Erinnern - aber wie?
100 Jahre sind vergangen, seit Italien nach seiner Kriegserklärung an Österreich am 23. Mai 2015 in den Ersten Weltkrieg eingetreten ist. Und obwohl Verteidigungsministerin Roberta Pinotti kein Verständnis dafür hat – ihre Anweisung, zum Gedenken an diesem Tag die Tricolore zu hissen, wird in Südtirol weitgehend ignoriert. Nicht nur von Landeshauptmann Arno Kompatscher, sondern auch von den meisten Bürgermeistern und Verwaltern der Südtiroler Gemeinden. In den drei Städten Bozen, Meran und Leifers, in denen die BürgerInnen am heutigen Pfingstsonntag zur Bürgermeister-Stichwahl gerufen sind, hat man sich für die Lösung Halbmast entschieden. Warum, erklärt beispielsweise die Titelverteidigerin der Leiferer Bürgermeister-Stichwahl Liliana di Fede auf ihrer Facebook-Seite.
„Die Regierung hat verfügt, dass am 24. Mai, am Tag des Eintrittes Italiens in den ersten Weltkrieg, am Rathaus die italienische Fahne ausgehängt werden muss. Als Bürgermeister der italienischen Republik werde ich dies tun. In Gedenken an die zahlreichen Opfer dieses Krieges, an die Opfer aller Nationalitäten, habe ich jedoch angeordnet, dass die Fahne vor dem Rathaus von Leifers auf Halbmast gesetzt wird. Am Nachmittag des selben Tages werde ich mich außerdem im Friedhof von St. Jakob einfinden, um dort der Kriegsgefallenen zu gedenken. Die Toten, Verletzten, Verstümmelten gehören nämlich zu den traurigen Abschnitten der Geschichte. Denn all diese Opfer, all die Toten, sind unser Fleisch und Blut. "
Während der unermüdliche Heimatbund-Obmann Roland Lang statt dessen das Aushängen der Tiroler Fahne mit Trauerflor nahelegt, betrachtet Historiker Leopold Steurer den Tricolore-Zirkus in der Sonntags-Ausgabe des Alto Adige aus einer anderen Perspektive. Er nimmt die, auch in seinen Augen wenig geglückte, Fahneninitiative zum Anlass, über den Umgang mit dem Krieg als Mythos und die Opferrolle der Südtiroler nachzudenken. Die Geschichte muss man kennen und vollständig erzählen. Sie nur zur Hälfte zu erzählen, bringt dagegen nichts, hat Claus Gatterer einst gemeint. Anders gesagt: „Wir können uns nicht immer nur jenen Teil der Geschichte herauspicken, der uns gefällt“, erklärt Leopold Steurer. Genau das würde aber sowohl auf italienischsprachiger wie auf deutschsprachiger Seite ständig betrieben, kritisiert er. Besonders hart ins Gericht geht der Historiker dabei einmal mehr mit den Schützen.
„Sie stellen sich als Antifaschisten dar, sind aber nur Anti-Italiener. Sie halten eine Nostalgie nach einem Südtirol hoch, das es nie gegeben hat. Sie haben nie die Verantwortung für eine Geschichte übernommen, in der die Südtiroler oft auf der falschen Seite standen. Sie sind sehr gefährlich.“
So wie die Schützengräben an der Piave auf italienischer Seite als Mythos missbraucht würden, wären es auf Südtiroler Seite die Dolomitenkämpfe und ein Weltmeistertitel im Opferdasein, wie Steurer meint. „Um eine schwierige Geschichte zu legitimieren, reicht es nicht aus, sich nur hinter einigen ihrer Aspekte zu verstecken“, sagt er. Schauen wir auch hin, was die Südtiroler 1916 über die Eindeutschung der Trentiner sagten, schauen wir noch einmal hin, wie bereitwillig Tausende von Südtirolern Hitlers Plänen folgten, schauen wir noch einmal das nur zwei Schritte entfernte Lager an oder die Vergeltungsaktionen an den Italienern, fordert Leopold Steurer heraus.
Wie kommen wir aber heraus, aus solchen Opfer- und Siegesmythen, mit denen auch die Gräben zwischen den Sprachgruppen aufrechterhalten werden? Als Beispiel nennt der Historiker ein Geschichtsbuch, das nun erstmals für die deutsche, italienische und ladinische Sprachgruppe verfasst wurde. Eine einheitliche Version von Geschichte, in drei Sprachen. „Solange dagegen nur jeder seinen Teil der Geschichte schreibt, und nicht über den eigenen Tellerrand hinausschaut, werden wir nie unsere Fehler und Verantwortungen verstehen.“ Und somit nicht aus der Geschichte lernen können. Eine Lektion, die uns an diesem heutigen Gedenktag wohl viel weiter bringt als das Hissen der Tricolore.