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Der Gewalt den Rücken zukehren

GEA leitet in Bozen die Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen und das Frauenhaus. Ein Gespräch mit der Präsidentin von GEA, Christine Clignon.
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Christine Clignon
Foto: Manuela Tessaro
  • Jede dritte Frau wird in ihrem Leben mindestens einmal Opfer häuslicher oder sexueller Gewalt, so eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO. Jede dritte – eine gewaltige Zahl. Und auch in Südtirol sieht es nicht anders aus. Was wird getan, um den betroffenen Frauen zu helfen? Ansprechpartner in Bozen ist mitunter die Sozialgenossenschaft GEA: Sie leitet die Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen und das Frauenhaus Bozen. Darüber hinaus bietet GEA Fortbildungskurse für alle an – von Polizist:innen bis zu Schulkindern. Im Gespräch mit Salto erklärt die Präsidentin von GEA, Christine Clignon, was genau GEA macht, welche Frauen am meisten von Gewalt betroffen sind und was sie sich für die Zukunft hofft. 

  • SALTO: Was macht GEA?

    Christine Clignon: Wir stehen an der Seite von Frauen in Gewaltsituationen und bieten ihnen Unterstützung an. Die Art der Unterstützung unterscheidet sich je nach Bedürfnis der Frau, das kann von der psychosozialen Begleitung bis zur Rechtsberatung gehen. 

    Welche Schritte gehen Sie ab, wenn sich eine Frau bei Ihnen meldet?

    Wenn sich eine Frau an uns wendet, wird als erstes eine Risikoeinschätzung gemacht: Wie gefährlich ist die Situation, in der sich die Frau befindet? Falls notwendig und von der Frau gewünscht, wird sie ins Frauenhaus aufgenommen.

    Was ist das Frauenhaus?

    Das Frauenhaus ist ein Gebäude an einer geheimen Adresse mit mehreren Wohnungen. Die Frauen werden dort aufgenommen und arbeiten gemeinsam mit ausgebildetem Personal und den anderen Frauen daraufhin, aus ihrer Gewaltsituation herauszukommen. 

    Was passiert dann?

    Das ist von Frau zu Frau unterschiedlich. Falls notwendig, organisieren wir eine Übergangsunterkunft. Es gibt hier keinen Standard, wir bieten ganz individualisierte Beratungen an, bei jeder Frau ist es anders. Die Beratungen zielen darauf ab, die internen und externen Ressourcen der Frauen zu stärken. 

    Interne und externe Ressourcen?

    Externe Ressourcen sind Aspekte im Leben der Frau, wie zum Beispiel das soziale Netzwerk, der Zugang zu einer Arbeit, zu einer Wohnung. Bei den inneren Ressourcen geht es darum, die Frau selbst wieder zu stärken - ihren Charakter, ihr Selbstvertrauen oder etwa ihre Beziehungsfähigkeit. 

    „Gewalt zielt darauf hin, die Frau zu annullieren, ihr Selbstbewusstsein zu zerstören“ – Christine Clignon

    Was für Frauen kommen zu Ihnen?

    Frauen aus jeder Gesellschaftsschicht wenden sich an uns - partnerschaftliche Gewalt ist ein übergreifendes Phänomen. Es betrifft Frauen unabhängig von ihrem Herkunftsland, ihrer Bildung, ihrem Alter, ihrer Sprachzugehörigkeit oder ihrer religiösen Konfession. Vereint werden die Frauen davon, dass die Gewalt durch einen Mann ausgeübt wird, der in 94% der Fälle ein Partner, Ex-Partner oder Familienmitglied ist – die anderen 6% sind Bekannte. Von den Frauen, die sich 2023 an uns gewandt haben, hat keine einzige Gewalt durch einen Unbekannten erfahren. Man sieht: Es ist sehr viel wahrscheinlicher, Gewalt in den eigenen vier Wänden zu erleben als auf der Straße. 

    Wie oft werden die Dienste von GEA in Anspruch genommen?

    GEA arbeitet v.a. mit Frauen aus Bozen und näherer Umgebung. In 24 Jahren haben wir 3548 Frauen angehört - 2023 waren es 336. Die Zahl der Frauen, die sich an die Kontaktstelle wenden, steigt ständig. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen: Bei Gewalt an Frauen gibt es grundsätzlich eine große Dunkelziffer, aber immer mehr Frauen in Gewaltsituationen wird bewusst, dass es so nicht sein darf und es eine Alternative gibt – und wenden sich an uns.

  • Die Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen ist ein sicherer und kostenloser Ort, an den sich betroffeene Frauen wenden können. Foto: casadelledonnebz.it
  • Das Thema Gewalt an Frauen ist in den letzten Jahren immer mehr in die Öffentlichkeit geraten – zeugt das von einem Fortschritt?

    Statistiken der ISTAT belegen, dass es durchaus Anzeichen einer kulturellen Veränderung gibt: Physische Gewalt in einer Beziehung wird weniger toleriert und die geschlechterbezogenen Rollenbilder verändern sich. Es ist allerdings ein sehr langsamer Prozess: Laut der ISTAT-Studie im Jahr 2023 halten in der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren 5% eine Ohrfeige für akzeptabel, 16% akzeptieren die Kontrolle des Partners über die eigene Kommunikation. Das hat mich sehr schockiert.

    Diese Zahlen zeigen, dass noch viel fehlt.

    Ja! Wenn wir von Gewalt an Frauen in einer Partnerschaft sprechen, sprechen wir von Kontrolle. Es geht darum, Macht auszuüben, indem man die Partnerin kontrolliert. Das fängt bei der Kommunikation an und geht weiter über die sozialen Kontakte bis zum Einkommen. Diese Zahlen sind besorgniserregende Anzeichen. Es gibt noch viel zu tun.

    GEA ist wichtig, um Frauen akut zu unterstützen. Doch leisten Sie auch Präventionsarbeit?

    Wir bieten rundum Präventionsmaßnahmen an. Einerseits richten sich diese an unsere Partner und Partnerinnen im Kampf für den Schutz der Frauen – also an Ordnungskräfte, den Sanitätsbereich, die Gerichtsbarkeit. Hier geht es spezifisch darum, in gewissen Situationen richtig zu handeln.

    „Es gibt immer noch viele Vorurteile, die sich quer durch alle Berufsbilder ziehen und eine effektive Bekämpfung von Gewalt an Frauen erschweren“ – Christine Clignon

    Weiters bieten wir Präventionsmaßnahmen in Schulen und allgemeine Sensibilisierungsmaßnahmen für Bürger und Bürgerinnen an. 

    Was ist hier das Ziel?

    Hauptziel in den Schulen ist es, die typischen Rollenbilder zu bekämpfen - das betrifft Mädchen und Jungen gleichermaßen. Wenn wir uns an die Allgemeinheit wenden, geht es v.a. darum, über Gewalt an Frauen aufzuklären und unsere Dienste vorzustellen. 

    Welche Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach notwendig, um die Situation zu verbessern?

    Ein interessantes Instrument ist die Konvention von Istanbul, die einen neuen Standard für den Kampf gegen Gewalt an Frauen gesetzt hat. Die Konvention wurde von Italien ratifiziert, aber bei Weitem noch nicht umgesetzt. Südtirol ist hier auch kein Vorreiter. Letztes Jahr gab es den Frauenmarsch: Da sind 2000 Frauen und Männer auf die Straßen Bozens gegangen und haben konkrete Forderungen an die Politik gestellt, darunter zum Beispiel die Einführung bindender Präventionsmaßnahmen in der Schule oder ein neues Frauenhaus für Bozen. Das wären Forderungen, die man in kurzer Zeit umsetzen könnte und mit denen Südtirol einen großen Schritt nach vorne machen würde.

    Wieso braucht es ein neues Frauenhaus in Bozen?

    Das aktuelle Frauenhaus hat nicht genügend Plätze. Das ist keine Neuigkeit, sondern bereits seit Jahren ein Thema. Es gibt immer wieder Versprechen, es gibt immer wieder Pläne, aber am Ende passiert nichts. Wir lassen keine Frau auf der Straße, wir weichen aus und finden alternative Lösungen, aber die sind nicht vergleichbar mit den Vorteilen des Frauenhauses.

    Italien befindet sich unter einer konservativen Regierung. Was sind die Aussichten?

    Die Tendenz dieser Politik, Frauen in einer ganz bestimmten Rolle wahrnehmen zu wollen und ihnen die Selbstbestimmung abzusprechen, ist klar ersichtlich. Eine rechtsorientierte Regierung ist sicher nicht förderlich für Menschenrechte allgemein und auch nicht für Frauenrechte. Wir müssen aufpassen, nicht das, was wir bislang erreicht haben, wieder kaputt zu machen.

    Ein Beitrag von Nathanael Peterlini.

  • 800 27 64 33

    So lautet die grüne Nummer der Kontaktstelle gegen Gewalt an Frauen. Die Nummer ist 24/7 erreichbar, der Dienst ist kostenlos und kann anonym beansprucht werden. Die Kontaktstelle befindet sich im Bozner Europaviertel im Neubruchweg 21, für kürzere Wartezeiten Termin vereinbaren.