Palcoscenico | Literatur/Musik

„Chance, es noch einmal zu versuchen“

Heute ist Anna Maria Gheney aus Rom im Bozner Semiruralipark zu Gast. Im Gepäck hat die Tochter liberianischer Eltern Buch und Musik, auf „Pidgin“ und auf Italienisch. Fragen an die auch als Karima 2G bekannte Mehrfachkünstlerin.
Anna Maria Gehnyei, Karima 2G
Foto: Gabriele Gabry C Candiloro
  • SALTO: Frau Ghenyei, in „Il corpo nero“ bringen Sie uns Ihre Biographie näher. Wie wichtig waren für Sie, als Kind der so genannten „2. Generation“ die Traditionen und Geschichten Ihrer Eltern aus Liberia?

     

    Anna Maria Ghenyei:  Für mich war das wichtig. Wie bei allem, was einem die eigenen Eltern vermitteln ist es so, dass du es nicht mitbekommst. Dann gibt es einen Moment in dem das wichtig wird, und dann verstehst du das. Für mich war dieser Moment, als ich nach Liberia gereist bin. Da habe ich den Reichtum und die Gaben erkannt, die über die Erzählungen meiner Mutter aus Liberia zu mir kamen. Das war wichtig, denn auch wenn ich diese Kultur von klein auf gelebt habe, so habe ich sie wie ein Märchen erlebt, etwas, das weit weg ist und bei dem man sich nicht sicher sein kann, ob es stimmt oder ob es nur Märchen sind. Ich war inmitten dieser Natur, von der mir meine Mutter erzählt hatte und es gab sie wirklich. Das sind Orte, die für uns, die wir im Westen aufwachsen, unvorstellbar sind. Als ich auf der Suche nach einer Zugehörigkeit war, hat mich was meine Eltern, auch wenn nur mündlich, mit mir geteilt haben, getröstet. Wenn wir, auch als Italiener oder Italienerinnen, die Stimme eines Großvaters oder einer Großmutter hören, dann wiegt uns das in Sicherheit. Das alles war wichtig, weil es mich an ein Land herangeführt hat, das ich nicht kannte und auch an einen Teil meiner Selbst. Selbst wenn ich in Italien geboren wurde, ist Liberia doch, wie mein Vater mir gesagt hat, auch mein Zuhause.

     

    Sie würden Kinder von Migrantinnen und Migranten also raten, die Heimat ihrer Eltern zu besuchen?

     

    Ja, mir hat das sehr geholfen und ich empfehle es oft, wenn ich afrikanisch-stämmigen Personen begegne, die, wie ich, in Italien geboren wurden und dazu noch nicht die Gelegenheit hatten. Bei Kindern aus einer gemischten Beziehung ist es oft so, dass ein Teil dieser Abstammung in gewisser Weise abgelehnt wird. Dafür muss auch nicht zwingend ein Elternteil aus Afrika stammen, sie könnten etwa auch aus Rumänien, aus China oder von den Philippinen stammen. Mit Eltern aus einem fernen Land wissen viele nicht, was ihnen aus diesem Land fehlt. Mir hat die Reise nach Liberia sehr stark geholfen.

     

    Sowohl am Umschlagbild als auch im Titel ist der „schwarze“ Körper zu sehen. Mit welchen Hindernissen konfrontiert einen das Aufwachsen unter weißen Europäern, deren Körper das Schönheitsideal bestimmen?

     

    Mit Hürden und Hindernissen ist man leider täglich konfrontiert. Ich versuche in meinem Buch davon zu sprechen, wie man diese durchlebt. Es ist ein wenig wie bei den Olympischen Spielen: Ein Sportler oder eine Sportlerin bleibt vor einem Hindernis nicht stehen und es gefällt mir die Geschichten zu hören von denen, die hingefallen sind oder sich verletzt haben. Für sie ist das oft keine Niederlage, sondern eine Chance, es noch einmal zu versuchen. Vielleicht ist das ein perfektes Beispiel dafür, wie es ist, in einem schwarzen Körper zu leben. Von der Volks- über die Mittelschule und darüber hinaus kann es dir passieren, dass du das Haus verlässt und mit einem solchen Hindernis konfrontiert wirst. Nicht, weil diese Hindernisse Teil unser aller Leben sind, sondern weil dir ein zusätzliches Hindernis im Weg steht, weil du Schwarz bist. Da heißt es, anders umzugehen mit diesem Hindernis und es in gewisser Weise als Chance wahrzunehmen als davor stehen zu bleiben. Der Rassismus war für mich eine große Chance, diese Erfahrungen zu machen. Ich denke nicht, dass ich die wäre, die ich heute bin, ohne diese Erfahrungen.

     

    Um kurz bei Olympia zu bleiben: Ist es ein Zufall, dass von den Olympiasportlerinnen, die auch in Vorjahrein verdächtigt wurden, dass sie insgeheim Transfrauen wären, fast alle nicht-weiß sind?

     

    Sicher nicht. Der Fall Imane Khelif war auch nicht der erste, das zeigt uns die Geschichte der Olympischen Spiele. Wenn wir über Intersektionalität und Sport sprechen, dann gehen diese Angriffe immer gegen Frauen, die auch rassistisch angegriffen werden. Darüber müsste eigentlich mehr gesprochen werden, wie sehr Rassismus hier eine Rolle spielt, aber das passiert zu wenig. Das „Schöne“ daran ist, dass uns diese Athletinnen zum Teil gezeigt haben, dass sich auch diese Diskriminierung überwinden lässt und sie gewinnen können.

  • Anna Maria Gehnyei: Die Autorin hält es mit dem christlichen Gebot „Liebe deinen Nächsten“. Foto: Anna Maria Gehnyei

    Als Teil der Erziehung haben Ihre Eltern versucht, Ihnen, Zitat: „eine bedingungslose Liebe“ für weiße Menschen zu vermitteln. Ist Ihnen diese Liebe geblieben und ist sie 2024 verdient?

     

    Mehr als meine Eltern haben mir diese Liebe meine Ahnen mitgegeben. Das kommt für mich aus großer Ferne und wurde über fünf oder mehr Jahrhunderte weiter vermittelt, von vor dem Ende der Sklaverei. Darüber denke ich derzeit nach und habe das Gefühl, dass mich das zu einem neuen Projekt führen wird. Meine Eltern stehen dabei nur am Ende dieses Stammbaums. Manchmal mit Mühe, weil es nicht immer leicht fällt, haben sie mir die Liebe für alle Menschen und in besonderer Art für Weiße übermitteln können. Mit allem, was derzeit in der Welt passiert und auch in Afrika, das nach wie vor unter der Kolonialisierung leidet, braucht es meiner Meinung nach Vergebung. Das rate ich allen afrikanisch-stämmigen, zu vergeben. Es ist die einzige Möglichkeit, sich nach vorne zu bewegen.Es stimmt aber auch, dass es heute, immer durch den Westen, immer wieder zu Spaltungen kommt, wie etwa in Ruanda, Südafrika oder auch im Kongo, auch unter Schwarzen. Deswegen reden wir heute eher von einer universellen Vergebung.

  • Pidgin Sprachen

    Mischsprachen aus lokalen, afrikanischen oder asiatischen Sprachen mit vereinfachten Formen der Sprache der Kolonialherren. Der Begriff leitet sich vom englischen Wort für Taube, Pidgeon, ab.

  • Als Musikerin und DJ arbeiten Sie auch mit Ihrer Liberianischen Kultur verbundenen Elementen, wie Pidgin-English oder Work Songs. Helfen diese über die Musik auch dabei, sich mit Themen der Herkunft und des Rassismus zu befassen?

     

    Ich bin glücklicherweise nicht die einzige, die diese Elemente nützt. Derzeit gibt es einen exponentiellen Anstieg bei Künstlerinnen und Künstlern der zweiten Generation, verglichen mit der Situation, als ich meine ersten Veröffentlichungen auf den Markt gebracht habe, was 2014 war. Da sprechen wir aber nicht nur von der Musik, sondern auch vom Theater und etwa vom Tanz. Was mich von anderen unterschieden hat, war vor allem der Gebrauch des Pidgin-Englisch. Das ist für mich eine Möglichkeit, eine Sprache aufzugreifen, von der ich Angst habe, dass sie verschwindet, was in der zweiten Generation oft der Fall ist. Meinen Eltern war es sehr wichtig, mir ihr Pidgin-English zu vermitteln, weil es davon ja auch viele Arten gibt. Für mich war das Pidgin Englisch sehr unterhaltsam und es hat mir eine Möglichkeit gegeben, über ernstere Themen zu sprechen, die mir auch erlaubt haben, zu rappen und ein paar Zeilen zu reimen, was ich auf Italienisch noch nicht könnte, was mir aber vielleicht eines Tages gelingt. Es hat mir auch geholfen, ein Publikum im Ausland zu finden, was mir erst später klar wurde. In Italien kam das Interesse erst später und das wurde als eine Form des Protestes gesehen, dass ich in meiner „anderen“ Muttersprache gesungen habe. Es kommt auf die Situation an und wie ich etwas sagen möchte, für welche Sprache ich mich entscheide. Bei meinem letzten Projekt, bei dem ich Choreographin, Tänzerin  und Performerin bin, habe ich mich mit Pidgin English vergnügt, das aber auch mit Italienisch gemischt.

     

    Italien ist auch, was die Aufarbeitung seiner Kolonial-Geschichte anbelangt, noch lange nicht am Ziel. Tut sich da was?

     

    Es gibt da einige Expertinnen und Experten afrikanischer Abstammung, die sich weit mehr mit dem Thema befassen als ich. Meine Geschichte ist da doch etwas anders, als das, was zur Zeit des Faschismus passiert ist. Wenn Italien mit dieser Vergangenheit abrechnen würde - und ich spreche nicht von Schuld, oder Schuldgefühlen - dann wäre das eine Befreiung. Als Christin glaube ich wenig an Schuldgefühle und mehr an das Ablegen dieser Last. Italien könnte sich von dieser Vergangenheit abwenden, sich der Zukunft zuwenden. Wir müssen Hoffnung schöpfen und nach vorne schauen. Ich bin da vielleicht etwas philosophisch, aber das zeigen uns auch andere europäische Länder, dass es möglich ist, diesen Schritt zu tun. Es gibt jene, die nostalgisch sind und den Ideologien der Vergangenheit nachhängen, sowie jene, die sich davon trennen möchten. Wir sind in dieser Phase des Übergangs. Das dauert noch ein wenig.

  • Beginn der Veranstaltung des Semirurali Social Park im Bozner Semiruralipark ist, ab 18 Uhr mit der Buchvorstellung von „Il corpo nero“. Das Gespräch mit der Autorin führt Marina Della Rocca. Ab 20.30 Uhr wird Anna Maria Ghenyei als Karima 2G den Abend mit Musik ausklingen lassen. Der Eintritt ist frei.