Gesellschaft | Flüchtlinge

“Die Politik ist absolut unmenschlich”

Karin Cirimbelli klagt an: Der Tod des kurdischen Flüchtlingsbuben hätte verhindert werden können, sagt die freiwillige Helferin. Und: Luca Critelli solle sich schämen.
Bahnhof Bozen
Foto: Beatrice Catanzaro

“Ich hatte leider das Pech dabei zu sein, als der Bub vom Rollstuhl gefallen ist.” Karin Cirimbelli fällt es nicht einfach, über die vergangenen Tage zu sprechen. Doch es schwingt Wut mit in den Worten der freiwilligen Helferin, die sich seit Langem für eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen in Bozen einsetzt.
Der Sturz aus dem Rollstuhl passierte am Freitag. Keine zwei Tage später ist der 13-jährige kurdische Flüchtlingsbub tot.
Seine Eltern waren mit ihm und seinen drei Brüdern, 12, 10 und 6 Jahre alt, am 1. Oktober in Bozen angekommen. Vergebens versuchten die Freiwilligen, der Familie zu helfen, stießen auf verschlossene Türen und Herzen. Und dann stirbt der älteste Sohn, in jener Stadt, die der Familie Obdach und womöglich auch ein neues Leben verwehrt hat.
Karin Cirimbelli ist wütend, aber aufgeben will sie nicht: “Ich werde mich weiterhin einsetzen, wahrscheinlich noch mehr als vorher.”

salto.bz: Frau Cirimbelli, wie geht es der Familie?
Karin Cirimbelli: Die Mutter ist zerstört, der Vater auch. Und die drei kleinen Buben natürlich auch. Sie sind jetzt bei Bekannten untergebracht, dort können sie für ein paar Nächte bleiben. Die Eltern haben den Wunsch geäußert, den Sohn hier in Bozen zu beerdigen.

Haben Sie noch Kontakt zur Familie?
Natürlich. Eine der Freiwilligen unseres Vereins, SOS Bozen, wurde in der Nacht von Samstag auf Sonntag von der Familie angerufen und war bis 6 Uhr morgens mit ihr im Krankenhaus. Um 9 Uhr haben sich die restlichen von uns mit der Familie getroffen und sicher gestellt, dass sie bei Bekannten untergebracht werden. Heute werden wir wieder mit der Familie beisammen sein.

Sie haben die Familie mit den vier Buben seit ihrer Ankunft in Bozen vor einer Woche begleitet. Was ist in dieser Woche passiert?
Die erste Nacht hat die Familie unter einer Brücke geschlafen. Am Montag haben sie sich an die Flüchtlingsberatungsstelle der Caritas gewandt und dann an den Verein Volontarius. Wir von SOS Bozen wurden von der Caritas kontaktiert. Uns wurde berichtet, dass diese Familie nicht aufgenommen werden kann, wegen der “circolare Critelli”.

Kein Wort an die hinterbliebene Familie, kein “Es tut uns Leid” – nicht einmal das war er (Luca Critelli, Anm.d.Red.) imstande, zu sagen!

Das Rundschreiben von Luca Critelli, Direktor der Landesabteilung Soziales, ist vor genau einem Jahr in Kraft getreten und hat die Möglichkeit, geflüchtete Menschen, die in unser Land kommen, stark eingeschränkt.
Die “circolare Critelli” ist unmenschlich und geht gegen das italienische Gesetz und gegen EU-Richtlinien. Es ist nicht einmal ein Gesetz, sondern ein Rundschreiben!

Nichtsdestotrotz haben sich die zuständigen Institutionen auf diese zwei Blatt Papier bezogen, als sie der Familie die Aufnahme verweigert haben?
Ja, natürlich. Als wir das gehört haben, haben wir versucht, eine Unterkunft für die Familie zu finden. Am späten Montag Nachmittag wurde der älteste Sohn ins Krankenhaus eingeliefert. Die Mutter konnte bei ihm bleiben, der Rest der Familie hat in der Ersten Hilfe übernachtet. Am Dienstag haben wir es geschafft, für den Vater und die drei Brüder ein Hotel zu bezahlen. Tagsüber haben sie sich im Bahnhofspark aufgehalten, während wir auf der Suche nach einer Lösung waren.

Die nicht erfolgreich war?
Von den Institutionen kam ein klares Nein. Wir haben uns an einige Kirchen gewandt, Kloster angerufen – die haben uns gesagt, sie seien nicht zuständig für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Die Familie wurde abgewiesen obwohl ihre prekäre Situation bekannt war? Zwei Eltern mit vier minderjährigen Söhnen, von denen einer an Muskeldystrophie litt und im Rollstuhl saß. Das alles war kein Grund, um Hilfe zu leisten?
Ja. Am Donnerstag konnte die Familie in der evangelischen Kirche auf dem Boden schlafen. Und am Freitag ist dann das passiert, was passiert ist.

Der Unfall mit dem Rollstuhl?
Die Mutter ist mit dem Buben wieder ins Krankenhaus, der Vater hat die Nacht mit den drei Geschwistern im Hotel verbracht, wofür wir Spenden gesammelt hatten. Samstag Nacht ist dann passiert, was passiert ist…

Hätte das Geschehene – die Vorgeschichte und auch der Tod des 13-jährigen Buben – verhindert werden können?
Absolut.

Dieses Bild, das ich seit Freitag in meinem Kopf habe, muss ich erst einmal imstande sein zu löschen.

Eine sechsköpfige Flüchtlingsfamilie muss ohnmächtig zusehen, wie ihr bereits kranker Sohn und Bruder nach einem fatalen Hin und Her stirbt. Und das, weil sich keine der Institutionen, die für die Aufnahme verantwortlich sind, zuständig fühlt. Was sagt uns das?
Das sagt uns, dass die Politik bei uns gegen die Menschenrechte, absolut unmenschlich handelt. Man hat den Eindruck, dass diese Unmenschlichkeit dazu führen sollte, dass keine Menschen auf der Flucht mehr zu uns kommen. Man greift hart durch, in der Hoffnung, dass keine mehr kommen.

Diese Botschaft klingt aus der Stellungnahme von Luca Critelli heute in den Dolomiten durch: Südtirol könne nicht der einzige Ort sein, wo jeder einen Platz bekomme, so der Abteilungsdirektor…
Er soll sich schämen! Schämen soll er sich! “Man kann nicht alle aufnehmen”? Kein Wort an die hinterbliebene Familie, kein “Es tut uns Leid” – nicht einmal das war er imstande, zu sagen! Ich bin sprachlos.

Seit Sonntag ist die tragische Geschichte der Familie A.H. öffentlich bekannt. Was hat es bisher an Reaktionen gegeben?
Mitleid auf der einen Seite, furchtbare auf der anderen. Zu manchen Kommentaren auf Facebook möchte ich mich gar nicht äußern. Diese Unmenschlichkeit, dieser Rassismus, diese Xenophobie, die wir in Bozen derzeit erleben, sind unter jeder Würde. Diesen Menschen sage ich: Bevor sie sich vor den Computer setzen und losschreiben, sollten sie sich vorstellen, dass die eigenen Kinder, die eigenen Eltern oder die eigenen Großeltern neben ihnen sitzen, während sie diese Bosheiten schreiben.

Die Eltern haben den Wunsch geäußert, den Sohn hier in Bozen zu beerdigen.

Haben Sie auch der Politik etwas zu sagen?
Der Appell an die Politik ist der: Wir müssen uns einfach an die Gesetze halten! Das Rundschreiben von Critelli ist kein Gesetz, sondern ein Rundschreiben und es muss sofort abgeschafft werden!

Wie geht es Ihnen? Stellvertretend für die vielen freiwilligen Helfern, die sich nach wie vor in Bozen für Flüchtlinge einsetzen.
Wir sind fertig. Aber wir werden nicht aufhören zu kämpfen.