fluchtgrund.
Kein Anstieg bemerkbar
In Südtirol sei ein Anstieg an Geflüchteten aus dem Süden oder von der Balkanroute laut Brancaglion noch nicht bemerkbar. Allerdings gebe es einen Anstieg an Menschen, die zuerst nach Deutschland, Österreich oder Skandinavien migrieren und nun nach Italien zurückkehren, um sich hier niederzulassen. „Sie haben sich in diesen Ländern oft weitergebildet und gearbeitet, sie verfügen also meist über deutsche Sprachkenntnisse und eine Ausbildung, etwa im Bereich Gastronomie und Altenpflege. Das sind Berufe, die in Südtirol gefragt sind“, so Brancaglion.
Zwar sind die Antragsteller*innen für Asyl laut der europäischen Dublin-Verordnung dazu verpflichtet, im EU-Land, wo der Antrag gestellt wurde, zu bleiben, werden sie aber nicht innerhalb der ersten sechs bis acht Monate in dieses Land zurückgewiesen, geht die Kompetenz für das Asylverfahren an das andere EU-Land über. „In den meisten Fällen geht die Kompetenz an Italien über“, so der Rechtsexperte für Migration.
Grund für die Rückkehr nach Italien, ist der Vorteil der italienischen Gesetzgebung, gleich nach der Antragstellung für Asyl arbeiten zu können. Das erleichtere es den Menschen sehr, sich in der für sie fremden Gesellschaft zurechtzufinden.
Kritik an dem Prozedere
Schwierigkeiten bereiten ihnen allerdings die Aufnahmestrukturen und das Prozedere in den Südtiroler Ämtern für Migration. In letzter Zeit werden in Südtirol die kleinen Aufnahmezentren (CAS) in der Peripherie geschlossen. Diese bieten den Menschen im Gegensatz zu großen Aufnahmezentren mehr Privatsphäre und auch die Möglichkeit, mit der lokalen Bevölkerung in Berührung zu kommen.
Ein aktuelles Beispiel dafür sei die Schließung eines Aufnahmezentrums im Unterland: „Leifers demoliert im Eilverfahren ein temporäres Zentrum mit 60 Plätzen, um einen Parkplatz in der Industriezone zu bauen, während in Bozen eine Turnhalle als Notunterkunft verwendet werden muss“, so Brancaglion.
Seit rund 30 Jahren ist Südtirol Ziel verschiedener Migrationsströme und wir leben seit geraumer Zeit in einer multikulturellen Gesellschaft.
Zudem verspäte sich die erneuerte Aufenthaltsgenehmigung aus Rom oft um ein Jahr. „Das bedeutet für die Betroffenen großen Stress, weil sie in dieser Zeit ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung unterwegs sind. Sie können zwar vorweisen, dass ihr Antrag auf Erneuerung gestellt wurde, aber viele Arbeitgeber kennen die genaue Rechtslage dazu nicht und sind skeptisch. Viele Arbeitsmöglichkeiten gehen so verloren.“
Außerdem kritisiert Brancaglion die Strukturen der Ausländerbehörden der Polizei in Bozen und Meran: „Es gibt keine Warteräume in den Gebäuden der Ämter und die Menschen müssen sich bei jeder Witterung früh morgens in die Schlange stellen, um ihren Antrag einzureichen. Meistens werden alle Termine für 8:30 Uhr ausgegeben und wenn man drankommt, kommt man dran.“
Südtirols Strategie
Wenn vieles besser organisiert wäre, würden nicht nur die Antragsteller*innen profitieren, sondern laut Brancaglion auch unsere Gesellschaft: „Welches Bild gibt eine Polizeistation ab, vor der 40, 50 Menschen den ganzen Vormittag warten müssen, um ein Dokument zu erhalten? Wir hätten viel weniger Spannungen und Reibungen, wenn die Aufnahme von Flüchtlingen besser und menschlicher organisiert wäre und auch deren Eingliederung in die Gesellschaft besser begleitet würde. Der Arbeitsmarkt braucht dringend Personal und Geflüchtete suchen meist eifrig Arbeit, da wäre eine begleitende Eingliederung höchst notwendig.“
Darüber hinaus kritisiert Brancaglion den Südtiroler Sonderweg in der Asylpolitik: „Nach wie vor verzichtet unser Land auf nationale und europäische Eingliederungs- und Begleitprojekte (wie SPRAR-SIPROIMI-SAI), welche zur Gänze finanziert wären und erfahrungsgemäß gut funktionieren. Im Rahmen dieser Projekte werden Flüchtlinge über einen Zeitraum von sechs Monaten von einer multidisziplinären Arbeitsgruppe begleitet, um zur sozialen und ökonomischen Selbstständigkeit zu gelangen. Stattdessen verharrt man auf misslungene Ansätze, welche mit unserem eigenen Sozialbudget finanziert werden.“
Ein erster Schritt in die richtige Richtung seien die verpflichtenden Sprach- und Gesellschaftskurse für Nicht-EU-Bürger*innen in Südtirol, um Familien- und Kindergeld zu erhalten. „So kann man Menschen, die aus dem Ausland kommen, Instrumente an die Hand geben, um sich hier zu orientieren. Meistens sind es Kleinigkeiten wie kulturelle Unterschiede, die aber zu Spannungen führen können. Allerdings ist die Verbindlichkeit für das Erhalten der Gelder fragwürdig und zum Teil diskriminierend.“
Auch Fellin appelliert, in Sachen Migration umzudenken: „Seit rund 30 Jahren ist Südtirol Ziel verschiedener Migrationsströme und wir leben seit geraumer Zeit in einer multikulturellen Gesellschaft. Leider haben wir oft die Vorstellung, dass es ständig Notfälle oder unerwartete oder außergewöhnliche Phänomene gibt. In diesem Sinne tragen auch die Medien sowie politische oder institutionelle Vertreter*innen nicht zur Aufklärung bei, es entsteht Verwirrung und Verunsicherung in der Bevölkerung.“
Herkunftsländer
Waren es vor kurzem vor allem Syrien, Afghanistan und Pakistan, kommen heute auch viele Menschen aus der Ukraine, dem Irak oder Iran nach Südtirol. Die Türkei bleibe hingegen weiterhin ein häufiges Herkunftsland von Flüchtlingen, die meist kurdisch sind. Zudem nehme die Flucht aus lateinamerikanischen Ländern zu. „Das ist eine Neuheit der letzten Jahre, weil in manchen Regionen Unruhen herrschen“, erklärt Brancaglion. Auch die Flucht aus afrikanischen Ländern sei weiterhin gegeben, wobei die Fluchtrouten über das Mittelmeer durch die europäische Grenzschutzpolitik immer schwieriger geworden seien. Im Jahr 2022 sind fast 1.400 Menschen im zentralen Mittelmeer gestorben und über 20.000 nach Libyen zurückgeschickt worden.
„Gerade weil das von Italien überwachte Mittelmeer nach wie vor eine der gefährlichsten Routen der Welt ist, könnten beispielsweise Projekte für humanitäre Korridore entwickelt und bewertet werden, die den Schutz von Menschenleben unter Einhaltung der geltenden Rechtsvorschriften ermöglichen. Andererseits wäre die Bereitstellung regelmäßiger Einreisen für Arbeitnehmer*innen auch ein nützliches Instrument zur Steuerung von Migrationsströmen, zur Vermeidung irregulärer Bewegungen und zur Bekämpfung von Menschenhandel und Ausbeutung“, erklärt Fellin.
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Es ist kein Geheimnis, dass
Es ist kein Geheimnis, dass die Quästur mit Passanträgen und Aufenthaltserlaubnissen überfordert ist. Vielleicht ergab es vor 100 Jahren Sinn, diese Angelegenheiten an die Polizei zu übergeben: es reisten sowieso nur die Wenigsten, von Flüchtlingsströmen war es keine Rede, der Staat wollte genau wissen, wer sich wo aufhält. Dieselben Regeln können nicht in einer mobilen Gesellschaft verwendet werden. Ein großer Teil der Anträge, sei es für Reisepässe, sei es für Aufenthaltserlaubnisse, könnte von zivilen Strukturen übernommen werden, beispielsweise, von den Gemeinden. Was spricht dagegen?
Eines spricht dagegen. Man sollte neue Leute einstellen, eine Horrorvorstellung in der Zeit des "balanced budget" und extremen Sparens. So landen Jungen mit sprachlicher oder juristischer Ausbildung in call centers um unser Leben zu verpesten und die Schlangen bei den "Ufficio Passaporti" und "Ufficio Stranieri" der Quästur werden länger. Eine sehr schlaue (nicht-)Entscheidung!
Ich habe manchmal die Gelegenheit gehabt, mit hohen Beamten im Innen- und Auswärtigen Dienst darüber zu sprechen. Allen war die Sache bewusst und hätten gerne was getan. Aber dann lässt es sich immer eine Regel aus einem Regio Decreto von 1928 finden, die dagegen steht. Und die Bürokratie hat keine Lust, diese Regel zu ändern oder neu zu interpretieren.
Willkommen im Italien des 21. Jahrhunderts!
Die überall wuchernde
Die überall wuchernde Bürokratie hat ihre Wurzeln im Misstrauen der Behörden gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Menschen in Not benötigen rasche Hilfe und effiziente Integration. Die kleinen Aufnahmezentren (CAS) in der Peripherie wären geignet, die Integration zu fördern und die Trostlosigkeit überfüllter Aufnahmezentren zu überwinden. Diese neu zu beleben wäre wichtig ! Wesentlich erschiene es mir auch seitens der EU, den Herkunftsländern der Flüchtlinge direkte Hilfen zur Arbeitsplatzbeschaffung und zur Verbesserung der Infrastrukturen anzubieten.