Das Mysterium des Codex Buranus
Der Codex Buranus ist eine Sammlung von über 300 mittelalterlichen Liedern und Dichtungen, die wahrscheinlich um 1230 herum entstanden sind. Er wurde im Jahr 1803 im Zuge der Säkularisation durch Johann Christoph von Aretin im Bayerischen Benediktinerkloster Benediktbeuern wiederentdeckt. Durch die erste umfassende Edition des Bibliothekars Johann Andreas Schmeller im Jahr 1847 gelangte die Sammlung ins Blickfeld der Forschung; spätestens durch Carl Orffs Neu-Vertonung einiger dieser Texte in seiner weltlichen Kantate Carmina Burana gelangte die Sammlung zu weltweitem Ruhm. Trotz dieser über 200-jährigen Forschungs- und Rezeptionsgeschichte bleibt der Codex Buranus ein Mysterium, erklärt Professor der Universität Bozen Johann Drumbl: „Die Tatsache, dass die Texte mehrsprachig verfasst wurden ist eine der größten Faszinationen des Codex Buranus.“ Die Texte sind nicht, wie damals üblich, ausschließlich auf Latein verfasst, sondern wechseln sich mit dem volkstümlichen Althochdeutschen ab.
Neben den formell-sprachlichen Rätseln gibt es weitere Fragen, die sich die Forscher stellen: Wer sind die Autoren der Texte? Wozu und vor allem für wen wurde eine solche Sammlung überhaupt verfasst? Denn auch inhaltlich hebt sich die Carmina Burana von ihren zeitgenössischen Nachbarschriften ab. Innerhalb eines Werks stehen sich sowohl geistliche, als auch weltliche Texte gegenüber. Heidnische Mythen der Antike finden ebenso Platz wie Texte mit biblischen Referenzen. Manche Dichtungen enthalten moralische Ratschläge, andere beschreiben das Liebespiel in äußerst detaillierten Szenen und sprechen von Lebenslust, Spiel und Trank.
Somit geben uns diese Informationen ein aufschlussreicheres Bild über das damalige Europa und räumen mit dem Vorurteil des dunklen Zeitalters auf. Auch die Idee, das Geistliche sei getrennt von allem Weltlichem und der restlichen Gesellschaft verschlossen, wird mit der Carmina Burana wiederlegt: „Wir haben vom mittelalterlichen Europa eigentlich nicht die Vorstellung, dass die Leute so viel gereist sind. Aber sie sind viel herumgekommen, haben viel aufgenommen von den verschiedenen Orten und sich inspirieren lassen von fremden Kulturen. Das zeigt die Internationalität des Codex Buranus,“ erklärt Professor Drumbl.
Die sprachliche Vermischung zwischen dem Lateinischen und dem Althochdeutschen, die musikalischen Notationen sowie die Wortformen und Typologie der Handschrift weisen auf den Entstehungsraum südlich von Deutschland hin. Neuesten Kenntnissen zufolge, entstand der Text wohl in Südtirol, möglicherweise im Umfeld des Klosters Neustift bei Brixen. Vom 26.-28. Juli findet daher in Brixen eine Tagung statt, in der WisschenschaftlerInnen aus der Schweiz, Deutschland, England und Amerika über den Codex Buranus gemeinsam referieren und diskutieren werden. Denn, so weit der Ursprung des Textes auch zurück liegen mag, so weist er dennoch aktuelle Relevanz auf, meint Henry Hope, der Organisator der Tagung: „Die Relevanz des Codex liegt gerade in der Internationalität der Sammlung, jenseits von Sprach- und Kulturgrenzen. In den Zeiten von Brexit und erstarkenden Nationalbewegungen überall in Europa zeigt die Sammlung, wie fruchtbar die Auseinandersetzung und Integration des Fremden sein kann.“
Aber nicht nur kulturelle Offenheit, auch eine neue Form der Didaktik kann uns die mittelalterliche Sammlung lehren, meint Henry Hope: „Sollte die Sammlung tatsächlich im Schulkontext entstanden sein, betont sie die Wichtigkeit traditioneller geisteswissenschaftlicher Disziplinen im schulischen Unterricht: Literatur, Geschichte, und Musik. Unser heutiger Fokus auf die Naturwissenschaften kann sich von einem solchen ‚altmodischen’ Lehrplan inspirieren lassen.“
Somit steht die Tagung ganz im Sinne des Europäischen Jahrs des Kulturerbes. Unter dem Motto: Unser Erbe- Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft hat die europäische Kommission es sich zum Ziel gesetzt, das kulturelle Erbe den Bürgern näher zu bringen. Das neue kulturelle Gewicht, das Brixen nun durch die Verbindung zur Carmina Burana zukommt, soll in diesem Sinne ebenso stärker wahrgenommen werden. Denn der Codex Buranus gehört zum Weltkulturerbe, da er als Zeugnis mittelalterlicher Kultur und somit als einer der großen Kunstdenkmäler der europäischen Geschichte gilt.
Eine Besonderheit der Tagung ist die Interdisziplinarität. Zum ersten Mal versuchen ExptertInnen aus unterschiedlichen Disziplinen ihre Erkenntnisse zur Sammlung zusammenzuführen, um den Codex Buranus als Ganzes zu verstehen. „Bisher sind viele Fragen in der Forschung offen geblieben, bzw. gar nicht gestellt worden, weil einzelne ForscherInnen keine allumfassenden Kenntnisse und methodischen Fertigkeiten haben konnten. Die gemeinsame Arbeit versucht, dieses ‚Problem’ zu überwinden“, erklärt Herr Hope.
Die Tagung steht im Zeichen der Musikwissenschaft, da sie sich mit Liedern des Mittelalters beschäftigt, und soll daher musikalisch begleitet werden. Im Rahmen der wissenschaftlichen Tagung findet deshalb ein öffentliches Konzert der Gruppe Rumorum aus Basel statt. Das Konzert Sounding out the Codex Buranus. Thirteenth Century Songs from Brixen findet am 27. Juli um 20 Uhr in der Hofburg in Brixen statt.