Società | für 2019

Wir, Solidarität und Europa

Mit ganz ähnlichen Botschaften haben sich Staatspräsident Sergio Mattarella und Bischof Ivo Muser zum Jahreswechsel an die Menschen gewandt.
Sergio Mattarella
Foto: Quirinale

Zwei Autoritäten, zwei Reden zum Jahreswechsel, eine Botschaft: Solidarität und Europa machten Staatspräsident Sergio Mattarella und Bischof Ivo Muser zum Inhalt ihrer Ansprachen für 2019.

 

Zuversicht ohne Furcht

Wie jedes Jahr seit 1949 richtet sich der Präsident der Republik am Sonntag, dem letzten Tag des Jahres, um 20.30 Uhr an die Menschen im Land. 12,5 Millionen Menschen verfolgen Sergio Mattarellas 14-minütigen “messaggio di fine anno” im Fernsehen und den sozialen Medien, wo die Rede live übertragen wird. Ein absoluter Rekord. In den Mittelpunkt seiner Ansprache stellt Mattarella die Gemeinschaft, den Zusammenhalt – und spricht mit Blick auf 2019 mahnende und zugleich Mut machende Worte.

“Sich als Gemeinschaft zu fühlen, bedeutet, Werte, Perspektiven, Rechte und Pflichten zu teilen. Es bedeutet, an eine gemeinsame Zukunft zu denken, die man zusammen aufbauen muss. Es bedeutet Verantwortung, jeder von uns ist Protagonist der Zukunft unseres Landes.”

Von “gegenseitigem Respekt” im Streben nach der Verwirklichung der eigenen Ideen spricht Mattarella und davon, “Missgunst, Beleidigungen, Intoleranz, Feindseligkeit und Furcht” abzulehnen.

Dann wird der Staatspräsident konkreter: Arbeit, Bildung, Chancengerechtigkeit, ein würdiges Leben im Alter, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und moderne Infrastrukturen sieht er als Grundlage für ein unbeschwertes Leben und friedliches Zusammenleben. Zugleich betont Mattarella, “die Augen vor den Schwierigkeiten, vor denen unser Land steht, nicht zu verschließen”, den Problemen aber mit “beharrlicher, zielstrebiger und weitsichtiger Arbeit” und “Worten der Wahrheit” zu begegnen. Eine Mahnung nicht zuletzt an die politisch Verantwortlichen und die demokratisch gewählten Vertreter, von denen er sich eine “konstruktive Diskussion” wünscht.

Erfreut zeigt sich Mattarella, dass das Vertragsverletzungsverfahren durch die EU im Zusammenhang mit dem Haushaltsgesetz abgewendet worden ist – und überzeugt, dass die Zukunft Italiens einzig in einem geeinten Europa liege. “Die europäische Dimension ist jene, auf die Italien für seine Zukunft setzt. In Europa wollen wir eine prestigereiche Stimme sein.” Für die anstehenden Europawahlen wünsche er sich, dass der Wahlkampf ausgeglichen und sachlich verlaufen werde “und dass die Wahlkampagne die Gelegenheit für eine ernsthafte Debatte über die Zukunft Europas sein wird”.

 

Erneut gedenkt der Staatspräsident dem jungen Trentiner Journalisten Antonio Megalizzi, der bei dem Anschlag in Straßburg getötet wurde. “Wie viele junge Menschen engagierte er sich für ein Europa mit weniger Grenzen und mehr Gerechtigkeit. Er hatte verstanden, dass die Schwierigkeiten überwunden werden können, indem das Projekt eines Europa der Rechte, der Bürger, der Völker, des Friedens, des Zusammenlebens, des Kampfes gegen den Hass, neu belebt wird.”

Auch erwähnt Mattarella die Ehrenamtlichen, die vielen Freiwilligen, die bei Naturkatastrophen zu Hilfe eilen, die Zivilgesellschaft, die “oftmals wirksamer und mit mehr menschlicher Wärme abgelegene Orte gelangt, die von den öffentlichen Institutionen nicht erreicht werden”.

In diesem Zusammenhang spricht der Staatspräsident vom “Italien, das wieder zusammennäht und das Zuversicht gibt”. “È l’‘Italia che ricuce’ e che dà fiducia.”

Seine abschließenden Glückwünsche für das neue Jahr richtet Mattarella an “alle Italiener, in der Heimat oder im Ausland”, an die “fünf Millionen Einwanderer, die in unserem Land leben, arbeiten, zur Schule gehen, Sport betreiben”, an die Sicherheitskräfte, an Papst Franziskus.

“Ho conosciuto in questi anni tante persone impegnate in attività di grande valore sociale; e molti luoghi straordinari dove il rapporto con gli altri non è avvertito come un limite, ma come quello che dà senso alla vita.”

Für seine Worte zum Jahreswechsel erntet der Staatspräsident vielfachen Applaus, vor allem in den sozialen Netzwerken – unmittelbar nach der Rede etwa unter dem Hashtag #graziePresidente.

 

Nur ein Wir

Weitaus weniger viral, aber nicht weniger eindringlich ist die Botschaft von Bischof Ivo Muser am Beginn des neuen Jahres. Die größte Herausforderung für die Südtiroler Gesellschaft für 2019 brachte Muser mit dem Appell “Das große Wir darf nicht zerfallen” auf den Punkt.

Seine Worte im Dom von Brixen: “Im neuen Jahr werden die Europawahlen stattfinden. Die Europäische Union ist nach den dramatischen Erfahrungen der Diktaturen und des Zweiten Weltkriegs gegründet worden, durchaus auch als christlich-humanistische Wertegemeinschaft. Der europäische Geist verliert heute aber an Kraft. Das Wir-Gefühl bröckelt in der Flüchtlingskrise. Das große Wir zerfällt in immer kleinere Wirs. Im Haus Europa sind die Bewohner dabei, sich wieder mehr in ihre eigenen vier Wände zurück zu ziehen. Ein ‘Vorsicht vor diesem Wir’ kann man immer häufiger hören. Eigentlich müsste es aber heißen ‘Wir, die Völker Europas’. An so einem Empfinden war Europa schon einmal näher dran. Die vielen neuen Wirs liebäugeln mit Grenzen. Die Flüchtlinge, heißt es, gehören nicht zu ‘uns’. Es macht mich als Christ betroffen, dass der Geist der Abschottung nicht selten sogar unter christlichen Vorzeichen antritt, beispielsweise um das christliche Abendland zu retten. Die christliche Identität kennt, pflegt, verteidigt und lebt die eigenen Wurzeln – im offenen und konstruktiven Dialog mit der Identität der anderen. Wird nationaler Egoismus die Oberhand behalten oder können wir – über Grenzen und Unterschiede hinweg – ein solidarisches Zusammenleben finden, gegründet auf verbindenden und verbindlichen Werten? Und eine entscheidende Frage, die mich stark beschäftigt: Wie verhalten wir Christen uns in all diesen Fragen?”

Neben dem Thema Europa sieht Bischof Muser 2019 eine zweite große Herausforderung: Die Armut.

“Wir leben in Südtirol in einem reichen Land, in einer der wohlhabendsten Regionen Europas. Und trotz allem gibt es Arme und Menschen, die von Armut bedroht sind. Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Wir müssen Armut auch in unserer Gesellschaft als eine Tatsache anerkennen und uns für Armen einsetzen. Manchmal scheint es mir, dass bewusst der Gegensatz zwischen den Werten ‘Freiheit’ und ‘Solidarität’ konstruiert wird. Nutzer von Sozialleistungen werden deshalb häufig als Parasiten betrachtet, Unterschiede beispielsweise zwischen Ausländern und der lokalen Bevölkerung werden bewusst hervorgehoben. Wie reagieren Christen darauf? Sind sie bereit, die Solidarität als Leitwert aufrecht zu erhalten, oder werden sie von Ängsten und Vorurteilen mitgerissen? Solidarität beruht vor allem darauf, verstanden zu haben, dass jeder von uns den anderen braucht.”