Die Tücken der Wahrheitsfindung

In Diskussionen über Alternativ- und Komplementärmedizin, kurz KAM, aber auch über Pseudowissenschaften, werden von den Befürwortern oft dieselben oder ähnlich klingende Argumente bemüht, die sich aber, bei näherer Betrachtungsweise, als nicht haltbar herausstellen. Was folgt, ist eine kleine Auswahl:
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: RDNE Stock project / Pexels

1. Der Wissenschafts-Trugschluss

"Die Wissenschaft hat XY bis dato einfach noch nicht beweisen können. Wart's nur ab!" 

Diese Aussage zeugt von einem inhärenten Missverständis wie die Naturwissenschaft funktioniert. Tatsächlich gibt es so etwas wie "wissenschaftlich erwiesen" gar nicht. Wann immer also mit "wissenschaftlich erwiesen" geworben wird, sollte man misstrauisch werden. Naturwissenschaftler arbeiten nicht mit "Beweisen", sondern mit "Evidenz". 
Beweise sind final und binär, also entweder für alle Zeiten richtig oder falsch. Konträr dazu stellen wissenschaftliche Erkenntnisse aber nur "provisorische Möglichkeiten" dar. Eine Arbeitshypothese, welche ein beobachtetes Phänomen beschreibt, stellt nur die aktuell bevorzugte Erklärung im Vergleich zu allen anderen möglichen Erklärungen dar. Sie kann aber diesen bevorzugten Status ganz schnell wieder verlieren, wenn eine neue, bessere Hypothese gefunden wird, oder aber neue "Evidenz/Befunde/Hinweise" der Hypothese widersprechen und eine andere bevorzugt. Naturwissenschaftliche Theorien sind nie absolut falsch oder absolut richtig, sondern befinden sich in einem Spektrum dazwischen. Einige Theorien sind besser, glaubwürdiger und akzeptabler als andere. Es geht bei wissenschaftlichen Theorien also nicht um ein "entweder/oder" sondern um ein "mehr oder weniger". Kurz gesagt: Es geht um Wahrscheinlichkeiten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wissenschaft nie (!) die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Verfahrens (z.B. Homöopathie) absolut beweisen (verifizieren) kann. Was sie aber durchaus kann, und das ausgesprochen gut: Hypothesen überprüfen. Wenn also jemand behauptet, "Homöopathie wirkt gegen XY besser als ein Placebo", dann kann man dies relativ einfach testen und die aufestellte Behauptung (die Nullhypothese), mit der Angabe einer Wahrscheinlichkeit (!), bestätigen oder widerlegen (= falsifizieren). 
Es ist also z.B. durchaus möglich, dass Homöopathie besser wirkt als ein Placebo. Oder dass morgen die Sonne aufhört zu scheinen, oder die Schwerkraft aufhört zu wirken. Es ist halt nur sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich.

 

2. Das "Tu quoque" (du auch) Argument

"Ja aber XX% aller Medikamente der Schulmedizin wurden auch nicht auf Wirksamkeit geprüft und sind auch nicht evidenzbasiert."

Tatsächlich sind rund 20-30% aller konventionellen Medikamente/Präparate nicht evidenzbasiert. Aber das heißt im Umkehrschluss nicht, dass KAM automatisch oder gerade deshalb besser wäre; und schon gar nicht kann deshalb eine Wirksamkeit von KAM impliziert werden. Das Aufzeigen von Schwachstellen in einer Disziplin ist absolut wichtig, richtig und notwendig, macht aber nicht automatisch die Schwachstellen in einer anderen unvergessen. Anders gesagt: Nur weil die Schulmedizin Mängel hat, macht es die KAM nicht zur besseren oder gar zur einzig möglichen Alternative. So eine Strategie wird übrigens u.a. von Kreationisten verfolgt, die auf die Lücken der Evolutionstheorie hinweisen, um anschließend, ohne irgendwelche Belege oder Evidenz, den Kreationisums als einzig gültige Alternative vorschlagen. 

 

3. Anekdoten sind keine Evidenz

"Bei mir (bzw. einer mir bekannten Person) hat es aber funktioniert!"

Das ist ein typisches Beispiel einer Anekdote und weit entfernt von einer wissenschaftlichen Herangehensweise. Es kann ja durchaus sein, dass die Krankheit/die Symptome durch das angewandte, alternative Verfahren kuriert wurde; aber vielleicht war es etwas anderes, z.B. ein Kontext-Effekt (siehe weiter unten), der nichts mit KAM zu tun hat. Ich könnte auch entgegnen: "Ja, aber bei mir hat es nicht gewirkt und einem Freund von mir ging es nachher sogar noch schlechter als vorher". Wem kann ich also im Endeffekt glauben, wenn Aussage gegen Aussage steht? Soll ich das Präparat nun nehmen oder nicht? Der einzige Weg um diese Frage so objektiv wie möglich zu beantworten sind klinische Studien, die randomisiert, kontrolliert, methodisch sauber sind und doppelblind durchgeführt werden. (siehe auch http://edzardernst.com/2012/11/how-to-fool-people-with-clinical-trials/

 

4. "Wer heilt, hat Recht"

Das vermeintliche Totschlagargument der KAM Befürworter. Aber eben nur vermeintlich.
Edzard Ernst hat in der "Wiener klinische Wochenschrift" von 2009 einen Artikel dazu verfasst und so gut beschrieben, wie ich es nie im Stande wäre. Zu finden hier (aber ich vermute hinter einer Paywall  http://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs00508-008-1108-0.pdf)
Zusammenfassend läuft Ernsts Artikel darauf hinaus, dass ein Krankheitsverlauf bzw. eine Verbesserung der Symptome, nicht ausschließlich auf das verwendete [alternative/konventionelle] Präparat zurückzuführen ist. Ein Therapie-Effekt setzt sich immer aus mehreren Faktoren zusammen. Einige dieser Faktoren sind beispielsweise:

  1. der natürliche Verlauf der Krankheit,
  2. der Plazebo Effekt,
  3. die Therapeut-Patient-Beziehung,
  4. die Regression zur Mitte,
  5. der Hawthorne-Effekt (https://de.wikipedia.org/wiki/Hawthorne-Effekt),
  6. soziale Erwünschtheit (beschreibt den Umstand, dass Patienten häufig falsch positive Angaben machen, um einem empathisch wohlwollenden Therapeuten einen „Gefallen zu tun“).

Diese Effekte fasst Ernst unter dem Begriff der Kontext-Effekte zusammen. Im Gegenzug dazu wäre der spezifische Effekt der biologische/chemische/physiologische Wirkungsmechanismus des verabreichten Präparats. Ernst schreibt nun weiter, dass immer auch ein spezifischer Effekt zum scheinbaren Therapie-Effekt beitragen kann. Aber selbst bei völliger Abwesenheit eines spezifischen Effekts, ist aufgrund der großen Vielzahl der Kontext-Effekte ein positiver scheinbarer Therapie-Effekt nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich.

Hat also ein Geistheiler mit seiner Geistheilung Recht, nur weil er Dutzende von dankbaren Patienten vorweisen kann? Sicher nicht! Er hat sogar unrecht, denn, so Ernst:

 "seine therapeutischen „Erfolge“ beruhen nicht auf den Wirkungen seiner Therapie, sondern auf denen des therapeutischen Kontext. Für den Patienten ist dies letztlich belanglos, wird häufig behauptet. Für ihn zählt nur die Tatsache, dass seine Beschwerden gebessert sind. Ich meine, auch diese Annahme ist letztlich nicht richtig. Eine wirksame und gut applizierte Therapie basiert auf spezifischen Therapie-Effekten und auf Kontext-Effekten. Anders ausgedrückt heißt das, ein Therapeut betrügt seine Patienten um einen wichtigen Teil des scheinbaren Therapie-Effekts, wenn er statt einer echten eine Schein-Therapie verabreicht und so nur Kontext – nicht aber spezifische Effekte wirksam werden."

 

5. "Du bist einfach nicht offen für Neues und bist engstirnig."

Vielfach werden Menschen, welche KAM kritisieren, beschuldigt sie seien engstirnig, und dass sie sich einfach nicht für Neues begeistern können oder es von vornherein ablehnen. Diesen Personen kann man entgegnen, dass es wohl besser sei nicht einfach von vornherein alles zu glauben, was einem erzählt wird. Menschen, die alles glauben, ohne zu hinterfragen, sind schlichtweg leichtgläubig und naiv; und riskieren unter Umständen sogar ihre Gesundheit: z.B. dann, wenn eine Operation dringend notwendig wäre, der/die PatientIn sie aber auf den nächsten Vollmond verlegt, weil ihm/ihr gesagt wurde, dass Operationen unter Vollmond viel besser verlaufen würden (was sie eben nicht tun).

Erst wenn es für eine Behauptung genügend solide Evidenz gibt, sollte man sie als "wahrscheinlich wahr" akzeptieren. Je außergewöhnlicher eine Behauptungen aber ist, desto außergewöhnlich oder desto besser muss die Evidenz sein! Wenn mir also jemand erzählt er hat gestern einen Freund von mir gesehen, werde ich ihm/ihr das sofort glauben. Wenn jemand behauptet, er/sie habe Brad Pitt gesehen, dann will ich, je nachdem wie gut ich diese Person kenne, wahrscheinlich ein Foto sehen. Und wenn schließlich jemand behauptet, er/sie habe ein Alien gesehen, dann wird auch ein Foto nicht mehr als genügend Evidenz ausreichen. Im Gegenzug wäre jemand aber tatsächlich "engstirnig", wenn er/sie im Anbetracht neuer, und seiner/ihrer Theorie widersprüchlichen Evidenz noch immer an seiner/ihrer alten Hypothese festhalten würde.
Tim Minchin sagt dazu: "It is good to be open-minded. But not so open-minded that your brain falls out"

 

6. Der "natürliche" Trugschluss

"KAM ist natürlich, und etwas Natürliches ist weitaus besser und wirkt sanfter als die Chemiekeulen der Pharmaindustrie!"

Es gibt eigentlich keinen einzigen Grund zu glauben, dass ein Mittel besser wäre, nur weil es "natürlich" ist. Es gibt derartig viele, für den Menschen gefährliche, aber natürliche Giftstoffe in der Natur (z.B. Knollenblätterpilz, Würfelqualle, Wunderbaum, Tollkirsche), dass es durchaus als Glücksfall zu bezeichnen ist, wenn wir eine chemische Zusammensetzung in der Natur finden, die für den Menschen medizinisch von Nutzen ist. Auf solchen Funden der Kräuterkunde basieren übrigens viele wirksame (!) "Chemiekeulen" der Pharmaindustrie. Siehe z.B. die Geschichte der Acetylsalicylsäure, deren Ursubstanz in der Antike aus Weidenride gewonnen wurde. (Auch frage ich mich, ob homöopathische Inhaltsstoffe wie z.B. Arsen, Quecksilber oder Pikrinsäure gemeint sind, wenn von der "sanften" und "natürlichen" Homöopathie gesprochen wird.)

 

7. Das Galielo-Gambit oder das "non sequitur" Argument

"Auch die größten Entdecker [wurden] sehr oft und sehr lange als Verrückte abgetan und ausgelacht. Wer zuletzt lacht, lacht am besten".

Die implizite Annahme dieses Arguments ist, dass sich eine Hypothese, der (aus welchen Gründen und von wem auch immer) widersprochen wird, am Ende doch als richtig erweist. Es ist aber viel wahrscheinlicher, dass eine Hypothese, die mehrheitlich (von der Fachwelt) abgelehnt wird und/oder von Experimenten falsifiziert wurde, am Ende auch tatsächlich falsch ist. Wie eine Hypothese wahrgenommen wird (ob ich also darüber lache oder nicht) ist im Endeffekt wurscht. Was sie braucht ist interne Konsistenz (wie verhält sich also z.B. die Homöopathie im Angesicht unseres chemischen, physikalischen, biologischen Weltbilds) und gesammelte Evidenz.
Das meiner Meinung nach beste Gegenargument zum Galileo-Gambit: "Über Enrico, den Zirkusclown, hat man auch gelacht!"

 

8. Das "Argument der Antike"

"TCM gibt es seit Hunderten von Jahren und Homöopathie seit mehr als 200 Jahren. Da muss ja was Wahres dran sein."

Das Argument der Antike impliziert, dass etwas wahr ist, weil wir es schon immer so gemacht haben. Aber auch alte Ideen können sich später als falsch oder unvernünftig herausstellen. Die beiden Ideen, dass die Erde eine Scheibe oder gar das Zentrum des Sonnensystems ist, sind viel älter als jene, dass sie eine Kugel ist und um die Sonne kreist. Man kann also nicht damit argumentieren, dass eine ältere Idee zwangsläufig die bessere ist. (Genausowenig wie eine neuere Idee automatisch die bessere ist nur weil sie neuer als alle anderen ist).

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Frank Blumtritt Mar, 07/30/2013 - 22:44

dein Exkursus gefällt mir ausgesprochen gut! Dem habe ich eigentlich nicht viel hinzuzufügen.
Das Besondere an der Medizin sind eben genau die beschriebenen Kontext-Effekte, typisch für das komplizierte Lebewesen Mensch, das eben allein schon durch seine Fähigkeit zur Meinungsbildung und Selbstentscheidung einen (schwer nachweisbaren) Einfluss auf seine biologische Gesamtheit hat, von der Psyche ganz zu schweigen. Und so wird auch der Begriff "Gesundheit" schwer definierbar.

Mar, 07/30/2013 - 22:44 Collegamento permanente
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David Gruber Mer, 07/31/2013 - 12:16

Lass mich auf deine 3 Anmerkungen der Reihe nach eingehen:

add Studiendesign: Eine gute Studie sollte auch immer reproduzierbar sein, sprich eine andere Forschergruppe sollten anhand der veröffentlichten Daten und des Papiers die selben Messungen durchführen können und ein ähnliches oder vergleichbare Ergebnis finden. Je sauberer die Ursprungs-Studie war, im Sinne ihrer Methodik, desto sicherer kann ich mir des Ergebnisses sein; sprich: Der Fehlerbalken des Konfidenzintervalles (oder eben die Standardabweichung) wird kleiner, je besser die Studie ist.

add Geld: Geld, oder jedweder andere Interessenskonflikt, ist ein großes Problem. Das habe ich aber auch nie verneint. Man muss sich dieser impliziten Verzerrung bewusst sein. Wie du ja auch weißt, müssen die Forscher am Ende der Publikation auch ihre Interessenskonflikte kundtun (ob sie das auch machen, ist eine andere Frage). Dass eben gerade Pharmakonzerne (und auch KAM Hersteller, machen wir uns nichts vor) von ihren Aktionären zur Gewinnmaximierung geradezu verpflichtet werden ist tatsächlich eines der vielen Dinge, die es zu verbessern gilt. Thomas Pogge hat in seinem TEDx Talk eine interessante Alternative aufgezeigt. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=rTMqGbTNkNg
Schließlich gibt es einige statistische Möglichkeiten, die alle nicht perfekt sind, um diese Verzerrungen zu korrigieren (siehe z.B. den Funnel Plot https://de.wikipedia.org/wiki/Funnel_plot).

add Falsifikation: Klar kann man in der Naturwissenschaften Hypothesen nur falsifizieren; habe ich ja auch oben so beschrieben. Wenn also zum aktuellen Zeitpunkt Medikament X besser ist als Y, aber irgendwann ein Medikament Z gefunden und getestet wird, welches sich als besser als X herausstellt, so spricht ja nichts dagegen Z statt X zu empfehlen. Aber wir sollten nicht damit argumentieren, dass wir wohl besser nicht X einnehmen sollten, weil irgendwann vielleicht einmal Z gefunden werden könnte, welches viel besser sein könnte als X. Meiner Meinung nach können und sollten wir uns immer am aktuellen und bestmöglichen Kenntnisstand orientieren.

Mer, 07/31/2013 - 12:16 Collegamento permanente
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David Gruber Gio, 08/01/2013 - 18:29

Ich glaube du wirfst zu viele Zutaten in den Suppentopf "Wissenschaft" :)

Wenn also die Erkenntnis gewonnen wird, dass X die Lebensdauer um 8 Tage verlängert und Y um 12, dann ist hier die wissenschaftliche Methode am Ende ihrer Untersuchung angelangt. Alles, was danach kommt (Lobbyarbeit, PR, Marketing, Gesetzeslage etc.) ist ein anderes Paar Schuhe, die ihre eigenen Probleme haben, die es (korrekterweise) anzusprechen gilt. Aber diese haben nichts per se mit einer naturwissenschaftlichen Methode zu tun. (Kann aber verstehen, warum manche Menschen dies so wahrnehmen könnten).

Du oder ich können uns nie zu 100% sicher sein ob bei Studien getrickst wurde. Aber dies ist, IMO, kein schlagendes Argument gegen die naturwissenschaftliche Methode, denn: Bescheißen kann man nicht nur mittels Studien, sondern auch über viele andere Wege. Bei der Studie hast du, zumindest in der Theorie, die Möglichkeit sie selbst zu reproduzieren und die Hypothesen zu testen.

Lass mich diesen Aspekt anders beleuchten: Anhand welcher Grundlage oder Erkenntnisse entscheidest du schlussendlich als Arzt, welche Behandlung/Therapie/Medikament am besten eingesetzt werden sollte?

Gio, 08/01/2013 - 18:29 Collegamento permanente
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Sylvia Rier Gio, 08/01/2013 - 18:39

Die Zeit" (Print) hat diese Woche "Die gekaufte Wissenschaft" zum (Titel-)Thema gemacht: "Gekaufte Experten: Unternehmen bestellen Studien, bezahlen Professoren und finanzieren ganze Institute. Wie unabhängig ist die deutsche Forschung?". Hab mir nur gedacht, dass es euch vielleicht interessieren könnte :-)

Gio, 08/01/2013 - 18:39 Collegamento permanente