Società | Anonyme Hassgefechte

Ziviler Umgang als kulturelle Leistung

Die Menschen zeigen trotz zivilisatorischer Fortschritte ein erstaunliches destruktives Potenzial, wenn sie unreflektiert ihre Meinung kundtun.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale dell’autore e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
  • Das Ich ist ein mächtiger Filter in der Wahrnehmung der Ereignisse und der Handlungen und Meinungen anderer. Spontan wird immer wieder ausgesiebt, ob und wie Geschehnisse und Einstellungen anderer Menschen zum eigenen Weltbild oder dem eigenen kleinen Schrebergarten an Überzeugungen und vorgefassten Meinungen passen. Das Internet bietet Plattformen, wo dieses Reaktionsmuster ausprobiert und beharrlich wiederholt wird. Wer sich mit vielen anderen in Gesellschaft befindet, die genauso drauflospoltern, nimmt das als erfolgreiche Bestätigung der eigenen Handlungsweise wahr, als Labsal für das eigene Weltbild und die tieferliegende Frustration und Unzufriedenheit. Die Allianz der anonymen Heckenschützen untermauert sich gegenseitig in der Auffassung, dass andere etwas falsch gemacht haben und schiebt ihnen die Schuld an der Nichteinlösung eigener Ansprüche und Wunschvorstellungen in die Schuhe. 

    Zum Abschuss freigegeben

    Die Überzeugung, Recht zu haben, ist eine mächtige gemeinsame Identifikationskraft, die dazu verleitet, anderen Standpunkten jede Berechtigung abzusprechen und deren Verfechter:innen auszugrenzen und verbal zum Abschuss freizugeben. Die Personen selbst nicht zu kennen ist von Vorteil, da in diesem Fall weniger Hemmungen in der verbalen Auslassung bestehen. Richten sich die Attacken gegen Institutionen, so können sie darauf bauen, dass es seit Jahrzehnten üblich geworden ist, diese aufgrund tatsächlicher oder angedichteter Versäumnisse und verfilzter Misswirtschaft von Links (Beppe Grillo) wie von Rechts (Umberto Bossi) oder aus institutionellen Positionen heraus (Silvio Berlusconi) partout in Frage zu stellen und zu verteufeln. Die verbale Gewaltbereitschaft gibt in ihrer Wiederholung und Zuspitzung der darunterliegenden Bereitschaft zur physischen Gewaltausübung Ausdruck. Hierfür werden eigene institutionelle Rahmensetzungen konstruiert, innerhalb derer die Gewaltausübung dann den Charakter einer legitimen Wehrhaftigkeit dank demokratischer Mehrheiten bei Wahlen oder punktuellen plebiszitären Handlungsmandaten für deren Leitfiguren erhält.

    Ethik und Fairness als kulturelle Leistung

    Die Welle an Hasspostings hat auch einen positiven Erkenntniswert. Das Ausufern rüder Umgangsformen und grenzwertiger Postings und Statements verdeutlicht, dass zivile Formen der Auseinandersetzung und die konstruktive Abwägung der für ein Problem konstitutiven unterschiedlichen Gesichtspunkte und Faktoren unter Beachtung ethischer Grundsätze, rechtlicher Rahmensetzungen und Schutzbestimmungen für die Würde der Menschen und der Institutionen eine kulturelle Leistung sind. Die Gesellschaft muss immer wieder neu die entsprechenden gemeinsamen Handlungsgrundsätze aktualisieren und von ihrem Wertehintergrund her auf den Prüfstand stellen. Sie muss sich vergewissern, ob die Inhalte unter den Labels von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Justiz und Journalismus dem Gemeinwohlinteresse und dem errungenen zivilisatorischen Niveau entsprechen. Hierfür braucht es Menschen und Institutionen, die ihre Stimme erheben und der Welt den Weg aufzeigen, wie sie die verbreitete Geistlosigkeit überwinden und blindwütige regressive Ausfälligkeiten eindämmen kann. Im Kleinen wie im Großen müssen wir zur Besinnung kommen, dass Konflikte in einem zukunftsträchtigen Rahmen beigelegt werden können, der die zivilisatorische, sprich kulturelle Tradition des Humanismus und der Demokratie festigt und weiterentwickelt.