Politics | Flüchtlinge

Das andere Gesicht

Für das UNHCR ist die verwehrte Hilfe für die kurdische Flüchtlingsfamilie “inakzeptabel”. Nach dem Tod des 13-Jährigen in Bozen wächst der Druck auf die Landespolitik.
Rollstuhl
Foto: Pixabay

Die Worte aus der Vorweihnachtszeit des vergangenen Jahres klingen hohl, jetzt, nach dem Tod des kurdischen Flüchtlingsjungen in Bozen. Ein hartes, aber gütiges Gesichte wollte die Landespolitik in der Aufnahme von Flüchtlingen zeigen. “Mehr als eine Herausforderung ist es eine Aufgabe, die uns alle betrifft”, sagte Landeshautpmann Arno Kompatscher im Dezember in Bezug auf die Flüchtlingsaufnahme in Südtirol. “Die wahre Herausforderung ist, die rechtlichen Regeln, die das System nun einmal vorgibt, einzuhalten, aber gleichzeitig menschlich zu bleiben und nicht zu vergessen, dass jeder Mensch, der zu uns kommt eine individuelle Geschichte mit bringt und entsprechend versuchen zu helfen.”

Papier wiegt schwer

Kein Gesetz – nur ein von einem Abteilungsdirektor erlassenes Rundschreiben stand zwischen der sechsköpfigen kurdischen Flüchtlingsfamilie aus dem Irak, die am 1. Oktober in Bozen ankam und der von Kompatscher zitierten “menschlichen Hilfe”. Samstag Nacht hat die Familie ihren ältesten Sohn und Bruder, Adan, verloren. Gestorben ist der 13-jährige, an Muskeldystrophie – einer Form von Muskelschwund – leidende Bub nach einer fatalen Odyssee. Niemand fühlte sich für die Flüchtlingsfamilie, der in Schweden der Flüchtlingsstatus nicht zuerkannt worden war, zuständig. Am allerwenigsten die mit der Flüchtlingsaufnahme betrauten Institutionen, die auf das Critelli-Rundschreiben verwiesen, das in Südtirol die Aufnahme von Flüchtlingen verbietet, die bereits anderswo um Asyl angefragt haben.
Dafür kommt nun Kritik von höchster Stelle. Als “inakzeptabel” verurteilt Stephane Jaquemet, der Südeuropa-Delegierte des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR den Vorfall in Bozen: “Ein Kind muss zuallererst als Kind angesehen werden. Das ist eine Frage der Moral noch bevor es eine Frage des Rechts ist. Einer Familie mit vier Kindern, von denen eines mit Behinderung, die Aufnahme verweigern, ist inakzeptabel.”

“Umgehend alle notwendigen Untersuchungen einleiten” wollen Landeshauptmann Kompatscher und seine Soziallandesrätin Martha Stocker, “um den Ursachen und Umständen”, die zum Tod des Buben geführt haben, “auf den Grund zu gehen”.
Nach einem Sturz aus dem Rollstuhl war der 13-Jährige am Freitag ins Bozner Krankenhaus eingeliefert worden. Eine Operation wurde durchgeführt. “In der ersten Phase war der postoperative Verlauf regelmäßig”, teilt der Sanitätskoordinator des Gesundheitsbezirks Bozen, Roland Döcker, in einer Aussendung mit. Später sei es zu “einer Verschlechterung” gekommen, “die den Tod verursachte”, so Döcker, der sich “der Familie in ihrem Schmerz” anschließt und ihnen “mein tief empfundenes Beileid” ausspricht.

 

Dringender Klärungsbedarf

Inzwischen hat sich der Bozner Bürgermeister zu Wort gemeldet. Nach einer Schweigeminute am Montag Vormittag sprach Renzo Caramaschi im Namen des Stadtrates und der gesamten Stadt der Familie des Kindes sein “tief empfundenes Mitgefühl und Beileid” aus. Wörtlich sagte Caramaschi: “Die Bürgerinnen und Bürger von Bozen bedauern das Schicksal und den Tod des Kindes. Dies sind Ereignisse, die nicht passieren dürfen und man muss alles daran setzen, dass sie sich nicht wiederholen.” Zunächst gelte es allerdings, “unmissverständlich die Kompetenzen, die jeweiligen Aufgaben und nicht zuletzt die Verantwortung klar zu definieren”. Dieselbe Forderung kommt nach dem tragischen Todesfall auch vom UNHCR, das an das Land Südtirol und das Regierungskommissariat appelliert, die Verantwortlichkeiten in der lokalen Aufnahme von Flüchtlingen “endgültig” zu klären.

“Das Land muss jetzt die Regeln für die Aufnahme ändern. Andernfalls wird Adan umsonst gestorben sein.”
(SOS Bozen)

Für Karin Cirimbelli ist die Sache klar: “Haltet euch einfach an das Gesetz!”, appelliert die Freiwillige vom Verein SOS Bozen nach dem Tod des kurdischen Jungen an die Lokalpolitik. Der Kammerabgeordnete Florian Kronbichler stimmt mit ein: “Die reiche Provinz Südtirol erlaubt sich, die staatliche Gesetzgebung, laut der Menschen, die um internationalen Schutz ansuchen, in besonders gravierenden Fällen Recht auf Aufnahme haben, nicht zu respektieren”, kritisierte er im römischen Parlament.

Angesichts der jüngsten Geschehnisse geradezu fehl am Platz mutet die Nachricht an, die ebenfalls am Montag Nachmittag aus der Pressestelle des Landes kommt: “Für die Unterbringung nicht begleiteter Jugendlicher in der Gemeinde Meran konnte eine neue Lösung gefunden werden.” Nicht, wie ursprünglich angedacht, im Zarenbrunn-Komplex, sondern in einer Immobilie des Deutschorden sollen künftig 25 unbegleitete Minderjährige untergebracht werden. Der Orden stellt das Gebäude dem Land kostenlos zur Verfügung. “Unser Hauptziel ist die Abdeckung des bestehenden Bedarfs an zusätzlichen Plätzen”, lässt sich die zuständige Landesrätin Stocker zitieren.
Einen Platz, den hätte auch die sechsköpfige Familie aus dem Kurdengebiet benötigt. Dass ihnen dieser bereit gestellt wurde, haben zwei Blatt Papier verhindert. Und was hatte der Landeshauptmann an Weihnachten im Vorjahr noch gemeint? “Wir wollen uns dieser Situation stellen und damit umgehen. Das ist unsere Pflicht, die auf unseren christlich-humanistischen Werten gründet. Oder wollen wir, dass uns unsere Enkel einmal fragen werden, wo wart ihr damals?