100 Jahre Erster Weltkrieg: Chance zur Aussöhnung
Dieses Jahr jährt sich zum hundertsten Mal der Ausbruch des Ersten Weltkrieges: eines der dunkelsten Geschehen in der Menschheitsgeschichte, das für viele Landstriche und Völker Europas Leid, Notstand und Unrecht zur Folge hatte. Neben Tod, Verwüstungen und Verwerfungen hinterließ der Konflikt eine Erblast, die zu den Ursachen des Aufstiegs totalitärer Ideologien und Regime in mehreren Staaten des Kontinents wurde. Zwar gab es nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern auch den Ruf: „Nie wieder Krieg!“ Zugleich setzte sich aber in allzu vielen Köpfen der Drang nach „Vergeltung“ fest, und dieses Gefangensein in der Logik der Rache mündete in eine noch viel größere Tragödie, in den Zweiten Weltkrieg.
Wie für nicht wenige andere Regionen Europas hatte der Erste Weltkrieg auch für Südtirol eine Grenzverschiebung zur Folge, die als tragische Schicksalsstunde dieses Landes empfunden werden kann: Der Angliederung der südlichen Teile Tirols an das Königreich Italien folgten wenig später die vom faschistischen Regime unternommenen Anstrengungen zur radikalen Italienisierung Südtirols, die in der Option gipfelten. Opfer dieser Bestrebungen waren zum einen die Südtiroler deutscher Muttersprache und - wenn auch auf eine andere Art - die aus anderen Regionen Italiens hierher umgesiedelten Bürger. Die politische Logik jener Jahre, die auch noch in der Zeit nach 1945 teilweise weiter hochgehalten und durchgesetzt wurde, hat bei den Menschen der verschiedenen Sprachgruppen in Südtirol eine Erbfeindschaft hinterlassen, mit der umzugehen immer noch nicht leicht ist.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Gegenstand vielfältiger Initiativen sein – auf europäischer, und staatlicher Ebene sowie in Südtirol selbst. Jede dieser Initiativen, die zu einer echten Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit beitragen kann, ist zu begrüßen.
Die Südtiroler Gesellschaft in ihrer Gesamtheit steht dabei jedoch vor einer besonderen Herausforderung. Es könnten nämlich Versuche unternommen werden, zwischen den Erben der damaligen Feinde Italien und Österreich weiterhin Keile zu treiben, wobei die eine Seite das erfahrene „historische Unrecht“, die andere ihren „Sieg“ unterstreichen würde. Verlockend könnten auch Aufrufe nach einem Zurückdrehen des Rades der Geschichte werden, als ob man die inzwischen eingetretenen grundlegenden Veränderungen im lokalen und europäischen Kontext wie Staub wegwischen könnte.
Jedenfalls steht die Sorge im Raum, dass die erwartete Rückschau getrennt gehalten wird, je nach dem „Interesse“ der betroffenen Sprachgruppe. Dies wäre ein großer Fehler.
Gerade weil wir eine Erbfeindschaft zu bewältigen haben, sollten die in Südtirol lebenden Bürger aller Sprachgruppen Wege suchen und Gelegenheiten schaffen, das Thema gemeinsam zu bearbeiten. Sinn und Zweck der Initiativen sollte es sein, sich keiner Wahrheit zu verschließen, wie unbequem sie auch sein könnte, und den Standpunkt, die Argumente und die Gefühlslage der jeweils anderen Seite kennen zu lernen. Nur ein derartiges Vorgehen erscheint geeignet, vermehrt wechselseitiges Verständnis zu schaffen und zu jener „gemeinsamen Kultur der Erinnerung“ zu führen, auf die wir hier in Südtirol hinarbeiten sollten, um weiterhin in Frieden und Wohlstand leben zu können. Wir sind sogar überzeugt, dass dies heuer und in den kommenden vier Jahren eine vorrangige Aufgabe des Landes Südtirol - insbesondere der Abteilungen für Schule und Kultur - sein sollte.
Europa ist, wie seine Gründerväter sagten, ein Friedensprojekt. Es entstand aus der Notwendigkeit heraus, jahrhundertelange Feindschaften zu überwinden. Bei allen Schwierigkeiten und selbst angesichts der heutigen Schwäche der Union infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise kann nicht geleugnet werden, dass sich dieses Projekt bewährt hat. Noch nie erlebte Europa eine so lange Zeit des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwungs. Wir sollten dies nicht als selbstverständlich betrachten.
Südtirol und alle seine Bewohner stehen in der Pflicht, ihren Teil zum weiteren Gelingen dieses Projektes beizutragen. Wir könnten dies in beispielhafter Weise durch ein gemeinsames Erinnern an den Großen Krieg und seine Folgen tun und sollten die einmalige Chance nutzen, den Aussöhnungsprozess voranzubringen.