„Es könnte chaotisch werden“
Am Dienstag, den 3. November, findet die nächste US-Wahl statt. Für die Republikanische Partei tritt Donald Trump zur Wiederwahl an. Auch Vizepräsident Mike Pence ist erneut dabei. Die Demokraten nominierten den ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden. Er benannte die kalifornische Senatorin Kamala Harris als seine Vizekandidatin.
Der Bozner Andreas Pfeifer ist außenpolitischer Ressortleiter im aktuellen Dienst des ORF und hat als Auslandskorrespondent aus dem ORF-Büro in Washington berichtet. Im Interview spricht er über Trumps Anhänger, Joe Biden und Kamala Harris, Briefwahlen und welches Szenario eintreten könnte, wenn Trump eine Niederlage nicht akzeptiert.
salto.bz: Am 3.November wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Die Prognose-Plattform „FiveThirtyEight“ schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass Joe Biden die Wahl gewinnt, auf 90%. Wie lautet Ihre Prognose Herr Pfeifer?
Andreas Pfeifer: Wenn es mit Vernunft zugeht - was in der Politik Trumps eine Seltenheit geworden ist -, dann müsste man darauf verweisen, dass der Abstand zwischen Biden und Trump laut Umfragen relativ groß ist. Es gibt wenig unentschlossene Wähler, die USA sind von der Corona-Pandemie sehr geplagt und die Inkompetenz der Politik Trumps ist offensichtlich geworden. Dazu kommt die Wirtschaftskrise. Nur einmal ist in der Geschichte der USA ein Präsident mitten in einer Rezession wiedergewählt geworden, das war William McKinley im Jahr 1900. Das sind alles Faktoren, die für einen Sieg Bidens sprechen. Auch auf der Ebene der Fakten, Zahlen und Umfragen hat man seit 2016 einiges dazu gelernt. Aber es gibt viele irrationale Faktoren in der amerikanischen Wahl und das Wahlsystem bietet einige Angriffsflächen. Es könnte gut sein, dass wir am Morgen des 4.November nicht wissen, wer Präsident ist oder Trump sich vor Auszählung aller Stimmen zum Präsidenten erklärt. Es könnte chaotisch werden.
Es könnte gut sein, dass wir am Morgen des 4.November nicht wissen, wer Präsident ist oder Trump sich vor Auszählung aller Stimmen zum Präsidenten erklärt. Es könnte chaotisch werden.
Aus einer eurozentrischen Perspektive ist es unverständlich, wie Trump, mit allen Fauxpas und Skandalen, so viele Menschen hinter sich versammeln kann. Schätzen wir die amerikanische Gesellschaft falsch ein?
Wir würden dabei wohl den maximalen Grad an Polarisierung unterschätzen, den die amerikanische Gesellschaft während dieser Präsidentschaft erreicht hat. Selbst wenn Joe Biden mit einem großen Vorsprung gewinnt, ändert das nichts daran, dass 40 bis 50 Millionen Amerikaner hinter Trump stehen. Aus europäischer Perspektive ist das schwer zu erklären. Wir haben erlebt, dass dieser Mann die Politik in das Reich der Fiktionen übersiedelt hat. Mit Faktizität und politischem Handeln hat diese Präsidentschaft wenig zu tun gehabt. Es gibt einige Argumente, warum Trump so viele Menschen anspricht: die unglaublich triviale Vereinfachung auf Floskeln wie „America First“, das Aufbauen von Feinbildern - Beispiel China - und das radikale Verunglimpfen seiner Kontrahenten wie „Sleepy Joe Biden“. Diese Spielart der radikalen Simplifizierung von Politik finden viele anziehend. Außerdem hat er es geschafft, die Politik von den Ergebnissen, die er liefert, abzukoppeln. Die vermeintlichen Segnungen dieser Präsidentschaft - etwa Steuersenkungen oder die Rückholung von Jobs aus dem Ausland - sind bei vielen Amerikanern nie angekommen, trotzdem wählen sie ihn. Das ist paradox.
Diese Spielart der radikalen Simplifizierung von Politik finden viele anziehend.
Die typischen Trump-Wähler werden oft als Amerikaner aus einfachen Verhältnissen und ohne akademischen Hintergrund beschrieben. Gibt es noch andere Wählergruppen oder Charakteristika die Trumps Anhänger gemeinsam haben?
Es gibt zwei Wählergruppen, die er sehr anspricht und für die er sich eingesetzt hat. Einmal sind das die sehr konservativen, teilweise radikalisierten, evangelikalen Christen. Für die hat er viel getan, zum Beispiel durch die Nominierung der Höchstrichterin Amy Coney Barrett am Supreme Court oder durch die Kampagne gegen Abtreibung. Trotz seines unmoralischen Lebenswandels fühlen sie sich angesprochen. Dann gibt es noch eine Gruppe: die Amerikaner, die sich vom politischen partizipatorischen Prozess völlig abgekoppelt haben und mit Staatlichkeit überhaupt nichts mehr zu tun haben. Das sind Menschen, die das Establishment per se ablehnen, und trotzdem bei Trump eine Antwort finden. Deswegen werden wir staunen, wie viele Millionen Amerikaner Trump nach wie vor die Treue halten werden.
So unattraktiv wie er aus europäischer Perspektive erscheint, ist er für viele Amerikaner tatsächlich nicht.
Wenn auch nach der vierjährigen Amtsperiode so viele Menschen Trump unterstützen, dann müssen die Amerikaner mit seiner politischen Führung zufriedener sein, als wir es in Europa wahrnehmen.
Er ist ein Virtuose, wenn es um die Umkehrung von Tatsachen geht. Trump ist es gelungen, Misstrauen gegen die öffentliche Kommunikation und etablierte Medien zu säen. Selbst in der Corona-Pandemie, wo er von einer Absurdität in die nächste gestolpert ist, hat er es irgendwie geschafft, seine Anhänger bei der Stange zu halten. Ein anderes Beispiel ist die Bewegung „Black Lives Matter“, da hat er eine Täter-Opfer-Umkehr gemacht, indem er gesagt hat, dass er der ist, der bei Ausschreitungen und Plünderungen für „law & order“ sorgt. So unattraktiv wie er aus europäischer Perspektive erscheint, ist er für viele Amerikaner tatsächlich nicht.
Nehmen wir an, es kommt zu einem Machtwechsel. Was kann man sich von Joe Biden als US-Präsidenten erwarten?
Biden wird immer als farbloser Präsidentschaftskandidat dargestellt. Man kann sich aber auf eine halbwegs berechenbare, konsistente, auf Argumentation beruhende Politik einstellen. Biden bringt viel politische Erfahrung mit sich. Zudem hat er eine attraktive, bestimmte Wählerschichten ansprechende Vize-Kandidatin, nämlich Kamala Harris, an seiner Seite. Das wäre ein Team, das für Wandel sorgen könnte. Nicht alle geopolitischen Verschiebungen, die unter Trump stattgefunden haben, würden sich zurückführen lassen. Beispielsweise würde die Rivalität mit China sicher erhalten bleiben und Europa müsste sich dennoch sicherheitspolitisch mehr auf eigene Beine stellen. Trotzdem, die Politik würde wieder vermehrt in den Bereich der Rationalität zurückkehren.
Jeder der beiden Präsidentschaftskandidaten hat einen „running mate“ an seiner Seite, der die Schwächen des Hauptkandidaten abfedert.
Sie haben gerade Kamala Harris erwähnt. Wie schätzen Sie grundsätzlich den Einfluss der beiden Vize-Kandidatinnen auf das Wahlergebnis ein?
Die Paarungen sind sehr interessant. Jeder der beiden Präsidentschaftskandidaten hat einen „running mate“ an seiner Seite, der die Schwächen des Hauptkandidaten abfedert. Joe Biden ist alt und etwas langsam, Kamala Harris ist jung, engagiert und energisch. Mike Pence ist für Trump sehr wichtig, obwohl er sich medial oft im Hintergrund hält. Für alle Republikaner, denen Trump zu erratisch ist, ist Mike Pence der Inbegriff des konservativen, moralischen Kandidaten. Oft werden Evangelikale gefragt, warum sie jemanden wie Trump, der so unmoralisch handelt, in der republikanischen Familie halten. Die Antwort ist dann oft Pence, der ruhiger und moderater ist, aber gleichzeitig beinhart den konservativen Kurs hält.
Barack Obama ist zurück im Wahlkampf, kritisiert Trump und macht sich stark für Biden und Harris. Macht das den Unterschied?
Biden ist sicher nicht eine Lichtgestalt, die sich Trump entgegenstellt. Also springt Obama ein, der bei einem Teil der Demokraten noch sehr viel Mobilisierungspotential hat und rhetorisch äußerst begabt ist. Dazu kommt, dass Obama jeden Grund hat, gegen Trump aufzutreten, da Trump de facto alles, was Obama eingeführt hat, abschaffen wollte. Bei den Wahlen 2016 haben es alle unterschätzt, wie sehr Hillary Clinton als Repräsentantin eines unproduktiven demokratischen Establishments galt und auch aus diesem Grund die Wahl verloren hat.
Es ist möglich, dass Trump auf Grundlage der ersten Wahlergebnisse vorne liegt, sich zum Sieger erklärt und erst einige Tage später zum Vorschein kommt, dass durch die Briefwahl Biden die Wahl gewinnt.
Das Jahr 2020 war für die USA durch die Corona-Krise und die Bewegung „Black Lives Matter“ sehr prägend. Welche Auswirkung hat die Bewegung „Black Lives Matter“ auf die Wahlen?
Die Bewegung ist trotz ständiger Vorfälle zurzeit etwas in den Hintergrund getreten. Entscheidend bei dieser Bewegung war, dass es nicht nur eine Bewegung der afroamerikanischen Community war, sondern von sehr vielen Weißen, Frauen und der jüngeren Generation mitgetragen wurde. Ich glaube, diese Menschen sind sehr motiviert, zur Wahl zu gehen. Es ist jedenfalls zu erwarten, dass die Wahlbeteiligung höher liegen wird, als in den letzten Jahren.
Außerdem werden mehr Menschen per Briefwahl von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Donald Trump hingegen lässt keine Gelegenheit aus, Zweifel gegen die Briefwahl zu schüren. Was will er damit bewirken?
Das amerikanische Wahlsystem hat eine ganze Reihe von potentiellen Schwachstellen. Es sind eigentlich 50 Wahlen in 50 Bundesstaaten, die nach eigenen Regeln ablaufen. Zum Beispiel ist in einigen Bundesstaaten die Briefwahl nur bis zum Wahltag zulässig, in anderen kann der Brief bis zu 10 Tage später einlangen. Das macht die Wahl sehr unübersichtlich und das Wahlsystem hat einige Bruchstellen. Es ist möglich, dass Trump auf Grundlage der ersten Wahlergebnisse vorne liegt, sich zum Sieger erklärt und erst einige Tage später zum Vorschein kommt, dass durch die Briefwahl Biden die Wahl gewinnt. Donald Trump könnte das anfechten, der Supreme Court müsste in der Folge eine höchstrichterliche Entscheidung treffen. Eigentlich sollte man einen Kandidaten einer demokratischen Wahl, der vor der Wahl bereits sagt, dass er eine Niederlage nicht annimmt, disqualifizieren. Donald Trump hat in den vergangenen gebetsmühlenartig wiederholt, dass er nur verlieren könne, wenn die Wahl gefälscht ist. Daran erkennt man die systematische Beschädigung der demokratischen Kultur in den USA durch diesen Herrn, das ist die schlimmste Hinterlassenschaft seiner vierjährigen Amtszeit.
Es gibt einen sehr mächtigen Präsidenten, aber auch ein Gerüst von demokratischen Strukturen, die seine Macht bändigen.
Sie haben angemerkt, dass Trump die Option in den Raum gestellt hat, eine Niederlage nicht zu akzeptieren. Für wie realistisch halten Sie dieses Szenario?
Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er eine knappe Niederlage nicht anerkennt und alle möglichen Tricks anwendet, selbst gewalttätige Ausschreitungen von radikalisierten Anhängern sind nicht auszuschließen. Gegengewicht sind aber die amerikanischen Institutionen, im Sinne der „Checks and balances“. Es gibt einen sehr mächtigen Präsidenten, aber auch ein Gerüst von demokratischen Strukturen, die seine Macht bändigen. Zudem bezweifle ich, dass die republikanische Partei einen Verfassungsputsch oder eine ähnliche Strategie mittragen würde wird. Einige Menschen prophezeien einen Bürgerkrieg, das halte ich für überzogen. Es wird Auseinandersetzungen geben, Gebrüll und Chaos, aber das Grundgerüst der amerikanischen Demokratie wird stabil bleiben.
Im Vergleich zu den Wahlen 2016 scheint die Einflussnahme Russlands, zumindest in der Öffentlichkeit, keine so große Rolle zu spielen.
Die amerikanischen Geheimdienste haben durchaus ermittelt, dass Russland und etwa auch der Iran durch Internetmanipulation in den Wahlkampf eingreifen wollen. Aber in der Öffentlichkeit wurde dem Thema keine so große Relevanz eingeräumt. Dabei mag eine Rolle spielen, dass soziale Medien wie Facebook mittlerweile mehr Sicherheitsmaßnahmen eingeführt haben und beispielsweise Fake Accounts löschen. Der Großteil des Wahlkampfes wird allerdings in sozialen Medien und in lokalen Fernsehsendern ausgetragen. Schließlich werden die Wahlen nicht auf nationaler, sondern auf bundesstaatlicher Ebene gewonnen.
Viele Menschen sehnen sich nach einem Präsidenten, der die schon lange nicht mehr vereinigten Staaten von Amerika wieder zusammenführt.
Abschließend: Was beschäftigt die Amerikaner zurzeit?
Das Hauptthema ist sicher Corona. Trump hat vom Wirtschaftsaufschwung Obamas profitiert, viele neue Jobs geschaffen, Steuersenkungen durchgesetzt. Zeitweise gab es die niedrigste Arbeitslosigkeit der letzten 50 Jahre. Hätte es die Pandemie nicht gegeben, hätte er sicher bessere Chancen auf eine Wiederwahl gehabt. Jetzt fällt alles auf ihn zurück. Trump hat die Gesellschaft gespalten, vier Jahre lang gab es einen einzigen Eskalationskurs, sowohl innen- als auch außenpolitisch. Viele Menschen sehnen sich nach Entspannung, nach der Rückkehr einer überparteilichen Konsensdemokratie, die einige der tiefen politischen und sozialen Gräben wieder schließt. Nach einem Präsidenten, der die schon lange nicht mehr Vereinigten Staaten von Amerika wieder zusammenführt.