„Ich kann auch Nein sagen“
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SALTO: Herr Bischof, es ist Weihnachten. Sieht man in die Gesichter der Leute auf den Straßen, dann möchte man meinen, jeden Moment geht die Welt unter.
Bischof Ivo Muser: Ja, das ist das Tragische in der heutigen Zeit. Wir haben einerseits so viel – wobei: Es gibt heute auch sehr viel Armut unter den Menschen – aber der Großteil kann sich doch sehr viel leisten. Und trotzdem: Das trägt kein bisschen zur Zufriedenheit bei. Gerade an Weihnachten beschäftigt mich diese innere Haltung der Zufriedenheit doch sehr. Äußerer Wohlstand allein macht nicht zufriedener, nicht glücklicher und auch nicht erfüllter. Aber dann wiederum begegnet man oft Menschen, die so eine Tiefe, eine Dankbarkeit und eine Versöhntheit in sich haben, obwohl sie „weniger“ haben.
Vom Soziologen Hartmut Rosa stammt die Aussage „Demokratie braucht Religion“. Seiner Meinung nach schafft der Glaube nämlich den Raum, damit die Menschen in den Diskurs und in den Austausch treten können.
Wir sehen heute eine extreme Form von Individualismus, der sich dadurch ausdrückt, dass man glaubt, man schafft alles allein. Ich verteidige so sehr meine Freiheit, dass ich keinen anderen Menschen mehr brauche. Das ist die große Illusion und eine große Herausforderung für die Demokratie. Demokratie bedeutet Gestaltungsmöglichkeiten und viele Freiheiten, wie beispielsweise Wahlfreiheit oder Meinungsfreiheit. Diese müssen aber mit Inhalt gefüllt werden.
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Damit einhergeht aber auch Verantwortung.
Ja, andererseits nimmt aber auch das Fordern in unserer Gesellschaft zu, und zwar das Fordern von den anderen. Verantwortung heißt vor allem, dass man Teil dieses Sozialwesens, dieser Gemeinschaft ist und seinen Beitrag dazu leistet. Das ist ja das Wesen der Demokratie: Ich kann meinen Beitrag leisten, damit die Gemeinschaft mit Leben erfüllt wird.
Die Kirche könnte hier eine gewichtige Rolle spielen.
Das soll sie auch. Man muss allerdings dazusagen, dass wir zum Teil in einem sehr säkularisierten Kontext leben. In der Vergangenheit hat die Kirche oft Normen erzwungen oder eingefordert.
Weshalb man gerade ihren Anspruch auf die Deutungshoheit ablehnt?
Ja, auch, aber wir bekennen uns heute alle dazu, dass diese Vorstellung von Kirche eine anachronistische ist. Wir sind nicht mehr Staatsreligion und wir betonen das mit großer Freiheit. Der Erste, der sich darüber freut, dass er keinen Kirchenstaat mehr hat, ist der Papst selbst. Seitdem sind wir in unserer moralischen Autorität frei.
Und wer hat den Platz der Kirche eingenommen? Sind es nicht Ideologien, religiöse Gruppierungen und sogar politische Parteien, die heute die moralischen Sätze prägen und vorgeben, wie man zu sein hat?
Ich glaube, dass der Staat in seiner Funktion Werte braucht, die er sich selber nicht begründen und nicht geben kann – und die Kirche geben könnte. In dieser Auseinandersetzung befinden wir uns gerade. Das macht es sehr schwierig, aber gleichzeitig auch sehr schön: Zu diesen Werten, für die die Kirche steht, das Evangelium steht, die Botschaft Jesu steht, zu denen muss man sich frei bekennen. Wir können und wollen diese Werte auch nicht mehr von oben herab verordnen – wir appellieren an die Freiheit der Menschen und hoffen, dass sie entdecken, dass sie sinnstiftend sind.
„Ich glaube, dass der Staat in seiner Funktion Werte braucht, die er sich selber nicht begründen und nicht geben kann.“
Beispielsweise die Botschaft von Weihnachten, in der sich etwas vom christlichen Glauben verdichtet. Das hilft im Leben, schenkt Hoffnung, schenkt Sinn – es gibt Orientierung. Weil wir eingangs von den Menschen gesprochen haben, die traurig und ernst durch die Gegend laufen: Wo erleben Menschen heute noch Sinn? Ein Sinn, der trägt? Die größte Herausforderung, die sich die Kirche wie auch die Gesellschaft stellen muss, ist, diese Kraft der Gemeinschaft neu zu entdecken. Das Ich wird immer fetter – nichts gegen die persönlichen Rechte, das Ich soll nicht unterdrückt werden –, aber das Ich kann nur wachsen und reifen am Du und am Wir. Auch den Wert des Ichs erleben wir in der Gemeinschaft.
Indem dem Menschen eine sinnstiftende Aufgabe zugewiesen wird?
Allerdings, und da sind wir wieder bei der Freiheit, wird der Mensch heute nicht mehr dazu gezwungen, sondern er muss sich dafür entscheiden.
Viele sind mit dieser Entscheidungsfreiheit überfordert, sie sehnen sich nach einer Figur oder Institution, die ihnen sagt, in welche Richtung sie gehen müssen.
Ja, die Sehnsucht nach dem starken Mann ist heute wieder sehr groß. Im Grunde ist es aber ein Aufgeben der eigenen Mündigkeit und der Verantwortung, heißt: Ich delegiere – Führer befiel, ich folge dir. Möge es nie wieder zu solch extremen Schreckensereignissen wie während der Zeit des Nationalsozialismus kommen – die Tendenzen sind unverkennbar da.
Man spricht von einer Krise der Demokratie in der westlichen Welt, und das Misstrauen gegenüber Politik und Medien nimmt zu.
Wir beobachten ein grundsätzliches Misstrauen, aber auch hier ist es wiederum dieser sehr starke Individualismus, der die Gesellschaft prägt: Der Mensch neigt dazu, das eigene Ich zum einzigen Regulativ der Wirklichkeit zu machen. Wenn mir Dinge einleuchten, sind sie damit wahr.
Und wie kann man solche Menschen wieder erreichen?
In der Covid-Zeit konnten wir etwas Erstaunliches beobachten: Jede Autorität hat letztendlich abgedankt. Ob das nun die Politik war, die Wissenschaft oder die Medien. Eine der großen Herausforderungen, die sich für euch Medienschaffende stellt, ist, dass die Berichterstattung in einen Bereich auswandert, den niemand mehr kontrollieren kann, und zwar in den sozialen Medien. Wovon leben diese? Nur von der eigenen Subjektivität. Kein Name, kein Gesicht – aber dieses Ich macht sich zum Interpreten der Wirklichkeit.
„In der Covid-Zeit konnten wir etwas Erstaunliches beobachten: Jede Autorität hat letztendlich abgedankt.“
Eigentlich sollten Medien meinungsbildend sein. Wie bilden wir aber Meinung? Indem wir hören, in Dialog treten und kompromissbereit sind. Auch das gibt es nicht mehr. Es gibt leider oft nur mehr Behauptungen und große Schlagzeilen – nicht mehr die Suche und das Ringen um Wahrheit. Das gelingt aber nur im Dialog – und auch die Demokratie lebt vom Ringen um die beste Lösung. Man braucht die Meinung des anderen, auch wenn man sie nicht teilt, um zumindest die eigene Sichtweise zu schärfen und vielleicht auch zu korrigieren. Das Dialogische ist nicht mehr die Stärke unserer heutigen Gesellschaft. Das Dialogische, das Ringen, sich in die Augen schauen, diskutieren, durchaus auch kontrovers – das ist nicht das Problem. Das Problem ist der Anspruch, dass die eigene Meinung die richtige und wahre ist.
Wie gelingt es, den Raum für den Dialog wieder zu öffnen?
Indem jene Menschen, denen das ein Anliegen ist, ihren Beitrag dazu leisten. Ich bin zutiefst von der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Gewissensfreiheit und der Religionsfreiheit überzeugt – das bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Auch das ist eine große Herausforderung für unsere Kirche. Wir sind manchmal getrieben von der Angst, noch mehr Menschen zu verlieren. Wir sehen, wie die Kirchen zusehends leerer werden.
Es entsteht eine Art Vorsichtigkeit, weshalb sich die Kirche zu bestimmten Themen nicht mehr äußern will, aus Angst noch mehr Gläubige zu verprellen?
Genau – das ist eine große Falle, weil man Gefahr läuft zu resignieren. Und genau hier müssen wir ansetzen: Wir bieten unsere Botschaft in Freiheit, mit Freude, Hoffnung und Überzeugung an.
Der Hager-Benko-Skandal hat Südtirol erschüttert – mittlerweile hat beinahe jeder dazu seine Meinung geäußert. Wie fällt das Urteil der Kirche dazu aus?
Wir sollten nachdenken über den Wert des Verzichts: Darüber, dass weniger oft viel mehr sein kann. Wir sollten nachdenken über eine Ursünde des Menschen, und zwar die Gier, das „Immer-mehr-haben-wollen“. Wir sollten darüber nachdenken, dass man die Bodenhaftung verlieren kann, auch in der Einschätzung der Realität. Und das nächste Problem ist, dass wir immer Sündenböcke brauchen, um uns selbst freizusprechen. So funktioniert es aber auch nicht. Mich beschäftigt die gesellschaftliche Dimension, die zutiefst menschliche Dimension, die dahinter steht. Unsere Gesellschaft ist geprägt von Lobbyismus – man schließt sich an jene Gruppe an, wo man den größten Vorteil für sich selbst erhofft.
„Wir sollten nachdenken über eine Ursünde des Menschen, und zwar die Gier, das ‚Immer-mehr-haben-wollen‘.“
Das sind die eigentlichen Probleme. Wir dagegen sollten eine Lobby bilden im Hinblick auf die Schwachen – die anderen haben bereits eine. Es genügt mir nicht, dass wir wieder einmal mit dem Finger auf jemanden zeigen können und dass jetzt jeder sagt, dass man das doch immer schon gewusst hat. So einfach ist das aber nicht. Und zwar deshalb, weil wir glauben, dass das nichts mit uns zu tun hätte. Ich besuche manchmal die Insassen im Gefängnis. Das ist eine Parallelwelt. Mit unserem Urteil sind wir schnell bei: Die sollen für ihre Taten büßen und gehören weggesperrt. Aber so verändert sich nichts. Die Frage muss eigentlich lauten: warum sie und nicht wir? Warum bin ich nie in die Situation gekommen, in der ich mich vielleicht rechtswidrig verhalte? Natürlich kann ich sagen, dass ich nie stehlen musste, es auch nicht wollte, weil ich es nicht nötig hatte.
Sollten nicht Werte, Moral, innere Einstellung die übergeordnete Rolle spielen? In vielen Teilen der Welt müssen Menschen stehlen, weil sie Hunger haben und keinen anderen Ausweg sehen. Das soziale Netzwerk in der westlichen Welt sollte verhindern, dass gerade dieser Weg gewählt wird, und letztendlich entscheidet die Person doch selbst, ob sie um Hilfe bittet oder etwas nimmt, was ihr nicht gehört.
Wir sollten darüber nachdenken, ob das, was geschieht, vor allem im Bereich der Ökonomie, moralisch gerechtfertigt ist. Und hier sind wir wieder bei der Gier, der Hauptsünde in der traditionellen Auffassung von Moral, weil Gier der Auslöser für viele negative Erscheinungen ist. Der Mensch ist immer vor die Wahl gestellt – das macht das Menschsein aus, seine Freiheit, seine Würde und seine Last.
„Ich kann auch Nein sagen.“
Ich war heuer in Tansania, unter anderem auch in einem Nationalpark. In der Natur und der Tierwelt spielen Moral und Ethik keine Rolle. Alles ist letztlich ausgerichtet auf Leben und Tod. Wenn es den Tod nicht gibt, dann gibt es das Leben nicht. Aber wenn ein Löwe ein Zebra reißt, hat es keinen Sinn, von Sünde und Ethik zu sprechen. Der Löwe muss das tun, um überleben zu können – wir müssen es nicht tun. Freiheit ist unsere Würde und nur der Mensch kann nach dem Sinn des Lebens fragen. Im Gegensatz zum Tier können wir uns positionieren und entscheiden. Unser Verhalten ist eben nicht nur durch Instinkte geregelt, sondern auch durch die Vernunft: Ich kann auch Nein sagen. In unserer Gesellschaft wird uns eingeredet, was wir alles brauchen. Brauchen wir das wirklich? Wenn man sich zurücklehnt und nachdenkt, kommt man zur Erkenntnis, dass einem eigentlich nichts fehlt. Dann wird man zufriedener, gelassener und versöhnter, aber ich muss mir diese Zeit zum Nachdenken geben.
Wenn er wirklich ernst meint…
Wenn er wirklich ernst meint, was er da verkündet, arbeitet er eindeutig für die falsche Firma!
In risposta a Wenn er wirklich ernst meint… di Arne Saknussemm
Aber bei seinem Gehalt lohnt…
Aber bei seinem Gehalt lohnt es sich für ihn nicht, zurückzutreten…)
"Wenn man sich zurücklehnt…
"Wenn man sich zurücklehnt und nachdenkt, kommt man zur Erkenntnis, dass einem eigentlich nichts fehlt. Dann wird man zufriedener, gelassener und versöhnter, aber ich muss mir diese Zeit zum Nachdenken geben."
Weise Worte, gerade zur Weihnachtszeit.
Bravo!
Bravo!
MUSNER,wo bleibt die…
MUSNER,wo bleibt die versprochene und vertuschte Aufklärung der Missbrauchsfälle in Südtirol? SCHÄMT EUCH IHR HEUCHLER!
In risposta a MUSNER,wo bleibt die… di Günther Alois …
Also der Kommentar von G. A…
Also der Kommentar von G. A. Raffeiner ist m.M.n. der angemessenste.
Leider.
Viele richtige Worte vom…
Viele richtige Worte vom Bischof. Wenn es aber um das Misstrauen geht, macht er es sich zu einfach, indem er nur den Individualismus der Menschen anspricht. Gerade die Kirche sollte mit mehr Asche auf dem eigenen Haupt einen anderen Blick pflegen.