Cultura | Salto Afternoon

Blaue Stunden

Mit eigener Handschrift und historischen Freiheiten will „Emily“ nicht nur die Brontë portraitieren, sondern auch die Einflüsse, welche sie auf die „Sturmhöhe“ führten.
Emily
Foto: Bleecker Street
Wer den deutschsprachigen Wikipedia Artikel zur 1818 geborenen, 1848 verstorbenen britischen Schriftstellerin öffnet, sieht bereits beim zweiten Satz (der sich in weiteren Recherchen bestätigen lässt), dass das mit der Geschichtstreue keine hohe Priorität hatte: „Emily Brontë veröffentlichte ausschließlich unter dem Pseudonym Ellis Bell.“ Eingangs und ausgangs verweilt das Kamera-Auge auf der mehrbändigen Ausgabe von „Wuthering Heights“, Brontës großem und einzigem Prosawerk, am Buchrücken mit ihrem bürgerlichen Namen gezeichnet.
Gut, zu erklären warum die Brontë Schwestern zeitlebens unter einem Halbpseudonym (welches die Initialen beibehält) veröffentlichten, wäre etwas weit in die Gepflogenheiten der Zeit hineingegangen und voraussichtlich recht trocken gewesen, aber darum geht es Regisseurin Frances O’Connor wohl nicht. Sie nimmt sich weitere Freiheiten: Für die im Film - recht explizit - gezeigte Liebesaffäre zum Vikar William Weightman ist der „Beleg“, dass dieser ausgiebig flirtete, von dem beim Bruder abgeschriebenen Tattoo „Freedom in Thought“ fehlt jede Spur und auch die Einnahme von Opium zum Zweck des Rausches ist auch nicht belegbar. Letztere ist aber zumindest plausibel, da Opium als Mittel gegen Tuberkulose verschrieben wurde, die im Film zwar nicht namentlich erwähnt wird, aber sowohl den Bruder Branwell dahinraffte, wie auch wenige Monate später Emily. Ohne Opium wäre der Film aber wohl eine gute Spur grauer geblieben.
Wurde Emily Brontë (Emma Mackey) auch nur 30, so zeigte sich O’Connor gewillt, die 130 Minuten in denen wir der jungen Erwachsenen folgen (in die Kindheit wird nicht zurückgegriffen), mit Rebellion und Leben zu füllen und eine gewisse emotionale Tiefe erahnen zu lassen. Fast möchte man an Goethes Selbsturteil über „Dichtung und Wahrheit“ denken, der sein semi-autobiografisches Projekt „Dichtung und Wahrheit“ als „Märchen“ bezeichnete. Für die märchenhafte Überzeichnung - gemeint seien hier keine Disney-Prinzessinnen, sondern Märchen mit Abgründen zur Erziehung durch Angst - bedient sich der Film bei modernen, oft überraschenden Schnitten, die gerade im Wechsel von dunklen Nachtstreifzügen mit dem Sorgenkind Branwell (Fionn Whitehead) auf grelles Tageslicht, oder von farbarmem Alltag auf Opium-gesättigte Blumenwiesen wechseln. Der Film wirkt, ebenso wie die Protagonistin, der er folgt, manisch und sinnlich. Diese Sinnlichkeit, oft in farbkorrigiertem blauem Licht und mit sehnsuchtsvoller Schwermut verbunden, zieht sich über zwei Stunden etwas und bedient sich auch beim einen oder anderen Klischee, um deutlich zu sein. Gerade anfangs wirkt das recht unbeholfen, dass die Brontë da im Gras noch die Halme einzeln betastet und mit der einen Hand eine Trockenmauer am Heimweg entlangfährt. Auch ist bei der Farbregie nicht immer die letzte Absprache mit den anderen Abteilungen erfolgt, so dass einzelne Einstellungen aus der durchkonzipierten Farbfolge ohne ersichtlichen Grund herausstechen: Auf einem Hügel - ein wiederkehrendes Motiv - der von einem blauen Bild ins nächste führt etwa, ist es immer sonnig. 
 
Emily
Emily: Ein Scharadespiel ist im FIlm zentral. Emily ist dabei von hinten zu sehen.​​​​​​​ Die Szene ist eine der überraschendsten im Film. | Foto: Bleecker Street
 
Ein starker, halb nach Kammerorchester, halb kontemporär gestalteter Soundtrack Abel Korzeniowski tut sicher sein Übriges um uns für das zwischen Restriktion und Rebellion pendelnde Leben der Schriftstellerin zu begeistern, am Ende kann er aber auch nicht über eine gewisse Überlänge hinwegtäuschen. Trotz, oder vielleicht gerade wegen angedeuteten Elementen einer Geistergeschichte, die es nicht gebraucht hätte und einem vorprogrammierten Beziehungsdrama mit William Weightman (Oliver Jackson-Cohen), welches man fast eine Stunde bevor es seinen Anfang nimmt bereits erahnt. Eine Reihe hinter mir hörte ich beim Abspann eine Frau zu ihrer Sitznachbarin sagen: „So viel Drama, allein will ich den Film auch nicht gesehen haben.“ und ich bin geneigt ihr Recht zu geben. In dem Film gibt es einiges, das auf den Magen schlagen kann und wenn man das Kino in Begleitung besucht, lässt sich darüber reden.
So wie er wurde, ist „Emily“ einmal schleppender, mal stürmischer Streifen, der sein Ziel knapp verfehlt. Es gibt dabei durchwegs einige, in Isolation betrachtet, starke Momente aber die Leiden der jungen Brontë sind irgendwo in einem Spagat verhaftet, der historischen Plausibilität auf der einen Seite. Für diese werden man am Ende noch Korrespondenzen verbrannt, um den Wunsch nach einer aus heutiger Sicht starken und rebellischen Protagonistin zu erfüllen. Zu wenig Zeit bleibt dem Film für Momente stiller Poesie, denn auch das spielt im Film eine Rolle, wenngleich kaum etwas von den Gedichten vorkommt: Emily Brontë war auch Dichterin und damit in den blauen Stunden zuhause.