Società | salto Gespräch

Was hätte Österreich tun sollen?

Der Politologe Anton Pelinka im Gespräch über das fremdbestimmte Österreich nach 1918 und die „Altlast“ Südtirol.
Anton Pelinka
Foto: Screenshot/okto.tv

Hätte es auch anders kommen können? Im Zeitfenster zwischen November 1918 (Kriegsende) und Oktober 1922 (Machtergreifung des Faschismus) hielten die Zeitläufte in Südtirol gewissermaßen den Atem an: Österreich-Ungarn brach auseinander, Italien war entschlossen, sich seine „Kriegsbeute“ zu sichern. Der Übergang Südtirols an das Königreich war längst ausgehandelt, doch bis 1922 gab es besonnene Ansätze, das traumatisierte Land behutsam in die neue Herrschaft zu überführen. Auch eine tragbare Autonomie-Lösung war im Gespräch: Die Zeit war zu kurz, um die Weichen anders zu stellen. Südtirols Geschichte nahm ihren Lauf, die tief gespaltenen Sprachgruppen leben bis heute nebeneinander her, gefangen in einem grundsätzlichen „Unbehagen“ am Narrativ des jeweils anderen.


„Die Zeit dazwischen | Il tempo sospeso“, herausgegeben von Ulrike Kindl und Hannes Obermair, beleuchtet die Zeit von 1918 bis 1922 in Südtirol. salto.bz veröffentlicht drei Gespräche, die der ORF-Journalist Patrick Rina dafür geführt hat.


Patrick Rina: Herr Prof. Pelinka, der November 1918 stellte einen Zeitenbruch dar: Tirol südlich des Brenners wurde von italienischen Truppen besetzt, in Wien wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen, die „Welt von Gestern“ zerbrach. Wie stark waren politisches Handeln und kollektives Fühlen in jenem Herbst von Orientierungslosigkeit geprägt?

Anton Pelinka: Europa insgesamt war von einander widersprechenden Interessen und den diesen entsprechenden nationalen und sozialen Narrativen geprägt. Für Österreich war wohl entscheidend, dass es kein (gesamt)österreichisches Narrativ gab: Es gab zwar ein (deutsch)österreichisches, mit dem konnten aber weder die Austro-Italiener, noch die Austro-Tschechen oder die Austro-Polen etwas anfangen – und die Ungarn erst recht nicht. Im „Rest“, der als Resultat des Vertrages von Saint-Germain Österreich werden sollte, gab es aber die von den (deutsch)österreichischen Abgeordneten des 1911 gewählten Abgeordnetenhauses vertretene Realpolitik, einen vernünftigen Pragmatismus. Und der führte zum Staatsvertrag von Saint-Germain 1919 und zum Bundes-Verfassungsgesetz 1920. Dieser Pragmatismus bestand auch in der Einsicht, dass man gegen die vitalen Interessen der Siegermächte nicht anrennen konnte und daher die Grenzen – auch und gerade die am Brenner – zu akzeptieren hatte.

Ideologische Gegensätze bildeten um 1920 das Ferment der österreichischen Gesellschaft: Die einen blickten hoffnungsvoll nach Berlin, sehnten den „Anschluss“ ans Deutsche Reich herbei, die anderen sahen im neuen Sowjetrussland ein auch für Österreich erstrebenswertes Modell. Wie konnte in diesem Spannungsfeld das Fundament einer Verfassung gelegt werden?

Die Verfassung von 1920 war der einzige große Erfolg der 1918 ausgerufenen Republik. Die Verfassung war ein vernünftiger Kompromiss: dank der zu diesem Zeitpunkt noch möglichen Bereitschaft zum Konsens – bei Sozialdemokraten und Christlichsozialen – und der Schlüssigkeit des Aufbaues der Verfassung, der „Eleganz“ (in den Worten Alexander Van der Bellens), die im Wesentlichen auf Hans Kelsen zurückging.

Übrigens: Auch Österreich-Ungarn hatte es abgelehnt, den Vielvölkerstaat einem Selbstbestimmungsrecht „der Völker“ zu unterwerfen

„Der Staat, den keiner wollte“ – der berühmte Titel des 1962 erschienenen Buches von Hellmut Andics ist längst zu einem geflügelten Wort geworden, für manche Zeithistoriker ist er aber bloß eine Phrase. War das kleine „Saint-Germain-Österreich“ tatsächlich ein von den eigenen Bürgern ungeliebtes, ja verachtetes Gebilde? Spiegelt Andics‘ Definition überhaupt die Bewusstseinskomplexität der Zwischenkriegszeit wider?

Grundsätzlich ja: Diese fremdbestimmte Republik, die freilich eine selbstbestimmte Ordnung hatte, war für alle ein Provisorium – zunächst für (fast) alle auf dem Weg in ein (zunächst noch demokratisches und republikanisches) Deutschland. Die kleine Kommunistische Partei träumte von einem Sowjet-Österreich, die große Sozialdemokratische Partei wollte die Fortführung der Republik in einem gesamtdeutschen demokratischen Sozialismus. Die Christlichsozialen wurden vom Bestreben geleitet, die Soziallehre der Päpste politisch umzusetzen – nötigenfalls auch gegen die Grundsätze der demokratischen Republik, und bei den Deutschnationalen verlor die Anschlusssehnsucht allmählich ihren demokratisch-republikanischen Charakter. Österreich war eigentlich nicht die kaum geliebte, real existierende Republik. Österreich war vor allem nostalgische Erinnerung an das Fin de siècle. In der Hochkultur waren Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und Hugo von Hofmannsthal Ausdruck dieser Nostalgie, und die „Silberne Operette“ – zum Beispiel jene von Franz Lehár – unterstrich dies in der Populärkultur.

Im Sommer 1920 kam es in Wien zum Bruch der „großen Koalition“ aus Christlichsozialen und Sozialdemokraten, die Konflikte spitzten sich zu. Die Parteien begannen, ihre Gefolgschaft zu „militarisieren“. Warum misslang ein demokratisches Miteinander?

Das Ende der „Großen Koalition“ schien zunächst Ausdruck demokratischer Normalität zu sein: Eine große Partei regiert in einer Koalition mit einer kleinen Partei, und die andere große Partei übernimmt die wichtige Rolle der Opposition. 1920 konnte nicht klar sein, dass diese – scheinbare – Normalität der erste Schritt in Richtung des Endes der demokratischen Republik werden sollte.

 

Staatskanzler Karl Renner reiste im April 1920 nach Rom, traf sich zu einer Unterredung mit Italiens Regierungschef Francesco Saverio Nitti. Renner betonte, die Republik Österreich vermöge „nicht einer Stütze zu entbehren, um nicht der Gefahr zu erliegen, welche sie umgibt“. Er hoffe, „in der königlichen Regierung Italiens den Halt zu finden, dessen er bedarf“. Wie stand es damals um das Verhältnis Wien-Rom?

Österreich hatte die Brennergrenze akzeptiert, besser: es hatte akzeptiert, dass es keine Alternative dazu gab. Die österreichische Politik war nun, das ja zunächst noch demokratisch-parlamentarische Italien zur Garantie einer weitgehenden, vor allem kulturellen Autonomie „Deutsch-Südtirols“ zu bewegen. Überdies war zu diesem Zeitpunkt Italien schon eine Art informeller Partner Österreichs gegenüber den Gebietsansprüchen Jugoslawiens.

Nitti unterstrich, Italien beabsichtige den Bewohnern des „oberen Etschtales“ eine Autonomie zu gewähren, „welche im weiten Ausmaße ihrer Nationalität und ihren besonderen Verhältnissen Rechnung tragen werde“. Renner bedankte sich daraufhin für diesen „hochherzigen Entschluss“. Der Rest der Geschichte ist bekannt. War Südtirol für die „junge“ Republik eine unliebsame „Altlast“ der kakanischen Konkursmasse? Oder entstand bereits die bis heute praktizierte Rhetorik der „Herzensangelegenheit“?

Nein, Südtirol war ganz gewiss nicht eine unliebsame „Altlast“ – aber was hätte Österreich tun sollen? Österreich musste akzeptieren, dass Italien den Preis erhielt, der 1915 mit der Entente vereinbart worden war – für seine Kriegserklärung an Österreich-Ungarn, und zwar ohne Rücksicht auf „Selbstbestimmung“. 1915, als Italien mit dem Vereinigten Königreich, der Französischen Republik und dem Russischen Kaiserreich den Londoner Vertrag schloss, war ja Wilsons Amerika noch neutral – und Wilsons hohe Rhetorik spielte für die Entente damals ebenso wenig eine Rolle wie für die Mittelmächte. Russland dachte 1915 nicht daran, seine polnischen Gebiete dem Selbstbestimmungsrecht zu opfern – und das Vereinigte Königreich hatte kein Interesse, Irland ein solches Recht zuzugestehen. Übrigens: Auch Österreich-Ungarn hatte es abgelehnt, den Vielvölkerstaat einem Selbstbestimmungsrecht „der Völker“ zu unterwerfen.

Die „Neue Freie“ Presse schrieb am 10. Oktober 1920, also am Tag der Annexion Südtirols an Italien: „Deutschsüdtirol ist die schmerzlichste Wunde, die das große deutsche Vaterland aus dem unglücklichen Kriege davongetragen hat“. Beim Durchblättern der österreichischen Tagespresse jener Zeit fällt aber auf, dass die Diskussion über den Kärntner Abwehrkampf publizistisch viel präsenter war als jene über Südtirols Zukunft. War die „Causa Südtirol“ 1920 außerhalb Tirols schon emotional beendet?

Die österreichische Regierung musste Tatsachen akzeptieren – und die eine war, dass die Siegermächte nicht an der Brennergrenze rütteln ließen. Die andere war aber, dass die Grenzfrage gegenüber Jugoslawien noch offen war. In dieser Frage konnte Österreichs Regierung etwas erreichen – auch mit Unterstützung Italiens.

Dem Narrativ von der Opferrolle Südtirols steht ein anderes Opfernarrativ entgegen

Italien befand sich zwischen 1919 und 1922 in einem Zustand der politischen Verwirrung. Über die „Faszisten“ hatte Österreichs Presse schon ab 1919 berichtet. Welche Rolle spielten das biennio rosso (1919–1920) und das nachfolgende biennio nero (1921–1922) in Österreichs politischer Debatte? Gab es Politiker und Parteien, die Sympathien für den aufstrebenden italienischen Faschismus hegten?

Faschismus war in und für Österreich zunächst ein rein italienisches Phänomen. Erst mit dem Aufkommen antidemokratischer Wehrverbände, in den späten 1920er-Jahren, erreichte der italienische Faschismus auch Vorbildwirkung für Österreich – eben für die zunächst noch regional völlig zersplitterte Heimwehrbewegung. Aber da sich diese zunehmend als faschistisch verstand und (mehrheitlich) die Regierung des „Bürgerblocks“ direkt oder indirekt unterstützte, waren die österreichischen Regierungen vor und nach 1930 erst recht nicht in der Lage, den italienischen Faschismus zu konfrontieren – von dem erst die Heimwehren und allmählich auch die Regierung abhängig waren.

Nach 1922 begann Südtirols „Leidenszeit“ unter dem faschistischen Regime. Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen entschuldigte sich im Oktober 2020 anlässlich des Festaktes zum 100-Jahr-Jubiläum der Kärntner Volksabstimmung für das von der slowenischen Minderheit „erlittene Unrecht und für die Versäumnisse bei der Umsetzung von verfassungsmäßig garantierten Rechten“. Würden Sie sich von einem italienischen Staatspräsidenten eine ähnliche Versöhnungsgeste gegenüber der deutschen und ladinischen Sprachgruppe Südtirols erwarten?

Ich würde mir eine ähnliche Entschuldigung erhoffen, aber ich erwarte sie nicht. Denn dem Narrativ von der Opferrolle Südtirols steht ein anderes Opfernarrativ entgegen – und das hängt mit dem deutschen Einmarsch in Italien und der Besetzung Nord- und Mittelitaliens ab Spätsommer 1943 zusammen. Zu diesem anderen Opfernarrativ zählt auch die Ausmordung der (deutschsprechenden) jüdischen Gemeinde Merans – nicht durch das faschistische Italien, sondern durch das nationalsozialistische Deutschland, das zu dieser Zeit Südtirol de facto annektiert hatte. Was vielleicht in ein, zwei Jahrzehnten möglich wäre, das ist die wissenschaftlich fundierte Konvergenz beider Opfernarrative und deren politische Anerkennung von beiden Seiten.

Faschismus war in und für Österreich zunächst ein rein italienisches Phänomen

Zurück zu Österreichs „Zeit dazwischen“. Welche Chancen wurden vor hundert Jahren verspielt? Hätte aus der einstigen „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Karl Kraus) ein Labor für die Demokratie, ja für einen Weltneubeginn werden können?

Die Chancen waren schon davor verspielt worden – spätestens 1914. Die Möglichkeit hatte existiert, das Habsburger-Reich in die „Vereinigten Staaten von Großösterreich“ zu verwandeln – mit hoher, vor allem (aber nicht nur) kultureller Autonomie für alle Nationalitäten, auch jenseits territorialer Grenzen wie etwa in Böhmen und Mähren, in Galizien, in Transsylvanien. Diese Chancen waren schon 1914 vertan – gescheitert an der Hegemonie der Nationalismen, vor allem des deutschen und des ungarischen Nationalismus.

In Ihrem neuen Buch mit dem Titel „Ein Hauch von Welt“ beschreiben Sie Österreich vor und nach der Zeitmarke Saint-Germain. Bis heute suche Österreich nach seiner alten Rolle in der Welt, nach seiner Bedeutung vor dem Ende des Habsburgerreiches. Woran machen Sie diese Diagnose fest?

Österreich hatte ein geradezu unverschämtes Glück, als es 1945 (und bestätigt 1955) als einziger mitteleuropäischer Staat die Chance bekam, Demokratie im Sinne liberal-pluralistischer Vorstellungen zu werden. Anders als nach 1918 hat die Zweite Republik Österreich diese Möglichkeit auch genützt. Bis 1990 ergab es auch Sinn, dass das demokratische Österreich diese von den Alliierten verliehene Chance mit dem Prinzip immerwährender Neutralität verband. Mit dem Ende der UdSSR und des Warschauer Paktes gibt der Anspruch, „Brücke zwischen Ost und West“ zu sein, nichts mehr an Sinnstiftung her. Österreich kann freilich seine Sinnstiftung als aktives Mitglied der Europäischen Union entwickeln, als Mitgliedsstaat, der sich vor allem für die Vertiefung der Union stark macht – und damit etwas erreichen kann, was 1914 und davor vertan worden war.

 


 

ANTON PELINKA
Geboren 1941 in Wien. Von 1975 bis 2006 Professor für Politikwissenschaften an der Universität Innsbruck, danach bis 2018 Professor of Nationalism Studies and Political Science an der Central European University in Budapest. Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorie, österreichische Politik- und Parteiengeschichte, Rechtsextremismus. Publikationen (u. a.): Vergleich politischer Systeme (2005), Die unheilige Allianz. Die rechten und die linken Extremisten gegen Europa (2015), Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938 (2017), Ein Hauch von Welt. Österreich vor und nach St. Germain (2020, mit Thomas Walter Köhler und Christian Mertens).