Società | Die Neunerprobe

Das verdrängte Anniversar

Der Historiker Hans Heiss über ein dreifaches Jubiläum und die Gründe, warum sich Südtirol mit diesem Centenaire besonders schwer tut.
einmarsch in südtirol
Foto: Archiv ORF
Die Erinnerung an St. Germain und die Folgen ist in Südtirol und Tirol über Monate hinweg auffallend umgangen worden. 2019 feiern Tirol und Südtirol zwar in Pomp und Prunk das „Maximiliansjahr“, im Gedenken an den vor 500 Jahren verstorbenen Kaiser Max, während die weit prägendere Zäsur von 1919 stockend und spät thematisiert wird: Keine Landesausstellung, kaum Veranstaltungen bisher, die Kulturressorts hüllen sich verschämt in Schweigen. 
Gäbe es nicht das wackere Zentrum für Regionalgeschichte, Interventionen von Hannes Obermair oder den beherzten Film von Hanifle/Sommer/Langbein, wäre bislang so gut wie nichts passiert. Das Schweigen auf deutsch- wie italienischsprachiger Seite fällt auch ausländischen Journalisten auf, die seinen Gründen bohrend nachfragen. Nun aber, um Fünf vor Zwölf, entfaltet auch die Landesregierung beachtliche Hektik und hat den heurigen „Tag der Autonomie“ dem schwierigen Centenaire zugedacht, in der Hoffnung, dass damit der Kelch des Gedenkens zügig vorüber gehe. Aber das wird nicht der Fall sein: Schützen und Süd-Tiroler Freiheit wetzen bereits die Säbel; auch die Mutter aller Südtiroler Medien wird sich die Chance zur Polarisierung mit obligatem LH-Bashing nicht entgehen lassen.
Schützen und Süd-Tiroler Freiheit wetzen bereits die Säbel; auch die Mutter aller Südtiroler Medien wird sich die Chance zur Polarisierung mit obligatem LH-Bashing nicht entgehen lassen.
Zumindest vier Gründe legen statt dröhnenden Schweigens eine Selbstbefragung nahe. Warum wird an 1919 so zögernd und mutlos erinnert?
 

1. Halbierte Trauerarbeit

 
Die Zuteilung Südtirols an Italien 1919 war kein Raub und vertraglich sanktioniert, aber ein moralisches Unrecht. Sie verstieß gegen nationale Prinzipien, gegen regionale Zugehörigkeiten, gegen die Empfindungen und Wünsche der meisten in Südtirol Lebenden. Sie erlebten nach Kriegstod und Zerstörung, nach der Lähmung durch den Kriegsausklang die Trennung als einschneidendes Trauma. 
Aus der Sicht des Königreichs Italien hingegen waren die territoriale Erweiterung bis zum Brenner und der Zugewinn eines deutsch- und ladinischsprachigen Gebietes unerlässlich, um den 1915 entfesselten Krieg zu rechtfertigen. Da das Königreich 1918/19 längst nicht alle Kriegsziele erreichte, war zumindest die Brennergrenze zu sichern, um die über 650.000 Kriegstoten Italiens zu legitimieren. In Südtirol war die Trauer über die Trennung verbreitet, sie gewann nach 1920 aber kaum öffentlichen Raum.
Das Trauma wiederholte sich 1946, wurde diesmal aber durch das Versprechen der Autonomie besänftigt. Die Zusage und die mühsame Umsetzung der Autonomie waren als Entschädigung gedacht. Aber eine eingehende Verarbeitung von Verlust und Trennung fand nie statt, obwohl sie zur inneren Befriedung bitter notwendig gewesen wäre. Zudem überlagerte ab 1939 der Schock der Option die Folgen der Trennung. 
 
 
Von italienischer Seite wurde kein Anlass zur Trauer gesehen. Dass die Brennergrenze Bindungen und Zugehörigkeiten zerstörte und viele schmerzlich traf, darüber gingen Regierungen und italienische Öffentlichkeit meist hinweg. Nur selten gab es Zeichen von Bedauern und Einsicht in die Südtiroler Gefühlslagen. Diese waren nicht nur revanchistisch, altösterreichisch-nostalgisch oder deutschnational, sondern Ausdruck eines tief empfundenen Verlusts. Nicht umsonst wird aktuell das Defizit von „deutschpatriotischen“ Parteien zielsicher aufgegriffen.
 
 

2. Fehlende Anerkennung für 1919: Die pochende Narbe

 
Südtirol kam 1919 gegen den Willen seiner Bevölkerung an das Königreich Italien; dies ist ein ebenso einfaches wie unverrückbares Faktum. Diese Wahrnehmung ist trotz aller Vorzüge der Autonomie in die Mentalität und Identität vieler deutsch- und ladinischsprachiger Bürger eingelassen, vorab unter der mittleren und älteren Generation. Sie bildet eine historische Hypothek, die nicht leichtfertig ignoriert werden darf. Keine Frage: Die Selbstverwaltung, die soziale Lage und wirtschaftliche Situation Südtirols sind vergleichsweise gut. Sie basieren auf der mühsam verhandelten Autonomie und auf dem Willen der römischen Regierung zur Befriedung nach Jahrzehnten des Streits. Die Errungenschaften sind beeindruckend, die Autonomie trag- und ausbaufähig. Der genetische Defekt der Annexion aber bleibt und ist nicht klein zu reden. Es wäre gut gewesen, wenn das Trauma der Teilung Tirols, der Annexion, von Seite der Regierung und offizieller Staatsvertreter jemals anerkannt worden wäre. 
Ein kurzer Blick auf das deutsche Beispiel zeigt: Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen stifteten um 1970 nicht nur die Ostverträge, sondern der Kniefall von Willy Brandt vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto trugen dazu ebenso bei. Das wäre im Falle Südtirols eine zu große Geste gewesen, aber ein Signal der Einsicht in Südtiroler Gefühlslagen hätte wohl getan. Hätte etwa Staatspräsident Napolitano der Tochter des ersten Opfers des Faschismus, Mariedl Innerhofer, zu ihren Lebzeiten einmal die Hand gedrückt, so wäre dies von versöhnender Wirkung gewesen. 
 
 
Der genetische Defekt der Annexion aber bleibt und ist nicht klein zu reden. Es wäre gut gewesen, wenn das Trauma der Teilung Tirols, der Annexion, von Seite der Regierung und offizieller Staatsvertreter jemals anerkannt worden wäre.
Denn es genügt nicht, Selbstverwaltung und Autonomie rechtlich und real einzuräumen, politische Lösungen verlangen auch symbolische Akte der Anerkennung. Innerlich gefühlte und bleibende Aussöhnung hat dann Erfolg, wenn die tiefere Einsicht in das Befinden der Gegenseite greift. Sie wird dann wirksam, wenn der Schmerz und die Leidenserfahrung „der Anderen“ nachvollzogen und erlebt werden. Dieser Aspekt fehlt in der Erfolgsgeschichte der Südtirol-Autonomie, er ist die pochende, weiterhin schmerzende Narbe.Und sie gilt umgekehrt auch für oft fehlende Einsicht in die Befindlichkeit „der Italiener“. Und chronisch unterbelichtet ist die Erinnerung daran, wie viele Südtiroler nicht nur Opfer waren, sondern auch Akteure, Täter, Helfer, Mitläufer der Regimes.
 

3. Einheit ohne Freiheit, Abgrenzung ohne Dialog? Zwei Grundübel

 
Die verweigerte Selbstbestimmung hat in Südtirol unter Deutsch- und Ladinischsprachigen die Wünsche nach Einheit und Gerechtigkeit bestärkt. Diese Ziele wurden in vieler Hinsicht erreicht: Durch langjährige Geschlossenheit im Kampf um Autonomie, die in vielen Feldern ausgleichende Gerechtigkeit brachte. In Südtirol fehlt dennoch eine Grunddimension politischer Sinnstiftung: Die Erfahrung der Freiheit und Selbstbefreiung, die konstitutiv ist für demokratische Gesellschaften. So ist die Befreiung von Nazis und Besatzern wie die in Freiheit gewählte Zugehörigkeit zu einem Staat ein Fundament, das viele andere Gesellschaften Europas trägt. In Südtirol fehlt die Freiheitserfahrung, deren Manko untergründig zu spüren ist. Ihr Fehlen zeigt sich nachhaltig: In der Haltung der Anpassung, der Opportunität, mitunter auch der Kriecherei.
In Südtirol fehlt die Freiheitserfahrung. Ihr Fehlen zeigt sich nachhaltig: In der Haltung der Anpassung, der Opportunität, mitunter auch der Kriecherei.
Das zweite Defizit ist die fehlende Verständigung zwischen Sprachgruppen: Ohne Dialog über die Erfolge, vor allem aber über die Mängel der Beziehung zwischen Deutschsprachigen, Ladinern und Italienern bleibt ein Auskommen im Land weiterhin auf eine wohltemperierte Parallelgesellschaft beschränkt. Da der Konvent und seine Ergebnisse in der historischen Mottenkiste gelandet sind, wären neue Plattformen des Dialogs vonnöten. Nicht gerade Wahrheits- und Versöhnungskommissionen wie in Südafrika, wohl aber neue Ebenen der Verständigung: Was sind wir Deutsche, Italienischsprachige, Ladiner uns? Was sind wir uns nicht? Wie können wir besser miteinander leben? 100 Jahre nach St. Germain wäre ein solcher Prozess mehr als überfällig. Ansonsten geht der Weg munter weiter in eine routinierte Abgrenzungsgesellschaft, immer wieder gelähmt durch Schweigen und stille Blockaden.
 

4. Statt schamhaften Schweigens: Bilanz für die Zukunft

 
Der Ausgleich für die verweigerte Selbstbestimmung ist die Autonomie. Sie ist zwar angenommen worden, aber ohne jede Begeisterung. Liest man die Protokolle der Meraner SVP-Paketdebatte 1969, so quillt das Misstrauen in den Redebeiträgen von Gegnern und Befürwortern durch alle Poren. Die Autonomie hat Frieden gestiftet, ihre Leistungen werden vielfach anerkannt, aber sie gilt allzu oft als zweitbeste Lösung, als Stiefkind der Geschichte. Wer aber Frieden zwischen den Sprachgruppen wünscht und an die Autonomie glaubt, sollte auch ein neues Fundament ins Auge fassen.
 
 
Auch wenn der mit vielen Hoffnungen befrachtete Konvent gescheitert ist, so wäre ein neuer Vertrag zwischen den Sprachgruppen notwendig, ein Commitment, das die Autonomie neu belebt. 
Südtirols Weg ist mehr als ein Einzelfall: Er hat, weit über das Land hinaus, bereits frühzeitig, schon vor Jahrzehnten, deutlich gemacht, dass nationale Zugehörigkeiten in einer globalen Welt an Bedeutung verlieren. Loyalitäten sind längst geteilt und dem Container des Nationalstaats entronnen: Sie teilen sich auf zwischen Staatsnation und Europa, globalen Zusammenhängen und regionaler Bindung. Es ist eine aus der Geschichte erwachsene Grundmission Südtirols, die Grenzen von Nationalstaaten aufzuweisen. Nationen und Nationalstaaten verdienen Loyalität, aber keine Zuneigung. Diese gelten einer Region, einem Land wie Südtirol, das Bodenständigkeit und solidarische Weltoffenheit in gelingender Manier verbinden könnte. 
Es wäre schon viel, wenn die gegenwärtig spürbare Schließung des Landes, die innere Grenzziehung seiner Gesellschaften, ein Ende nähme. 
Nicht hier, nicht heute: irgendwann,far from now. In Rückbindung an ein Europa, das demokratisch neu begründet werden muss. Aber der Weg hin zu solcher Offenheit ist weit und dauert weitere100 Jahre. Es wäre schon viel, wenn die gegenwärtig spürbare Schließung des Landes, die innere Grenzziehung seiner Gesellschaften, ein Ende nähme. 
Dies wäre, modestamente, mein Wunsch zum Centenaire.
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Hans Knapp Lun, 09/02/2019 - 09:58

Danke Hans für diesen tiefgehenden und weitsichtigen Beitrag!
Ein Aufruf an Bürger und Politik auf beiden Seiten, Unverständnis und Kleingeisterei mit Einsicht und Mut hinter sich zu lassen und sich gemeinsam den wirklich großen Fragen der Zeit zuzuwenden.

Lun, 09/02/2019 - 09:58 Collegamento permanente
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Paolo Carbone Lun, 09/02/2019 - 16:12

Ich auch habe diesen Beitrag ganz tiefgehend und interessant gefunden und bin auch der Meinung dass es eine gute Idee auf Italienisch zu übersetzen. Fast alle die Italiener ignorieren diese Jubiläum, die Geschichte Südtirol und die schwierige, sogar tragische Beziehungen mit restlichem Land. Es ist die Gelegenheit um ein solches Thema auf nationalweiten Tageszeitungen bzw. Zeitschriften zu erheben.

Lun, 09/02/2019 - 16:12 Collegamento permanente
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Hartmuth Staffler Lun, 09/02/2019 - 17:08

Zum lesenswerten Beitrag von Hans Heiss sei ergänzt, dass es durchaus auch private Initiativen zur Erinnerung an den Friedensvertrag von St. Germain vom Jahr 1919 gegeben hat und gibt. Der Geschichtsverein Brixen hat in seinen Veranstaltungen zum Kriegsende 1918 immer auch den folgenden Friedensvertrag thematisiert, und wird dies auch bei der bevorstehenden großen Ausstellung zur Option des Jahres 1939 tun, die ja teilweise eine Folge dieses Vertrages ist. Der am 10. September 1919 unterschriebene und am 16. Juli 1920 in Kraft getretene Friedensvertrag hat es ja ermöglicht, dass das italienische Parlament am 10. Oktober 1920 die Annexion Südtirols beschließen konnte, das bis dahin ein von Italien militärisch besetztes Gebiet der Republik Österreich war. Die Folge davon war, dass die Südtiroler gegen ihren Willen die Staatsbürgerschaft der Republik Österreich verloren. Das Thema ist ja heute aktueller denn je, da der Wiedererwerb der Staatsbürgerschaft im Raume steht. Hans Heiss hat einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung der Hintergründe geleistet.

Lun, 09/02/2019 - 17:08 Collegamento permanente
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V M Lun, 09/02/2019 - 18:05

L'argomento è complesso e naturalmente delicato, ma vorrei comunque evidenziare alcuni punti. Il territorio attribuito all'Italia a seguito dell'esito della prima guerra mondiale ed attualmente denominato Sudtirolo non era abitato solamente da germanofoni e ladini, anche se questi ultimi ridotti a seguito della germanizzazione forzata avviata già nella seconda metà del 700 e che ha portato anche alla ridicola tedeschizzazione della maggior parte dei cognomi ladini. Esisteva, come è sempre esistita nell'ambito del Tirolo storico anche una comunità di lingua italiana regolarmente rilevata nei censimenti. Lo dico anche da tirolese con una storia famigliare secolare. Per quanto riguarda l'annessione dell'attuale Sudtirolo all'Italia questa è stata una conseguenza geopolitica e strategico-militare derivante dall'esito della prima mondiale che l'Italia non aveva certo il potere di decidere. L'attuale situazione politico-amministrativa è infatti una conseguenza delle due guerre mondiali e non direttamente di una scelta esclusiva dello Stato italiano. Solo riconoscendo le radici storiche e culturali della genesi delle due guerre mondiali si possono contestualizzare correttamente i torti storici subiti dall'attuale Sudtirolo.

Lun, 09/02/2019 - 18:05 Collegamento permanente
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Michael Bockhorni Dom, 09/08/2019 - 12:48

"In Südtirol fehlt dennoch eine Grunddimension politischer Sinnstiftung: Die Erfahrung der Freiheit und Selbstbefreiung. ... Ihr Fehlen zeigt sich nachhaltig: In der Haltung der Anpassung, der Opportunität, mitunter auch der Kriecherei." Sowohl bei der Befreiung von Adel und Kirche (Aufklärung), bei der bürgerlichen Revolution 1848 und der Arbeiterbewegung in den 20er Jahren ging Südtirol einen anderen Weg, tlw. selbstgewählt z.T. aufgezwungenermaßen. Der Prozess hin zur identitätsstiftende Autonomie ist von Anpassung, Ein- und Unterordnung (in eine Sammelbewegung/partei) geprägt und das Ziel war Erhalt (von Tradition und Sprache) und nicht Veränderung. Schade, dass 100 Jahre Südtirol wieder in geschichtlichen Rückblicken "versinkt" statt seine Gegenwart selbstkritisch zu reflektieren und sein Zukunftspotential aktiv anzugehen.

Dom, 09/08/2019 - 12:48 Collegamento permanente
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Sepp.Bacher Dom, 09/08/2019 - 13:02

In risposta a di Michael Bockhorni

Da gebe ich Ihnen Recht! Obwohl das nicht nur hier so ist - bei uns hat es diese, von Ihnen gut beschriebene, Dimension. Ich nehme aber war, dass es in den deutschsprachigen Kultur- und Dokumentations-Sendern gerade fast nur noch um Geschichte geht. Mich wundert nicht, wenn es vielen Jungen auf den Sack geht, dauernd mit tragischen und Schuld-suggerierenden Dingen der Vergangenheit konfrontieren zu werden, die nicht einmal ihre Eltern kennen!

Dom, 09/08/2019 - 13:02 Collegamento permanente