Società | Hausärzte

Wer zeigt mehr als 150 Ärzte an?

Mit einer nie dagewesenen Protestaktion eröffnen Südtirols Hausärzte eine neue Front in der Sanitätsdiskussion. Warum, erklärt die Rittner Hausärztin Doris Gatterer.

Frau Gatterer, dieses Wochenende haben Sie noch Bereitschaftsdienst. Ist es damit ab 1. Juni auch bei Ihnen erst einmal vorbei?
Doris Gatterer: Das hängt nun von der Gesprächsbereitschaft der Landesregierung ab. Jedenfalls habe ich meine Kündigung der Wochenenddienste ab 1. Juni 2015 gemeinsam mit meinen drei KollegInnen bereits an die Bezirksdirektion gefaxt. Denn wenn, können wir nur gemeinsam etwas erreichen.

150 der insgesamt 273 Südtiroler HausärztInnen haben sich mittlerweile in fast allen Bezirken der Protestaktion angeschlossen – und vom Sanitätsbetrieb kommen bereits Klagedrohungen.
Eine Protestaktion in dieser Form und dieses Ausmaßes hat es meines Wissens noch nie gegeben und entsprechend überrascht sind alle. Aber wir werden einfach schon zu lange hingehalten und offenbar ändert sich ohne Druck nie etwas. Seit Jahren wird über die Reorganisation des Territoriums gesprochen, doch passiert ist bisher nichts. Wir haben das Gefühl , das Gesundheitsassessorat hat keinen konkreten Plan und wenig Ideen, wie man die Allgemeinmedizin überhaupt aufwerten kann. Seit Jahren werden Arbeitsgruppen gebildet und Projekte entworfen, die anschließend wieder in der Schublade landen. Dann noch dieser Rekurs von den eigenen Leuten, den ich nicht verstehen kann, die Aufkündigung unseres Landesvertrags, der laut unserer Gewerkschaft SUP-SNAMI ebenfalls nicht notwendig gewesen wäre.

Und nun auch noch ein problematischer Übergangsvertrag...
Das war jetzt der Punkt, wo wir gesagt haben: Wenn nicht jetzt, wann dann? Wir waren schon bei den Verhandlungen äußerst unzufrieden, auch zum Teil mit den Gewerkschaften. Es wurde teilweise hergebremst oder nur das Geld in den Vordergrund gestellt. Doch es geht um viel mehr als um Geld.

Um was geht es? 
Um eine bessere medizinische Grundversorgung der Bevölkerung, um einheitliche Qualitätsstandards, um eine bessere und flexiblere Organisation unserer Arbeit. Ich bin auch im Vorstand der Südtiroler Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SÜGAM). Wir haben bereits im vergangenen Jahr ein Arbeitspapier ausgearbeitet, in dem zusammengefasst ist, was es aus unserer fachlichen Sicht alles braucht, um eine bestmögliche Versorgung zu garantieren. Gesundheitslandesrätin Stocker hat sich daraufhin auch herzlich für unser Engagement bedankt. Nur findet sich nun keine einzige Zeile davon in diesem neuen Vertrag. Das empfinden wir als Hohn.

"Es mag sein, dass wir uns nicht auf ganz legalem Terrain bewegen. Doch ich würde sagen, wenn 150 und wahrscheinlich noch mehr von 270 Ärzten gleich handeln, wird kein Staatsanwalt hergehen und sagen, ich zeige euch alle an.  Und außerdem haben wir auch noch einen deontologischen und ethischen Kodex. Also, ich werde im Notfall sicher niemandem meine ärztliche Hilfe verweigern."

Von Seiten des Assessorats wird betont, dass es sich ja ohnehin nur um einen Übergangsvertrag handelt, mit dem auch verhindert werden sollte, dass sie aufgrund der staatlichen Richtlinien erhebliche finanzielle Einbußen haben.
Doch bestimmte Forderungen und Inhalte, die seit Jahren diskutiert werden, hätten auch jetzt schon mit hinein genommen werden können.

Statt dessen wird in Folge des neuen Vertrags eine weitere Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen beklagt. Ist die Reduzierung der maximalen Patientenzahl von 2000 auf 1500 hier tatsächlich das Hauptproblem?
Ich persönlich sehe es viel kritischer, dass man sich nicht mehr auf 500 PatientInnen limitieren kann, sondern erst ab 1300 eine Konvention bekommt. Wir haben bisher manche Praxen, die sehr gut mit 500 oder 600 Patienten arbeiten. Es gibt schließlich immer mehr Frauen in unserem Berufsbild, und gerade für Berufseinsteigerinnen mit kleinen Kindern sind 1300 PatientInnen eine große Belastung. Mit mehr vertraglicher Flexibilität könnte diese Patientenzahl aber auch erreicht werden, indem sich zwei oder mehrere ÄrztInnen eine Konvention teilen. Hier fordern wir bedarfsgerechte und familienfreundliche Dienstmodelle.

Wie viele Patienten betreuen Sie?
1600 und ich muss sagen, das reicht mir vollkommen. Auch ich habe Familie und zwei Kinder und habe die Praxis nicht ganztags, sondern entweder am Vormittag oder am Nachmittag geöffnet. Doch wenn man versucht, die Arbeit leitliniengerecht und so gut wie möglich evidenzbasiert  zu erledigen, alle Hausbesuche inkludiert und die Altersheimbetreuung bedenkt, ist man mit der Stundenzahl sehr ausgelastet. Bei manchen KollegInnen kommen dazu auch noch die Mitarbeit in diversen Kommissionen oder amtsärztlichen Tätigkeiten.  Dann liegt von mir aus die absolute Obergrenze tatsächlich bei 2000 PatientInnen.

Also wo liegt dann das Problem?
Das Problem ist vor allem, dass es keine klaren Vorstellungen gibt, wie die Kollegen, die tatsächlich um 2000 Patienten haben, diese nun innerhalb der kommenden drei Jahre senken sollen. Vor allem, weil es gar nicht genug Hausärzte gibt, die diese Patienten dann  übernehmen könnten. Das ist ein weiterer Kritikpunkt an diesem Vertrag: Vieles wurde einfach von den staatlichen Vorgaben übernommen, ohne auf die Umsetzbarkeit zu achten, ohne konkrete Vorgaben zu geben, wie genau die Dinge organisiert werden sollen.

"Da bisher die Pro-Kopf-Quote sehr hoch berechnet ist, bekommt jede oder jeder abhängig von seiner Patientenzahl einen monatlichen Betrag bezahlt. Das heißt, ob ich gut oder weniger gut arbeite, ist uninteressant. Und das kann es doch nicht sein."

Aus der Diskussion um die Sanitätsreform war herauszuhören, dass die Aufwertung der Basismedizin auch zu einer Entlastung der Krankenhäuser, allem voran der Notaufnahme, führen soll. Verbessern sich nun die Voraussetzungen dafür?
Dafür müssten die Patienten dazu erzogen werden, zuerst einmal den Hausarzt aufzusuchen, der dann darüber entscheidet, ob der Zugang zur Notaufnahme notwendig ist. Das kann aber nur gelingen, wenn alle nicht dringlichen Fälle ohne Überweisung in der Notaufnahme ein ordentliches Ticket zahlen müssen. Also, um eine Zahl zu nennen, 100 Euro statt einen lächerlichen Preis von 15 Euro, zu dem man heute in der Notaufnahme alle nötigen Untersuchungen sofort bekommt – während andere PatientInnen brav in den Warteräumen der Hausärzte auf eine Überweisung warten. Um dann für die gleichen Untersuchungen über die reguläre Vormerkung die unmöglichsten Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Darüber hinaus bräuchten wir aber auch unter den Hausärztinnen und -ärzten einheitliche Qualitätsstandards und entsprechende Qualitätskontrollen, Akkreditierungen und homogene Verhältnisse.

Warum?
Ich kann im meiner Praxis zum Beispiel bereits heute an die 80 Prozent der Fälle selbst lösen. Doch das hängt eben immer davon ab, welche Zusatzleistungen angeboten werden, und hier haben wir keinen homogenen Standard. Der eine macht Wundversorgung, der andere nicht, die eine hat eine sehr gut ausgestattete Praxis, die andere nicht einmal einen Tupfer oder die Vorrichtung für eine Ohrspülung. Da bisher die Pro-Kopf-Quote sehr hoch berechnet ist, bekommt jede oder jeder abhängig von seiner Patientenzahl einen monatlichen Betrag bezahlt. Das heißt, ob ich gut oder weniger gut arbeite, ist uninteressant. Und das kann es doch nicht sein.

Doch die angebotenen Zusatzleistungen werden wohl  finanziell berücksichtigt?
Nur teilweise. Ich habe zum Beispiel ein EKG-Gerät, das kostet mich 3000 Euro. Die können sich nie amortisieren, weil ein EKG in den Sonderleistungen nicht vorgesehen ist. Ich hatte aber zuletzt immer wieder zwei bis drei Mal in der Woche Patienten, die Brustschmerzen hatten. Da mache ich ein EKG und weiß sofort, was los ist. Aber ich bekomme dafür keinen Cent mehr.  Nicht jeder ist deshalb zu solchen Extraleistungen bereit, und  gerade von jungen KollegInnen kann man sie auch wirklich nicht verlangen.

"Wir haben das Gefühl , das Gesundheitsassessorat hat keinen konkreten Plan und wenig Ideen, wie man die Allgemeinmedizin überhaupt aufwerten kann. Seit Jahren werden Arbeitsgruppen gebildet und Projekte entworfen, die anschließend wieder in der Schublade landen."

Das heißt, für eine bessere Basisversorgung braucht es auch mehr finanzielle Mittel von Seiten des Landes?
Die große Frage lautet: Welchen Sinn hat ein Primärarztsystem? Warum wird es in Ländern eingeführt, die es noch nicht haben? Damit dieses System perfekt funktioniert, müssen natürlich auch finanzielle Ressourcen locker gemacht werden. Und das ist der Knackpunkt. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Palliativmedizin. Es gibt ein Gesetz aus dem Jahr 2010, das die Erstellung eines Palliativ-Netzwerks sowohl für erwachsene Patienten als auch für Kinder vorschreibt; auch die gesetzlichen Rahmenrichtlinien sprechen eine klare Sprache. Was geschieht in Südtirol? Arbeitsgruppen arbeiten Dokumente aus und investieren kostbare Zeit, aber schlussendlich fehlen die Gelder, um das Ganze konkret umzusetzen.

Was bedeutet das für die Hausärzte?
Wir müssen uns vor Ort ständig selbst Sachen erfinden. Letztes Mal wurde ich am Nachmittag zu einem Palliativpatienten mit starken Schmerzen gerufen, und ich musste meinen Infusionsständer von der Praxis mitnehmen, weil die Sprengelkrankenschwestern keinen Dienst hatten, ich also ganz auf mich alleine gestellt war. Und das im Jahr 2015! Aber auch die Betreuung von chronisch Kranken nach konkreten Betreuungspfaden hängt immer noch in der Luft. Es gibt sehr wohl ausgearbeitete Protokolle, aber diese liegen wiederum in der Schublade. Das einzige Projekt, das in den vergangenen Jahren umgesetzt wurde, war ein Diabetes-Projekt zwischen Krankenhäusern und Hausärzten. Und das hat man nach drei Jahren einfach auslaufen lassen – ohne klare Begründung.

Und deshalb müssen ihre PatientInnen ab 1. Juni an Wochenenden und an Feiertagen erst mal in die Erste Hilfe oder zur Guardia Medica?
Wir hoffen schon, dass sie uns jetzt einmal konkrete Gespräche anbieten, auch wenn bisher nur Drohungen von den Bezirksdirektoren gekommen sind.

Dort wirft man Ihnen vor, mit der Protestaktion gesetzeswidrig zu handeln. Keine Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung?
Es mag sein, dass wir uns nicht auf ganz legalem Terrain bewegen. Doch ich würde sagen, wenn 150 und wahrscheinlich noch mehr von 270 Ärzten gleich handeln, wird kein Staatsanwalt hergehen und sagen, ich zeige euch alle an.  Und außerdem haben wir auch noch einen deontologischen und ethischen Kodex. Also, ich werde im Notfall sicher niemandem meine ärztliche Hilfe verweigern. Das mache ich auch nicht, wenn ich beispielsweise persönlich auf Urlaub bin, auch da hatte ich schon zwei Mal im Flugzeug einen Einsatz. Doch, wenn wir uns nie zusammenschließen und für das Wohl unserer PatientInnen, für unsere Arbeitsbedingungen und für ein optimales Primärarztsystem kämpfen, dann wird sich nie etwas ändern.