Welche Bildung ist relevant?
von Vicky Rabensteiner
Wer kennt ihn nicht, den Mythos des amerikanischen Traums, wonach es jeder ganz nach oben schaffen kann? Darin spiegelt sich die westliche Vorstellung, dass jeder in Eigenverantwortung sein Leben aktiv in die Hand nehmen kann und soll. Die Denklogik ist nach dem großen deutschen Soziologen Max Weber der abendländischen, christlichen Weltzuwendung entlehnt, die dem Einzelnen die eigenverantwortliche Überwindung der Diskrepanz zwischen Realem und Idealem zuschiebt. Dies kann sich auch als schwierig erweisen. Beispielsweise dann, wenn das eigene Fortkommen an formale Bildungsabschlüsse gebunden ist, die – in einer oberflächlichen Betrachtung unerklärlich - nicht vorgelegt werden können.
„Ein Schwerpunkt unserer Forschung ist die Analyse bildungsbiographisch relevanter Kontexte“, erläutert Annemarie Augschöll Blasbichler, unibz-Professorin und Leiterin des Forschungs- und Dokumentationszentrums zur Südtiroler Bildungsgeschichte. Eingebettet in die Fakultät für Bildungswissenschaften, stellt sich das Zentrum zur Aufgabe, Schule und Bildung in Südtirol in ihrer historischen Genese zu beleuchten, um derzeitige Erscheinungsformen zu verstehen.
„Einen markanten Abschnitt in Südtirols Bildungsgeschichte stellt sicherlich das Verbot des muttersprachlichen Unterrichts unter dem Faschismus dar“, so Augschöll Blasbichler. Die Kernaufgabe von Schule, Alphabetisierung, erfolgte ab 1923 in italienischer Sprache. „Als Aushöhlung identitärer Strukturen geplant und empfunden, erhielt schulische Bildung in der Folge eine negative Konnotation“, resümiert Augschöll Blasbichler.
Die Auflösung der muttersprachlichen Schule der deutschen Minderheit in Südtirol ist kein Einzelbeispiel in der Schulgeschichte. Viele totalitäre Regimes in europäischen und südamerikanischen Ländern gingen ähnlich vor. Auch in Australien wurden nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die deutschen Schulen zwangsweise geschlossen. Das Forschungs- und Dokumentationszentrum hat eine entsprechende Forschungszusammenarbeit mit historischen Bildungsforschern verschiedener Länder initiiert. „Die internationale Forschergemeinschaft fokussiert dabei auf die Frage, inwieweit sich die historisch bedingten Alphabetisierungsbeeinträchtigungen sprachlicher Minderheiten auf die Einstellung zu schulischer Bildung auswirken und transgenerational als solche übertragen werden“, präzisiert Augschöll Blasbichler.
Die Forschungen stehen noch in der Anfangsphase. Die ersten Ergebnisse für Südtirol attestieren die mangelnden Kompetenzen im Lesen und Schreiben von deutschsprachigen Pflichtschulabgängern in den Zwischenkriegsjahren sowohl in der Muttersprache als auch in der Schulsprache.
Zeugnis aus dem Schuljahr 1967
Formale Abschlüsse als Zugangsvoraussetzung
„Wir haben es geschafft, uns ohne schulischen Abschluss und mit beschränkten Kenntnissen in den Schulfächern den Herausforderungen des Lebens zu stellen“, so die retrospektive Beurteilung eines Südtirolers, Jahrgang 1925. Den Rahmen dafür bildete ein landwirtschaftlich geprägter Lebensraum, der die nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten über informelle Wege vermittelte.
„Ich habe auf dem Schulweg mehr Brauchbares als in der Schule gelernt“, zitiert Augschöll Blasbichler einen weiteren Zeitzeugen. Der Mann präzisierte seine Aussage damit, dass ihm die Eltern in der Früh eine Fackel als Lichtquelle mitgaben, und er so bei Sturm und Schnee lernte, das Feuer nicht erlöschen zu lassen und somit im Gebrauch zu verstehen. „Die Aussage verdeutlicht eindrücklich eine für die Zeit typische Wertung informeller versus formeller Bildung“, erklärt Augschöll Blasbichler.
Zeitgleich mit den prekären Schulerfahrungen in Südtirol steigt allerdings in westlichen Gesellschaften die Bedeutung schulischer Abschlüsse und Studientitel. Das Faktum trägt einer zunehmenden Verkomplizierung der Welt, auch aufgrund rasant zunehmender Wissensbestände, Rechnung. Gleichzeitig ist dieses Augenmerk auf formelle Kriterien eine Folge gesellschaftspolitischer Veränderungen hin zu demokratischer Teilhabe in verschiedenen Bereichen. Seit Auflösung ständestaatlicher Ordnungen stehen berufliche Karrieren in allen Bereichen grundsätzlich jedem und jeder offen. Die Selektion erfolgt über Qualifikationen, die in schulischen Ausbildungen über Zeugnisse und Studientitel attestiert werden. Die Schule wird zu einer konkurrenzlosen und nicht übergehbaren Instanz, die Wissen formalisiert und für alle erkennbar festhält.
„Für die deutschsprachige Bevölkerung in Südtirol zeigt sich die Relevanz formaler Bildungsabschlüsse als Zugangsvoraussetzung verglichen mit den italienischen Landsleuten oder dem deutschsprachigen Nachbarraum erst um Jahrzehnte später“, so Augschöll Blasbichler. „Geschuldet ist dies dem zeitpolitischen Kontext vor dem zweiten Autonomiestatut.“
In den letzten Jahren konzentrierten sich die Studien des Forschungs- und Bildungszentrums auf Lebens-, Lern und Arbeitsbedingungen von Schulkindern und Lehrpersonen in peripheren Gebieten. Dabei wurden Bildungsbiographien nachgezeichnet, bei denen schon aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen praktisch keine Chance auf den Erwerb eines Abschlusszeugnisses der Pflichtschule bestand. Als Beispiel führt die Expertin Kinder aus entlegenen Gebieten an, die aufgrund weiter Distanzen zur nächsten Mittelschule ihre Pflichtschuljahre in der Grundschule absaßen – und das noch in den 1980er Jahren. Als weiteres Beispiel nennt sie die bis in die 1970er Jahre praktizierte zeitliche Limitierung des Unterrichts in kleinen Schulen entlegener Weiler auf ein halbes Schuljahr.
Auch in diesem Zusammenhang ergibt sich für das Zentrum die vorher schon definierte Forschungsfrage: Wie spiegeln sich derartige Erfahrungen nachhaltig in individuellen und kollektiven Einstellungen zu Bildung wieder? Und in Anlehnung an die eingangs formulierte Einstellung: Wie kompensieren Personen mit derartigen Bildungsverläufen ihre vermeintlichen Benachteiligungen?
Academia #74 - Juli / Luglio 2016
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