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Südtirols ABC der Analphabeten

In Südtirol haben rund 40.000 Menschen größere oder kleinere Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Ein Blick in die Welt des Analphabetismus und die Gegenmaßnahmen.
Analphabetismus
Foto: upi
Rund 40% der italienischen Bevölkerung haben Probleme mit dem Lesen- und Schreiben. 0,3% der SüdtirolerInnen sind laut ASTAT-Bericht (2019) AnalphabetInnen. Dies liegt unter dem nationalen Anteil von 0,6% (laut OECD-Bericht) und scheint vorerst nicht sonderbar alarmierend.
Analphabetismus ist jedoch nicht gleich Analphabetismus.
Das beunruhigende, weitreichendere Problem besteht im sogenannten funktionalen Analphabetismus“, sagt Sonja Logiudice, Beauftragte für Sprachenförderung im Landesamt für Weiterbildung.
Als funktionaler Analphabetismus oder Illettrismus wird die Unfähigkeit bezeichnet, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es im sozialen Kontext als selbstverständlich angesehen wird. Funktionale Analphabeten sind Menschen, die zwar Buchstaben erkennen und durchaus in der Lage sind, ihren Namen und einige wenige Wörter zu schreiben, die jedoch den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht oder nicht schnell und mühelos genug verstehen, um praktischen Nutzen davon zu haben. Eine feste Grenze zwischen „verstehen“ und „nicht verstehen“ existiert dabei nicht.
 
 
„In Südtirol gibt es gerade hier eine eine problematischen Dunkelziffer“, ist sich Sonja Logiudice sicher. Der Grund dafür sind die die gesellschaftlichen Tabuisierung sowie die Scham und Angst der Menschen hier Eingeständnisse zu machen. Fachfrau Logiudice: „Beide Faktoren verstärken sich gegenseitig und machen es schwer Erhebungen anzustellen und Gegenmaßnahmen zu entwerfen“.
Diese These bestätigt auch Sven Nickel, Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen. Nickel erklärt, dass die Schwierigkeiten im Erfassen und Bekämpfen des funktionalen Analphabetismus bereits im Begriff selbst liegen: „Primäre AnalphabetInnen sind Menschen, die nicht des Alphabetes und der Buchstaben mächtig sind. 'Funktionaler Analphabetismus' heißt, dass betroffene Menschen sehr wohl Lese- und Schreibkompetenzen haben. Aber diese Kompetenzen sind so deutlich niedriger als der gesellschaftlich-institutionelle Erwartungsstandard, dass diese nicht funktional eingesetzt werden können“, meint der Brixner Uniprofessor. Diese Menschen können also die Funktion von Schrift nicht nutzen.
 

Ungenügendes Angebot?

 
Rund 400 Menschen haben in Südtirol in den letzten Jahren das Bildungsangebot für verschieden-gradige AnalphabetInnen, unterschiedlicher Altersstufen vonseiten der Landes- sowie von Privatinstitutionen genutzt. Laut Istat-Erhebung leben allerdings allein in der Stadt Bozen rund 340 deklarierte Primäranalphabeten.
 
 
Projekte zur Basisalphabetisierung, wurden vor allem als Antwort auf „die Notwendigkeit der Durchführung von Alphabetisierungskursen getrennt nach totalem und funktionalem Analphabetismus“ initiiert, die bereits im Jahre 2002 in einer Studie vonseiten des Amtes für Weiterbildung erhoben wurde. Das Angebot zur Basisalphabetisierung ist dabei vorwiegend auf ImmigrantInnen orientiert. „Analphabetismus darf kein Tabu-Thema sein“, gab Bildungslandesrat Philipp Achammer bereits 2014 bei der Vorstellung des Buches „Nix lesen, nix schreiben, nix gut", herausgegeben vom Landesamt für Weiterbildung die Politik der Landesregierung vor.
 

Keine genauen Zahlen

 
„In Südtirol gibt es schlichtweg keine repräsentativen Daten, wie etwa in Deutschland, also fallen konkrete Aussagen schwer“, sagt Bildungswissenschaftler Sven Nickel
Wenn man allerdings die Quote von Deutschland auf die Bevölkerung Südtirols, im arbeitsfähigen Alter von 18-65 Jahren, umrechnet, ergäbe dies grob 40.000 AnalphabetInnen diverser Grade, über alle Sprachgruppen verteilt. ImmigrantInnen, ältere Generationen und SchülerInnen ausgenommen. Nickel präzisierte zwar, dass es sich hier zwar um eine Hypothese handle und nicht um eine präzise Erhebungen, dennoch sollten diese Zahlen zu denken geben.
 
 
 
In Deutschland liegt der Kompetenzgrad im Lesen und Schreiben laut LEO-Studie (2018) von 20,5% der Gesamtbevölkerung auf Grundschulniveau.  „Es ist jedoch Vorsicht bei der Übertragung von Zahlen auf die Südtiroler Situation geboten“, meint Sonja Logiudice. Das Hauptaugenmerk zur Bekämpfung des Analphabetismus liegt auch in Südtirol auf der Schule.
Denn die Schule ist gleichsam Ursprung und Lösung des Problems des funktionalen Analphabetismus. „Prävention ist ein wünschenswerter Appell, der jedoch an die Schulen gerichtet werden muss“, meint Logiudice.
 

Die Gegenmaßnahmen

 
Das Landesamt für Weiterbildung pflegt seit langem einen regen Austausch mit verschiedenen inländischen sowie ausländischen ExpertInnen im deutschsprachigen Raum, wie etwa mit der Volkshochschule Kärnten und Burgenland, mit dem Schweizer Dachverband für Lesen und Schreiben, mit dem deutschen Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung. Dabei geht es um Strategien zur Intervention. „Noch halten sich die Gespräche wage, jedoch soll baldmöglichst ein Angebot für diverse Basisqualifikationen in Südtirol ausgearbeitet werden“, so Logiudice.
Die wichtigsten Fragen werden dabei sein: „Wie kann man die Menschen erreichen? Wie kann man das Verständnis um die Wichtigkeit der Lese- und Schreibkompetenzen fördern? Wie soll klargemacht werden, dass Lese- und Schreibkompetenzen oftmals nicht genügen und verbessert werden müssen? Wie zeigt man die Freiheit auf, die durch den alltäglichen Gebrauch von diesen Fähigkeiten ermöglicht wird?
 

Hürde Mehrsprachigkeit

 
In Südtirol stellt sich zudem die natürliche Frage, ob das Problem durch die Mehrsprachigkeit in diesem Land noch zusätzlich erschwert wird. Die Mehrsprachigkeit ist - laut den Experten - aber keine entscheidende Komponente des funktionalen Analphabetismus. „Es sind Faktoren, wie ein bildungsfernes Elternhaus, traumatische Erfahrungen in der Schulzeit, Versäumnisse im Unterricht, Krankheit oder geringe Bildungsgrade, die dieses Problem bedingen“, sagt Sonja Logiudice.
Sehr wohl aber erschwere die Diversität der Sprachgruppen die Angebotsgestaltung, den Ausbau für Anlaufstellen und das Eingehen auf spezifische Bedürfnisse. Lodiudice: „Etwa sehe ich ein Problem in der Trennung unserer Ämter“.
 
 
 
Deutlich wird das in der täglichen Praxis. Ihr Amt in der Abteilung für deutsche Kultur ist zuständig für Deutsch als Muttersprache und Italienisch als Zweitsprache zudem deckt es auch die ladinische Sprachgruppe ab. Umgekehrt beantwortet die Abteilung für italienische Kultur die Bedürfnisse der italienischen BürgerInnen. „Doch verfolgen wir das gleiche Ziel und könnten von einer Zusammenarbeit profitieren“, so die Sachbearbeiterin für Sprachförderung.
Die Frage nach der Perspektive im Bildungssektors bleibt vorerst noch unbeantwortet. Nicht nur in Südtirol.
Im Jahre 2017 verfassten 600 Universitätsdozenten und 85 Linguisten einen offenen Brief an das italienische Bildungsministerium, in welchem die gravierende Unfähigkeit der Mehrheit von StudentInnen, in ihren Lese- und Schreibfähigkeiten, beklagt wurde.
Der Brief bleibt bis heute unbeantwortet.

 

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Martin Sitzmann Ven, 02/04/2022 - 11:45

Ein bisschen Geduld wird's halt schon brauchen, wenn man dem Ministerium schreibt. Ist ja erst 5 Jahre her, seit der Brief geschrieben worden ist - und dann muss man noch die Zeit für den Postweg einkalkulieren...

Scherz beiseite: An bestimmten bildungsfernen Familien beißt sich die Schule ganz einfach die Zähne aus. Nutzlos, das wegzudiskutieren oder ignorieren zu wollen. Prävention durch Schulbildung hilft nicht immer bzw. greift bei manchen Schüler*innen einfach nicht.
Und wenn ich mir so manche Pressemitteilung oder Anfrage im Landtag anschaue, dann befürchte ich, dass auch dort der eine oder die andere funktionale Analphabet*in am Werk ist. Man kann es also auch so zu etwas bringen...

Ven, 02/04/2022 - 11:45 Collegamento permanente