Wie leben?
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Da Animefilme - also japanische Animationsfilme - im Kino einem sehr straffen Terminplan folgen („Der Junge und der Reiher“/„Il ragazzo e l’airone“ ist noch heute und morgen zu sehen, Termine am Ende des Artikels), wollen wir an dieser Stelle gleich zu Wochenbeginn über den neuen Film des japanischen Animations-Altmeisters und Oscarpreisträger Hayao Miyazaki sprechen.
Wer nicht mit der Materie vertraut ist, aber dennoch Interesse verspürt, dem sei verknappend gesagt, dass es sich bei Miyazaki und dem von ihm mitbegründeten Studio Ghibli um so etwas wie das japanische Pendant zu dem, was Disney einmal war, handelt. Die „Ghibli“-Handschrift sind Animefilme, die noch zu guten Teilen handgemacht sind und digitale Möglichkeiten nur sparsam nutzen. Bei einem Film, der für seine Machart mit 125 Minuten bereits Überlänge besitzt, steckt dahinter eine Menge Arbeit. Obwohl es keine offiziellen Zahlen gibt, so können wir, wenn wir zu anderen Filmen des Studios blicken, von mehr als 150.000 Zeichnungen ausgehen. Hat sich dieser Aufwand gelohnt?
„Der Junge und der Reiher“, im Original „君たちはどう生きるか, Kimitachi wa Dō Ikiru ka“, was übersetzt in etwa „Wie lebst du?“ bedeutet, hat den bald (5. Januar) 83-jährigen Regisseur, für den dringend ein Nachfolger von ähnlichem Führungscharisma und Marketing Strahlkraft, wenn schon nicht künstlerischer Erfahrung gesucht wird, noch einmal aus dem wohlverdienten Ruhestand geholt.
Die Geschichte von einem Jungen, der auf einen Reiher trifft, welcher ihn in eine fantastische Welt voller Geister des Shintoismus führt, klingt verdächtig nach der Handlung von „Chihiros Reise ins Zauberland“, des einzigen Erfolgs des Studios bei den Oscars, wo japanische Animationsfilme gegenüber amerikanischen meist den Kürzeren ziehen.
Tatsächlich ist „Der Junge und der Reiher“ auch ein wenig eine Collage von bereits da gewesenen Ghiblifilmen der letzten Jahrzehnte und als Fan von Miyazakis Arbeit erkennt man Elemente, Hommagen, Ähnlichkeiten, die wohl auch etwa Nostalgie im Kinogänger wecken sollen. Das allein reicht für einen unterhaltsamen Film, Fans von Studio Ghibli, die im Schnitt zwei bis drei Jahre auf den Kinobesuch warten müssen, erwarten jedoch meist mehr. Zwischen diesem Aufblitzen von Kreativität im Umgang mit Motiven, die Special-Effects, die ein Kamerateam vor große Herausforderungen stellen, ist immer wieder da, stellenweise fühlt sich „Der Junge und der Reiher“ aber auch einfach langsam an.
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Etwas Zeit wendet der Film auf, um sein Setting am Rande des Weltkriegs aufzubauen: Unser junger Protagonist, Mahito, zieht zu seiner Stiefmutter aufs Land, nachdem wir in einer der Film vorangestellten Rückblende erfahren haben, dass er seine Mutter bei einer Bombardierung verloren hat. Mahito, anfänglich emotional unterkühlt gegenüber seiner neuen Mutter, Natsuko, braucht Zeit um sich einzuleben und sein Trauma zu verarbeiten.
Natsuko lässt ihm dafür wenig Raum und so beginnt Mahito sich abzusondern und eine Ecke des wunderschön verwunschen gezeichneten Gartens zu erkunden, in der eine Turmruine steht. Gerade in seinen Hintergründen zeigt uns „Der Junge und der Reiher“ seine größte Schönheit, dies und jenseits der fantastischen Welt, die der Turm verbirgt. Die „Flucht“ ins Fantastische, welche nach einer Kopfverletzung beginnt, wäre als Unterstellung allzu naheliegend, wenn sich nicht auch in dieser Dimension imperialistische Züge spiegeln würden. Die Bedrohung auf der Suche nach der vom Reiher entführten Stiefmutter ist jedenfalls real.
Ein wenig erinnert das an Guillermo Del Toros düsteres Märchen „Pans Labyrinth“, nur ist die Farbpalette eine deutlich lebhaftere und der Ausgang eher das klassische Happy End eines Märchens. Wird der fantastische Konflikt des Filmes aber auch äußerst glimpflich aufgelöst, so bleibt doch ein gewisses Unbehagen angesichts anthropomorphischer und royalistischer Sittiche, der Pilotenkabinen der berühmt-berüchtigten Mitsubishi A6M Zero (Regisseur Miyazaki hat der Luftfahrt zu Weltkriegszeiten bereits zwei Filme gewidmet), sowie Abschiedsprozessionen, die zum Krieg aufbrechen. Der Krieg bleibt ein Schatten, wir sehen ein ländliches Japan, das noch vor seinem größten Geschichtstrauma steht.
Wem ein schöner Augenschmaus reicht, der nicht genau weiß, welches seine Themen sein sollten, außer der letztlich ambivalenten Abkehr vom Fantastischen, der Abschied und das Erwachsenwerden und der Warnung vor einem zu starken Personenkult, was angesichts der Rolle Miyazakis für sein Studio passend ist.
„Wie lebst du?“, oder: Das EndeDem Willen des Regisseurs gemäß ist „Kimitachi wa Dō Ikiru ka“ in den japanischen Kinos gestartet, ohne dass es vorab eine Trailer-Kampagne gegeben hat. Diese nimmt aus Sicht des Regisseurs zusehends mehr aus einem Film vorweg und da der Name Hayao Miyazaki auf einem Kinoplakat ausreichend ist, um die Säle zu füllen, wurde ihm sein Wunsch gewährt. Der Erfolg gab dem Regisseur recht, wenngleich international, angesichts eines kleineren Zielpublikums dennoch Trailer produziert und gezeigt wurden.
Bei einem Film, der für ein Studio, das Qualitätsgarant ist, über weite Strecken ein solides Mittelmaß erreicht, ist es gerade das Ende, welches in besonderer Weise strahlt und eine Lektüre als Abschiedsbrief von Film und Literatur ermöglicht. Wer sich Film und Ende nicht vorwegnehmen möchte, dem sei geraten, hier mit seiner Lektüre abzuschließen und nach Möglichkeit auch auf den Trailer zu verzichten.
Die Frage „Wie lebst du?“, die im japanischen Original als Titel gewählt wurde, ist auch der Titel eines Romans von Yamamoto Yūzō, der die Frage am Ende nicht nur seinen Figuren, sondern auch seinem Leser stellt. Am Ende ist es der Großonkel Mahitos, der als Schöpferfigur die Parallelwelt im Inneren einer Gartenruine und außerhalb der Zeit aufrechterhält und der Mahito als seinen Nachfolger bestimmen möchte. Übernimmt Mahito diese Aufgabe, so hat die Fantasiewelt weiterhin Bestand, lehnt er sie ab, so bedeutet dies ihr Ende.
Wer mit der Geschichte des japanischen Animations-Hauses Ghibli vertraut ist, der weiß, dass eine solche Generationen-Übergabe auch im Inneren von Studio Ghibli versucht wurde. Hayao Miyazakis Sohn Gorō wurde lange Zeit als möglicher Nachfolger seines Vaters gehandelt, stand jedoch immer im Schatten des Vaters und musste sich dem harten Vergleich stellen. Seine Filme bieten gutes Unterhaltungskino, ihnen fehlen allerdings jene universellen Qualitäten, die Ghibli Filme für ein junges und erwachsenes Publikum gleichermaßen ansprechend machen.
Als Mahito schließlich beschließt, nicht die Nachfolge seines Großonkels anzutreten, versteht dieser seine Entscheidung auch. Da Hayao Miyazakis Filme häufig ohne ein genaues Drehbuch entstehen und der Regisseur allmählich zur Handlung seiner Filme findet, wirkt diese Entscheidung, als hätte sich Miyazaki erst zu ihr durchringen müssen. Das „Zauberland“ zerfällt und der junge Mahito nimmt lediglich einen kleinen Baustein mit und einige schwindende Erinnerungen an das übernatürliche Erlebnis.
Es wirkt so, als würde ein Vater zu seinem Sohn sagen: „Du musst nicht in meinen Fußstapfen gehen, aber ich weiß, du kannst es.“
Das Cineplexx Bozen zeigt „Der Junge und der Reiher“ heute, 2. Jänner, sowie morgen und übermorgen jeweils um 18.45 Uhr. Im Cineplexx Algund ist der Film heute und morgen um 18.30 Uhr zu sehen. Die italienische Synchronfassung des Films „Il ragazzo e l’airone“ hat das UCI Kino im Bozner Einkaufszentrum Twenty heute und morgen, jeweils um 16.30 und 19.30 Uhr im Programm.