Halbvergessenes jüdisches Leben
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Mit drei kurzen Impulsreferaten und einer zum Publikum offenen Podiumsdiskussion befassten sich Josef Prackwieser, Simon Terzer und Alexandra Budabin (als Referenten), sowie Federico Steinhaus und Jutta Kusstatscher in der breiter ablaufenden Diskussion mit einem viel zu wenig bekannten Aspekt der jüdisch-südtirolerischen Geschichte: das Alpine Schulheim am Vigiljoch. Es moderierte Guarnieri.
Ein zahlreich erschienenes Publikum – bis zuletzt wurden Stühle aufgestockt – zeugte von allgemeinem Interesse an den drei Gebäuden am Vigiljoch mit einzigartiger Geschichte. Bevor es aber zu den ehemaligen Sommerfrisch-Villen nach Lana ging, führte Eurac Researcher Joseph Prackwieser nach Brandenburg, wo sein Vortrag „Zur Geschichte der jüdischen Landschulheime im Exil, 33 – 38“ unter anderem vom dazu gemieteten ehemaligen Sommerhaus Einsteins seinen Ausgang nahm, als dieser bereits nach Amerika emigriert war. Als im April 1933 in Deutschland die Einführung des „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, einem der sogenannten Arierparagrafen, erfolgte, begann auch die Geschichte der Landschulheime in Exil, einem globalen Phänomen. -
Mit der zusehenden Verschlechterung der rechtlichen Lage für Jüdinnen und Juden in Deutschland – bis 1940 wurden etwa 2000 auf Marginalisierung und „Ausmerzung“ aus der „Volksgemeinschaft“ abzielende Gesetze verabschiedet – wurde der Wunsch vieler Eltern ihre Kinder in zu jener Zeit noch als „relativ sicher“ geltenden Ländern zur Schule zu schicken, akut. Das Wort „relativ“ sollte im Laufe des Abends noch häufig bemüht werden, zumal die Lage sich auch in Italien für Jüdinnen und Juden bis hin zur Erlassung der italienischen Rassegesetze im Jahr 1938, als die Schule am Jahresende schließen musste, zusehends verschlechterte.
Prackwieser unterstrich dabei das globale Ausmaß dieser Fluchtbewegungen jüdischer Personen ins Ausland, die auch im fernen Argentinien zur Gründung von Schulen führte. Das Alpine Schulheim am Vigiljoch hatte in Mailand, Florenz, Recco sowie am Gardasee artverwandte Schulheime, die allgemein einen reformpädagogischen Ansatz verfolgten, den Prackwieser der Zeit voraussah. Besonderen Schwerpunkt legte man auf praktische Handwerkstätigkeiten, Sport und Bewegung, sowie den Bezug zur umliegenden Natur am Joch und Fremdsprachen. Waren zu Beginn der Unterrichtstätigkeit im November 1933 noch Deutsch und Englisch auf dem Lehrplan, so kam bald gezwungenermaßen Italienisch dazu. Diese Ausbildung sollte die Kinder auch auf ein Fußfassen in der Fremde vorbereiten.Sehnsuchts- und Zufluchtsort VigiljochNach Josef Prackwieser gab Historiker Simon Peter Terzer, Mitautor des Raetia-Bands „Sehnsuchtsort Vigiljoch“ (nebst Maria Heidegger, Brigitte Mazohl und Gerhard Siegl) Auskunft zum aktuellen, wenngleich wohl nicht nur für ihn unzufriedenstellenden Forschungsstand zum Alpinen Schulheim am Vigiljoch und zur Lage der Quellen. Interessierte lud er außerdem dazu ein, das Schulmuseum in Bozen zu besuchen, welches Texttafeln zum Alpinen Schulheim am Vigiljoch umfasst. Es befindet sich im Lamplhaus, in der Rentschnerstraße 51 und kann samstags zwischen 15 und 18 Uhr besucht werden. Klammer zu. Lokale Quellen sind jedenfalls rar oder noch nicht gänzlich erschlossen, Terzer vermutet weiteres Material in den Archiven Südtiroler Gemeinden. Zum Stand der Forschung kommt ein, wie mehrfach betont wurde, deutlich datierter und in seinen Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechender Wikipedia-Artikel. Die Information wurde mehrheitlich von außen an Südtirol herangetragen, so wie auch die fotografischen Bildquellen des Abends mehrheitlich aus dem Schulmuseum Bremen stammen sollten.
Wikipedia hatte man unter anderem voraus, dass es mittlerweile gelungen ist, alle drei für das Alpine Schulheim angemieteten Häuser zu identifizieren. Am Anfang der von den früheren Studienräten Marie Günther-Hendel und Hellmut Schneider gegründeten Bildungseinrichtung, die bis zu 35 Kinder unterwies und sieben bis acht Lehrpersonen aus Deutschland beschäftigte, stand das Haus Frank, das ehemalige Sommerfrischhaus eines Meraner Primars, 1914 erbaut. Hans Franks Sohn Eberhart war gleichzeitig Schularzt am Vigiljoch. Im großzügigen Ess- und Wohnzimmer fand der Unterricht statt, im Turnraumanbau fanden sich nach Kriegsende noch einige Sportgeräte.Hinzu gemietet wurden bald die Häuser Singer und Zuegg, die einem jüdischen Zahnarzt aus Meran, sowie einem Südtiroler Industriellen gehörten. In letzteren beiden Häusern hatten die älteren Schülerinnen und Schüler nach Geschlecht getrennt, ihr Quartier. Kinder wie auch Lehrpersonen wurden regulär mittels Aufenthaltsgenehmigung gemeldet, Inserate für die relativ exklusive Schule (in vergleichbaren Institutionen konnte die Jüdische Gemeinde den Schulbesuch der Kinder subventionieren) schaltete man bis ins Frühjahr 1938, als sich eine wesentliche Verschlechterung der Lage abzeichnete. Wenngleich sich Hellmut Schneider täglich bei den Behörden in Lana zu melden hatte, blieben Inhaftierungen, wie etwa in Florenz, im Falle des Alpinen Schulheims aus. So belief sich das Schulgeld auf 900 Lire, oder 120 Reichsmark, was Josef Prackwieser auf etwa 1100 bis 1200 Euro im Monat umrechnet, als die Frage aus dem Publikum kam. So schwierig der Vergleich ist, für zwei Kinder gab es einen Preisnachlass auf 1900 Euro nach Annäherung.
Seinen Vortrag beschloss Simon Peter Terzer mit einer spannenden Quelle, „nicht frei von katholischen-antisemitischen Untertönen“ in welcher der Hilfspfarrer von Pawigl die Schließung des Schulheims kommentiert: „Unsere Judenkolonie, in den drei Villen, Frank, Singer und Zuegg, wurde 1938 durch die italienischen Regierungsgesetze aufgelöst, die Bewohner in alle Winde zerstreut. Pawigl selbst, als Lieferant von Butter, Milch, Eier und Holz und Gelegenheitsarbeiten in der Kolonie, verliert durch diese Auflösung sehr viel, ebenso das Hotel und die Bahn. Nun, Judenverfolgung ist halt mal modern und es müssen viele Unschuldige unter den Schuldigen durch diesen modernen Wahnsinn leiden.“ Weil sich der Geistliche auch gegen die Nationalsozialisten stellte, wurde auch er gegen Kriegsende verhaftet. Für die „in alle Winde“ verstreuten Bewohner konnte bis Jahresende ’38 eine Unterbringung gefunden werden, bei der Familie und Verwandten im Exil, oder aber auch an anderen Schulen von Großbritannien bis Palästina.Fast normale KindheitserinnerungenÜber einen weniger faktisch, aber emotional berührenden Aspekt berichtete die in Südtirol lebende New Yorkerin Alexandra Cosima Budabin, die an der Eurac zu Minderheiten forscht. Sie schöpfte aus Erzählungen, die die ehemalige Schülerin am Alpinen Schulheim Marianne Mosbach mit ihr und ihrer Mutter in New York teilte. Adina Guarnieri war zufällig auf die unweit von ihr wohnende Bekannte der Zeitzeugin gestoßen.
Budabin erzählte, wie Marianne, von der Mutter liebevoll „Mariannchen“ genannt, 1934 nur in Begleitung dreier weiterer Kinder mit dem Zug nach Bozen geschickt wurde, von wo es weiter nach Lana und schließlich mit der Seilbahn auf das Vigiljoch ging. Nach drei Schuljahren am Vigiljoch emigrierte Marianne Mosbach über die Schweiz und Frankreich in die USA. Dort erinnerte sie sich, in den Worten einer Lehrerin, an eine „warme, häusliche Atmosphäre“ für ein „gesundes, einfaches Leben in dem das akademischeund künstlerische Lernen gut mit praktischer Arbeit und Verantwortung zusammengebracht wird, wo der Einzelne seinen Geist und seine Seele frei entfalten kann“, so Alexandra Cosima Budabin.
Weiters gab es Musik, Kunst und Theater im Schulheim, sowie die Möglichkeit von Lehrern aus dem Tal in Holzarbeit oder etwa im Spiel der Geige unterwiesen zu werden. Auch Unterricht auf Hebräisch habe es gegeben, so Budabin. Freitagabende wurden am Vigiljoch als besondere Zeit, mit Musik und Lesungen begangen. Ein optionaler Schabbat-Gottesdienst mit dem traditionell gereichten Gericht Tscholent, sowie Traubensaft, ganz so wie jüdisches Leben auch etwa in New York stattfand, hatte Alexandra Cosima Budabin an der Erzählung besonders berührt.
Während den Abenden mit Ärzten, Musikern und Künstlern waren nicht nur Schülerinnen und Schüler willkommen, sowie die Lehrerbelegschaft, sondern auch die Öffentlichkeit. Einmal, so erinnerte sich Marianne Mosbach, wurde sogar eine Oper gegeben, an der die Kinder mit ausgebildeten Sängern in den Hauptrollen teilnehmen konnten: „Le nozze di Figaro“.Neben religiösem und kulturellem Leben war aber auch die bis heute verlockende Natur am Vigiljoch ein prägender Faktor für das Leben der Kinder. Von Wander-Exkursionen zeugen Fotos beim Rudern etwa am Montiggler See oder solche, die die Kinder beim Skifahren zeigen. Besonders die wenigen überlebenden Fotos, die ihren Weg zurück nach Deutschland fanden, zeugen von der – aus heutiger Sicht – bittersüßen Normalität im Alltag der Kinder und an eine erste, kurze Liebe. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb berichtete Marianne Mosbach Budabin auch von Einsamkeit, da es wenig Nachrichten aus Deutschland bis zum Schulheim schafften.
Marianne Mosbach verstarb 2023 hundertjährig, hatte als Kinderpsychologin gearbeitet und eine Familie gegründet. Sie war bis ins Alter von 90 Jahren noch am MET Museum aktiv und sprach bis an ihr Lebensende auch Italienisch.
Wir wollen Mosbach, mit kleinstmöglichem Umweg über Budabin, das letzte Wort in diesem Artikel lassen: „Ich habe einen Artikel über ihre Erfahrungen veröffentlicht, den sie sehr genossen hat. Nachdem ich ihn gelesen hatte, schrieb sie mir erneut: "Ich habe die Schule und meinen Aufenthalt dort nie mit dem Holocaust in Verbindung gebracht, aber natürlich ist es das: Alle Schüler wurden gezwungen, Deutschland zu verlassen, weil ihnen der Schulbesuch und die Teilnahme an allen Aktivitäten verweigert wurde, die Nicht-Juden offenstanden, wie zum Beispiel das Schwimmbad, Kino, Museum usw."“ Alexandra Cosima Budabin beschloss mit der Unterstreichung der Wichtigkeit solcher Erinnerungen und Gesten der Menschlichkeit in Zeiten der unmenschlichen Grausamkeit.Articoli correlati
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