Società | Salto-Gespräch
„Sei kämpferisch und wählerisch“
Foto: Thomas Wiedenhofer
Sie liegt auf der Ofenbank, drei Polster hat ihr die Hauspfegerin unter den Kopf gestopft. Bequem kann es nicht sein, die Bank ist schmal. Vor Kurzem hat sie sich den Oberschenkel gebrochen. Doch Anna Notdurfter Stolzlechner jammert nicht.
Nur der Körper habe nachgelassen, entschuldigt sie sich, im Kopf sei sie hoffentlich noch die Alte. Sie strahlt eine Zufriedenheit und eine Stärke aus, als wäre sie immer noch die junge, von den Männern verehrte Hüttenwirtin, die sie einst war, eine Frau, die die Freiheit liebte, sich bewusst Männer für ihre Kinder suchte, sich jahrelang als Oppositionelle im Gemeinderat behauptete, die jeder Witterung trotzte, die wusste, dass sie anders war.
Anna Notdurfter Stolzlechner: Der Papst hat zu den Kardinälen gesagt, sie sollen sich die Unterhosen selbst waschen, denn er wäscht sie sich auch selbst. Deswegen habe ich von Fran- ziskus ein Bild hier in der Stube hängen. Er hat den Frauen die Würde zurückgegeben, dass wir nicht immer zur Verfügung stehen müssen.
Astrid Kofler: In den meisten Stuben hängt aus Tradition das Bild des aktuellen Papstes und unseres Landes-Bischofs?
Ich habe einen tiefen Glauben. Aber aus Tradition hängt bei mir nichts. Der Benedetto war ein Deutscher, also habe ich ihn nicht gemocht und so hing er auch nicht in meiner Stube. Ich war während des Nationalsozialismus zwei Jahre in Lorch, das ist bei Stuttgart, offiziell war es eine Bauernhochschule, inoffiziell wurde dort Nationalsozialismus gelehrt. Da waren wir 70 Südtiroler, von denen ich die Jüngste war. Dort ist mindestens einmal im Monat einer
von der Reichsjugendführung gekommen und hat gesagt, sie seien das Herrenvolk und wir seien nur Volksdeutsche. Das habe ich nie vergessen.
Mit dabei beim Interview ist der Künstler Lois Steger, er kennt die „Wiesa-Nanne“ seit Ewigkeiten, sie waren Nachbarn, sein Vater war Knecht am Hof ihres Vaters. Mit Christian, einem ihrer Söhne, hat er die Schule besucht und Beatles gehört. Sie hatten wie diese lange Haare, was seinerzeit den Pfarrer veranlasste, sie ihnen mit dem Feuerzeug anzuzünden. Christian Stolzlechner ist am 2. Juli 1984 gestorben.
Der Lois hat mehr Glück gehabt im Leben, obwohl er einiges in den Bergen riskiert hat. Von seinem Jahrgang sind schon mehrere gestorben, nicht nur der Christian. Der ist umgebracht worden in München. Das ist lange her. Er war Nachtportier in einem Hotel, und nach dem Nachtdienst ist er meist einen Kaffee trinken gegangen in dem Lokal nebenan, das war ein jüdisches Lokal. Das war die Zeit der Brandanschläge in Deutschland. Er war noch so jung, erst 28. Just als er sich niederließ, um die Zeitung zu lesen und den Kaffee zu trinken, kamen die Attentäter ins Lokal, er ist hinter den Ladentisch, um die Kellnerin zu schützen, da explodierte ein Sprengsatz, sie hat es durch den Druck hinausgeworfen, ihm hat es die Lunge zerrissen und er ist gestorben. Wer den Anschlag verübt hat, das ist nie geklärt worden, in den Zeitungen stand nur wenig, ich bin wohl hinaus nach München und habe mit dem Kommissar gesprochen, er hat gesagt, der Täter war ein ausländischer Journalist, aber ich habe es ihm nicht geglaubt. Und ich habe dann auch nicht mehr nachgefragt, das hätte ihn nicht ins Leben zurückgeholt.
Sie haben immer gewusst, dass ich ein bisschen eine Eigensinnige bin.
Die „Dolomiten“ berichteten am 6. Juli 1984 in zwei kurzen Spalten über den Vorfall. „Prettauer in München verbrannt“, lautete der Titel. Nach einem Streit wegen einer angeblich überhöhten Rechnung hätte ein türkischer Journalist in der Madam-Bar im Zentrum Münchens einen Brand gelegt, sei geflüchtet, nach acht Stunden aber festgenommen worden. Während die anderen Gäste ins Freie eilten und mit geringen Verletzungen davonkamen, wollte der Südtiroler Christian Stolzlechner, der in einem benachbarten Lokal als Kellner arbeitete, gegen das Feuer angehen. Seine Hilfsbereitschaft wurde ihm zum Verhängnis. Die Männer der Berufsfeuerwehr konnten nur mehr seine Leiche bergen.
Er war der Einzige, der bei diesem Anschlag gestorben ist. Das Mädchen hat überlebt. Zum Begräbnis sind zwei seiner Kollegen gekommen, die waren auch dabei, die haben es überlebt, da sie schnell geflüchtet sind. Sie haben mir gesagt, wenn sie ihm geholfen hätten, die Kellnerin hinter dem Ladentisch herauszuholen, hätte er wohl überlebt. Aber im ersten Affekt sind sie ohne nachzudenken davongerannt. Sie sind zum Begräbnis angereist und haben geweint. Es war ein Brandanschlag, da es ein jüdisches Lokal war, sagten sie. Es war vorsätzlich eine brennbare Flüssigkeit entzündet worden. Was wahr ist, das ist leider allzu oft relativ. Ich vermute, es waren Deutsche. Geklärt wurde das nie.
Sie beendet das Thema, indem sie versucht, sich ein bisschen aufzusetzen. Lois richtet die Polster unter dem Kopf und dem Rücken. Sie schenkt ihm einen langen warmen Blick. So könne der Fotograf dann auch gerne die Fotos machen, sagt sie, sich eigens auf einen Stuhl setzen möchte sie nicht. Sie sei nicht fotogen, sagt sie, sie sei dafür, ehrlich zu sich selbst zu sein.
Sie können Notdurfter auch mit h schreiben, das ist gleich, die meisten schreiben es mit h, in meinem Ausweis steht es ohne h. Mein Bruder hat in Brixen das Vinzentinum besucht und mein Vater hat ihn angestellt herauszufinden, wo der Name herkommt, damals hat es ja einen arischen Nachweis gebraucht. Väterlicherseits kommen wir von Ungarn, wir haben dreimal Schreibnamen gewechselt, wir schreiben unser Notdurfter ohne h. Verheiratet hieß ich Stolzlechner. Ich war nur einmal verheiratet, über 50 Jahre, es war eine Vernunftehe, mein Mann war zwölf Jahre jünger als ich, er wollte nicht einrücken, so haben wir geheiratet, ich hatte bereits zwei Kinder. Das waren aber nicht Kinder von ihm, das ältere, eine Tochter, heißt Notdurfter, das jüngere Stolzlechner. Mein Mann, der Lois, war bei uns Knecht, und mein Sohn hat ihn sehr gerngehabt, so haben wir uns dazu entschieden, ihm seinen Namen zu geben. Ja, das mit den zwei ledigen Kindern war so eine Idee von mir, sie sind mir nicht passiert, ich habe mich für sie ganz bewusst und aus ganzem Herzen entschieden.
Ich bin allerdings keine Kirchengeherin.
Das wichtigste Fach in der nationalsozialistischen Schule war der arische Nachweis. Und da wurde man angewiesen, darauf zu achten, dass man einen Vater für die Kinder erwischt, der Arier ist. Jene, die viele Haare auf der Brust hatten – so sagte man uns –, wären keine Arier. Alles Mögliche sagte man uns.
Mich interessierte nicht, dass es Arier waren, aber ich beschloss damals, mir die Väter meiner Kinder auszusuchen, weil viele Kinder wollte ich immer schon haben und ob die Väter dann auch anwesend waren, das war mir nicht so wichtig. Mein Vater hat sich auch nicht viel um mich gekümmert, deshalb hatte ich auch keinen Bezug zu ihm. Ich habe so gelernt, dass der Vater nicht anwesend sein muss, damit aus den Kindern etwas wird, und so habe ich auch die Väter meiner Kinder nach dem Ausleseprinzip gesucht. Und ich habe zwei gute Väter gefunden für meine zwei ersten Kinder. Die sind neun Jahre auseinander. Die nächsten fünf Kinder waren dann von meinem Mann. Insgesamt habe ich sieben Kinder.
Sieben Kinder, drei Männer ...
Mindestens drei. (Sie lacht.)
Sie waren eine besondere Frau. In Ihrer Generation ...
Ja, ich denke schon, ich war schon in der Schule ein wenig anders. Und auch als Lehrerin war ich anders. Ja, ich war auch Lehrerin. Gleich nach der Option habe ich begonnen zu unterrichten. Ich selbst war ja noch minderjährig und so hat mein Vater für mich gewählt, für Reichsdeutschland. Ich habe Deutsch unterrichtet, die Kinder der Optanten, die sich für die Abwanderung entschlossen hatten, die hatten zuvor ja noch nie Deutsch in der Schule gelernt und sollten nun vorbereitet werden für die Zeit in Österreich oder Deutschland. Und 1943, nach dem Einmarsch der Deutschen, sind mir die Kinder der Dableiber, die das Italienische gewählt hatten, überstellt worden. Ich habe gerne unterrichtet, aber der Pfarrer hat mir das Lehrerin-Sein verdorben. Ich habe gerne Hosen getragen. Ich bin unter Buben aufgewachsen und habe mich immer gut mit ihnen verstanden. Da hat er zu mir gesagt, wenn ich hier als Lehrerin arbeiten möchte, soll ich mir einen Kittel anlegen und nicht Hosen, so habe ich nach Kriegsende 1945 das Unterrichten sein lassen. Nicht wegen des Kittels, denn der wäre nicht das Problem gewesen. Aber ich wollte mir von ihm keine Vorschriften machen lassen. Von niemandem.
Der Pfarrer hat er zu mir gesagt, wenn ich hier als Lehrerin arbeiten möchte, soll ich mir einen Kittel anlegen und nicht Hosen, so habe ich nach Kriegsende 1945 das Unterrichten sein lassen.
Sie hatten gerade das 16. Lebensjahr vollendet, als Sie schon zu unterrichten begannen?
Ja, ich war nur ein paar Jahre älter als viele meiner Schüler, aber ich hatte für damalige Zeiten eine fundierte Schulbildung genossen. Vor Lorch hatte ich zwei Jahre eine Klosterschule besucht, ich war ein Jahr im Elisabethinum in Bozen und das andere im Sacre Coeur in Mühlbach.
So eine fundierte Ausbildung war nicht üblich damals.
Mein Vater, das haben sie immer gesagt, war der reichste Mann vom ganzen Tal, und unser Gasthaus Wieser das beste bis nach Sand. Deswegen habe ich diese Schulen besuchen dürfen. Dass er reich war, das habe ich aber nur gehört, ich habe mit den Knechten und Mägden gegessen und habe genauso wie diese Schafe und Kühe gehütet. Aber natürlich war mir bewusst, dass viele gerne weiter in die Schule gegangen wären – mit 14 war man ja ausgeschult –, doch hat den Familien das Geld gefehlt. In Gottes Namen ja, mein Vater hatte das Geld für unsere Ausbildung, aber mit den Klosterfrauen bin ich trotzdem nicht zurechtgekommen.
Und nach dem Unterrichten?
In der Zwischenzeit hatte ich die Heidi, meine erste Tochter, 1947 ist sie geboren, da war ich dann daheim bei meinen Eltern.
Sie wollten Heidis Vater nicht heiraten?
Er war bereits verheiratet. Und auch den zweiten habe ich nicht geheiratet, der zweite stammte aus einer sehr bekannten Familie aus Mailand, er war Offizier. Der erste war ein Graf. Meine Tochter, die Heidi, kennt ihren Vater und dessen Verwandtschaft, und auch seine Neffen und so, die würden mich alle gerne kennenlernen, aber ich will das nicht, ich wollte das nie. Weil meine Gefühle so groß waren. Und verletzlich. Das hätte ein „Gitratsche“ gegeben und ein „Gfratschle“, das war besser so. Ich ging – als ich merkte, dass ich schwanger war – für ein Jahr nach Venedig, ich bin dorthin geflüchtet, da ich in der Familie des Grafen keinen Unfrieden stiften wollte. Er war ja von hier, vom Ehrenburger Schloss. Das war ja alles so nah beieinander. Ich hatte während des Krieges in St. Sigmund unterrichtet und habe ein bisschen Zither gespielt, na ja, ich glaube, sogar sehr gut gespielt, und an einem Abend habe ich eben wieder gespielt im Gasthaus in St. Sigmund, denn da habe ich als Lehrerin gewohnt, dann sind ein paar Leute reingekommen und unter ihnen war der Graf. Ich habe es sofort gespürt, Vorsicht, der ist gefährlich. Und er ist direkt zu mir gekommen und hat mich geduzt, dann hab ich gesagt: „Bittschie, i konn mi net erinnon, mit Ihnen Fockn gihietit zi hobm.“
Ich habe ihn zurechtgewiesen und gehofft, dass er nicht mehr kommt, ich habe immer versucht, ihn auf Distanz zu halten, ich bin eigens mit dem Fahrrad zu unseren Treffen gefahren und nie mit ihm gemeinsam im Auto, weil ich wusste, dass er mir gefährlich werden würde. Aber dann ist er doch der Vater meines ersten Kindes geworden. Seine Familie wusste davon und einer, der noch hier wohnt, hat mir gesagt, sie wüssten auch, dass ich die Liebe seines Lebens war. Das habe ich schon auch gespürt, dass ich das war, ich wollte aber nicht seiner Familie schaden, er war schon verheiratet und hatte bereits vier Kinder. So bin ich dann weg.
Ich habe ihn zurechtgewiesen und gehofft, dass er nicht mehr kommt, ich habe immer versucht, ihn auf Distanz zu halten, ich bin eigens mit dem Fahrrad zu unseren Treffen gefahren und nie mit ihm gemeinsam im Auto, weil ich wusste, dass er mir gefährlich werden würde. Aber dann ist er doch der Vater meines ersten Kindes geworden. Seine Familie wusste davon und einer, der noch hier wohnt, hat mir gesagt, sie wüssten auch, dass ich die Liebe seines Lebens war. Das habe ich schon auch gespürt, dass ich das war, ich wollte aber nicht seiner Familie schaden, er war schon verheiratet und hatte bereits vier Kinder. So bin ich dann weg.
Sie sind nach Venedig gegangen, um Ihre Schwangerschaft zu verheimlichen.
Ich bin mit der Tochter der Walde-Zuckerlefabrik hinuntergestartet und habe dort als Dolmetscherin gearbeitet, ich wollte gemeinsam mit ihr Englisch lernen und habe Deutsch und Italienisch übersetzt. Ich bin auch gegangen, um ein bisschen ein Aben-teuer zu erleben. Und sie war gleich wie ich. Wir waren neugierig auf das Leben, wir wollten anderes kennenlernen, ich meine nicht Abenteuer mit den Männern, das nicht, die haben wir immer auf Distanz gehalten.
Die Heidi ist dann in Cadore geboren. Als ich gemerkt habe, dass es so langsam so weit ist, bin ich dorthin, in ein ganz einsames Haus, dort war so eine alte Tante, die war Hebamme und hat uns ganz gerngehabt, zu ihr bin ich zum Entbinden. Der Vater von der Heidi hatte mir wohl ein Zimmer reserviert in Cortina, damit es mir an nichts fehlen würde, aber ich wollte das nicht annehmen. Ich wollte ganz unabhängig sein, so war ich immer.
Christian, mein zweites Kind, der Sohn des Offiziers, kam neun Jahre später. In der Zwischenzeit hatten meine Brüder all unsere Besitztümer ins Spielcasino getragen, wir hatten gar nichts mehr. Wir hatten alles verloren und deshalb habe ich dann auch geheiratet. Er hatte einen Vorteil davon – dass er eben nicht einrücken musste – und ich auch. Da war keine Liebe im Spiel. Wäre das mit den Brüdern nicht gewesen, hätte ich niemanden gebraucht, dann hätte ich für meine Kinder und mich selbst den Lebensunterhalt verdient, dann hätte ich mir weiter Väter für meine Kinder gesucht, so wie ich sie gerne gehabt hätte.
Die Männer haben uns Frauen ja auch nur als Gebrauchsgegenstände behandelt, der Unterschied war nur der, dass die Geistlichkeit das Anliegen der Männer gutgeheißen hat.
Sie hätten sich noch weitere Väter gesucht?
Ja sicher. Die Väter haben bei mir nur einen Zeugungsauftrag gehabt, sonst keinen. Natürlich mochte ich sie, aber ich wollte sie nicht binden, und ich wollte mich nicht binden. Ich wollte Kinder. Die Männer haben uns Frauen ja auch nur als Gebrauchsgegenstände behandelt, der Unterschied war nur der, dass die Geistlichkeit das Anliegen der Männer gutgeheißen hat. Das habe ich dem Pfarrer schon einmal sagen müssen, als er mir die Kommunion brachte, ihr Geistlichen habt uns Frauen zu Gebrauchsgegenständen degradiert. Und in einer Ehe war das dann noch schlimmer. Und er hat mir recht gegeben. Aber diese Zeiten sind jetzt hoffentlich vorbei.
In der Vernunftehe kamen noch fünf Kinder.
Ich habe gerne Kinder gehabt, ich wollte immer viele Kinder haben. Mein Mann ist 2007 gestorben, auch wenn er jünger war. Er war immer fest davon überzeugt, dass ich früher sterben würde als er, da ich ja viele Jahre älter war als er – das war auch nicht üblich früher, meist war der Mann älter. Und auch geraucht habe ich, die „Nazionali“. Und wie ich geraucht habe! Mindestens 20 Zigaretten am Tag, das war zu dieser Zeit auch nicht selbstverständlich, dass Frauen geraucht haben.
Und was haben Ihre Eltern und die Leute im Dorf dazu gesagt, dass Sie zwei ledige Kinder hatten, Hosen trugen, Zigaretten rauchten ...
Sie haben nichts gesagt, zumindest nicht zu mir. Sie haben immer gewusst, dass ich ein bisschen eine Eigensinnige bin.
Aufgewachsen ist sie im Gasthaus Wieser, neben dem Gasthof Kasern das bekannteste zwischen Sand in Taufers und dem Talschluss. Ihr Vater Johann Notdurfter, Wirt und Hofbesitzer, war eine Persönlichkeit, er war der erste Feuerwehrkommandant, er war so etwas wie ein Ortvorsteher in der nationalsozialistischen Zeit, sagt sie, und er gründete den Skiclub. Beim Gasthaus Wieser gab es auch einen der ersten Skilifte, noch lange vor der Eröffnung des Skigebiets Speikboden. Hierher kamen viele Touristen, auch angezogen von den Heilerfolgen
des weltweit bekannten Arztes Dr. Anton Mutschlechner, der von 1920 bis zu seinem Tod 1977 in Sand in Taufers Leber-, Gallen- und Nierenleiden seiner teils betuchten Patienten behandelte.
des weltweit bekannten Arztes Dr. Anton Mutschlechner, der von 1920 bis zu seinem Tod 1977 in Sand in Taufers Leber-, Gallen- und Nierenleiden seiner teils betuchten Patienten behandelte.
Was ich noch sagen wollte, den Tölderer Dialekt, den muss man pflegen und hochhalten, das ist eine altangelsächsische Sprache, das sollte man nicht vergessen. Deswegen sagen wir auch „lissn amo“, und listen ist ja englisch für zuhören. Ich halte den Dialekt hoch. Als ich im Krankenhaus war, hatten die eine Freude mit mir wegen meines Dialektes, auch wenn sie mich nicht immer verstanden.
Euer Gasthaus Wieser in Prettau gibt es nicht mehr?
Jemand hat es gekauft, aber es wurde nicht weitergeführt. Und gebrannt hat es auch einmal. Früher bin ich noch manchmal vorbei, das hat mir aber nicht gutgetan. Jetzt mit meinem kaputten Bein kann ich nicht mehr hin und es ist auch gut so.
Haben Sie im Gasthaus auch bedient?
Nein, Leute bedient habe ich nicht gerne, ich habe meist in der Landwirtschaft gearbeitet, bei diesem Gasthaus war ein Hof dabei. Als ich zurückgekommen bin, kümmerten sich meine Eltern um Heidi, die haben sie gut aufgenommen. 1950 und 1951 dagegen pachtete ich die Schwarzensteinhütte, das war die schönste Zeit in meinem Leben. Ich hatte drei Träger, die brachten das Brennholz, das Essen, die Getränke, damals wurde alles getragen, es gab ja noch keine Hubschrauber. Damals war die Aussicht noch schöner, damals war ja auch der Gletscher noch viel größer. Ein Pater hat mir einmal einen Wein raufgetragen, daran erinnere ich mich noch gut, der hat sich aufgeschenkt und mir aufgeschenkt und wieder sich aufgeschenkt und wollte mich zum Trinken motivieren, ich habe ihm gesagt, Wein schmecke mir nicht und er solle auch nicht so viel trinken, denn der Weg herauf und wieder hinunter war kein einfacher. Er hat mir erzählt, wo er überall gewesen sei und was er alles schon erlebt und gemacht habe, und dass das Gläschen Wein doch wirklich kein Problem sei, und schließlich hat es ihn dann doch über die Kluft hinausgeworfen. In den Bergen muss man vorsichtig sein.
Wieso waren die zwei Jahre als Hüttenwirtin die schönsten Ihres Lebens?
Die Gäste haben mir immer geholfen, egal was man gebraucht hat. Um Wasser zu haben, mussten wir immer wieder die Leitung verlegen und niemand hat die Arbeit gescheut, man war füreinander da, hat sich geholfen. Wir waren eine Familie. Damals gab es noch nicht so viele Wanderer wie heute, da hat man sich gekannt. Damals sind sie vor allem von drüben gekommen, die Zillertaler, da ich den Ruf hatte, einen guten Wein zu haben. Ich bin nur
für zwei Jahre oben geblieben, da dann mein Bruder Hüttenwirt machen wollte, aber er blieb nur für ein Jahr. Weil zu verdienen gab es nichts. Oft waren wir auch im Sommer eingeschneit, es gab ja auch noch das „Kees“, den Gletscher, der bis zur Hütte reichte. Es war immer kalt. Ich bin auf der Nordseite der Hütte gelegen und habe mir eine Pelzjacke angezogen zum Schlafen, die guten warmen Zimmer habe ich für die Gäste behalten.
für zwei Jahre oben geblieben, da dann mein Bruder Hüttenwirt machen wollte, aber er blieb nur für ein Jahr. Weil zu verdienen gab es nichts. Oft waren wir auch im Sommer eingeschneit, es gab ja auch noch das „Kees“, den Gletscher, der bis zur Hütte reichte. Es war immer kalt. Ich bin auf der Nordseite der Hütte gelegen und habe mir eine Pelzjacke angezogen zum Schlafen, die guten warmen Zimmer habe ich für die Gäste behalten.
Vielleicht war ich körperlich schwächer als meine Brüder, im Kopf war ich es nicht.
Ich war natürlich nur im Sommer dort, anders ist es auch nicht gegangen. Die restliche Zeit habe ich auf dem Hof meiner Eltern gearbeitet. Ich habe die Arbeit in der Landwirtschaft genossen, konnte jeden Vogelgesang nachahmen. 1956 kam dann mein Sohn Christian auf die Welt. Und später habe ich geheiratet.
Ihr Mann war Knecht auf dem heimatlichen Hof. Konnten Sie den Hof denn übernehmen?
Nein, als ich geheiratet habe, hatten wir nichts mehr, sogar das Geld für die Eheringe mussten wir uns leihen, weil mein Bruder eben alles Geld ins Spielcasino gesteckt hat, nachdem er eine Deutsche geheiratet hat. Er war stets ein prima Rechner gewesen und meinte, das sei alles nur eine Rechenaufgabe, aber da hat er falsch kalkuliert. Von einem Extrem fielen wir ins andere. Meine Brüder waren volljährig, so mussten sie niemanden fragen, was sie tun. Meinem Vater haben sie alles in Beschlag genommen, er hat nie etwas gesagt, sie haben ihm das Bankkonto geräumt, und sie haben auch gesagt, dass er ein Nazi gewesen sei, aber das stimmt sicher nicht, er hat damals in den Kriegsjahren nur gute Miene zum bösen Spiel gemacht und versucht, den Leuten zu helfen. Er hat im Gegenteil einigen die Höfe gerettet. Aber das zählte dann alles nicht mehr.
Mein Vater war ein sehr intelligenter Mensch, es gab den Ruf, dass er ehrlich ist, dass er viel Geld hat und dass er den Leuten hilft. An eine politische Rolle erinnere ich mich nicht.
Wie viele Kinder wart ihr?
Wir waren zu fünft, vier Buben und eine Gitsch, ich war genau in der Mitte. Vielleicht war ich körperlich schwächer als meine Brüder, im Kopf war ich es nicht. Wenn sie mich „gipflanzt“ und an den Zöpfen gezogen haben – die so lang waren, dass ich sie
in den Sack stecken konnte –, dann habe ich mich schon gewehrt.
Alle vier waren im Krieg, und alle sind zurückgekommen. Einer ist mit 17 noch einberufen worden, er kam in jugoslawische Kriegsgefangenschaft, dort sind sie zu fünft nackt in einen Schweinestall gesperrt worden. Eine italienische Grafïn aus Triest hat ihn dann freigekauft, da er italienischer Staatsbürger war.
Und wie ist es dann weitergegangen, nachdem Sie geheiratet hatten?
Ich habe meinem Mann Arbeit verschafft, da ich ja viele Leute kannte, und selbst bin ich zu Hause geblieben, bei den Kindern. Ich habe zwischendurch als Aushilfslehrerin gearbeitet, aber dadurch hatte ich weniger Zeit für die Kinder, das machte mich traurig, so habe ich wieder aufgehört, auch weil ich all das Geld, dass ich verdiente, fürs Kindsen ausgeben musste. Das erschien mir ziemlich sinnlos.
Zweimal ist sie vor Kurzem unglücklich gestürzt und musste im Brunecker Krankenhaus operiert werden. Auf den Kopf - so meint sie lächelnd - sei sie nicht gefallen.
Ich hatte beide Unfälle im Haus, einmal hier in der Stube, da bin ich ausgerutscht und habe mir die Schulter gebrochen, und ein anderes Mal bin ich gefallen und habe mir den Hals gebrochen. Ich war beide Male allein, da habe ich dann schauen müssen, wie ich um den Tisch herumkomme, um telefonieren zu können. Da bekommt das Alleinsein eine andere Dimension. Auch das gehört zum Älterwerden.
Wenn man so ein abenteuerliches Leben hinter sich hat, mit so vielen Höhen und Tiefen, und immer auf den Beinen – und plötzlich liegen ... und nicht mehr aufstehen können.
Das ist schlimm. Man ist nicht froh. Wenn man keinen Schritt machen kann, ist niemand froh. Und ins Dorf mit dem Rollstuhl geht auch nicht, da kommt dann jede Minute jemand und fragt mich, wie es mir geht. Das mag ich nicht, immer das Gleiche wiederholen. Ich lasse mich nicht gerne „ausfratschln“.
So bin ich jetzt eben nur mehr daheim. Und habe eine Pflegekraft. Ich verstehe mich mit allen Betreuerinnen gut. Ich achte sie. Sie haben kein einfaches Leben, immer von zu Hause weg, ich achte sie und sie haben mich gern, ich bin keine „Extraische“, das liegt mir nicht. Und es ist auch gut so, dass sie da sind, meine Kinder haben ja ihre eigenen Familien. Ich bekomme ja ein gutes Pflegegeld, so geht das auch finanziell. Ich bin dankbar. Auch für diese Zeit. Auch wenn es schlimm ist, nur mehr zu liegen.
Sie sind mager, „nur Haut und Knochen“, hätte man früher gesagt. Waren Sie immer so dünn?
Ich habe einmal 76 Kilo gewogen, jetzt wieg ich noch 42 oder 43, was weiß ich. Aber ich bin froh, dass ich nicht mehr wiege, denn die badante muss mich ja ins Bett heben. Da haben wir dann immer Spaß und lachen viel miteinander. Das würde nicht gehen, wenn ich schwer wäre wie ein Mehlsack.
Man isst auch nicht mehr so viel im Alter?
Ja, weil man weniger Bewegung hat logischerweise, dann hat man auch keinen Hunger.
Die meisten sagen, alt werden ja, aber nur wenn man gesund ist. Was denken Sie sich jeden Tag, nach dem Aufwachen?
Ich nehme den Tag so, wie er ist, ohne Freude und ohne Leid.
Sie haben zu Beginn gesagt, Sie hätten einen tiefen Glauben.
Den habe ich schon lange. Ich bin allerdings keine Kirchengeherin. Ich bin schon lange nicht mehr in die Kirche gegangen. Ich lass mir nicht gerne sagen, was ich tun soll, nur für die Kommunion bin ich hingegangen. Die bringt mir jetzt der Pfarrer. Ich bin auch nie zum Aussegnen gegangen, obwohl das damals noch Brauch war, als ich meine Kinder bekam, dass man sechs Wochen nach der Entbindung nicht in die Kirche durfte, weil man unrein war, bis der Pfarrer einen wieder gesegnet hat. Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was zu tun ist, nur weil das Brauch ist. Ich musste nur geradeaus gehen und bekam trotzdem die Kommunion. Auch als ich als Ledige die zwei unehelichen Kinder hatte. Er getraute sich nicht, sie mir nicht zu geben. Und sobald ich geheiratet habe und wir im Brautstand waren, bin ich zum Pfarrer, um mich zu erkundigen, was er für eine Meinung hat vom Eheleben, ich meinte damit die Ehepflicht, denn viele glaubten, die Frau sei dem Mann untertan und müsse stets zur Verfügung stehen, wann immer er möchte. Der Pfarrer hat mir dann gesagt, es müssen beide Partner einverstanden sein. Eine Ehe wird durch Hingabe vollzogen! Der Mann hat kein Recht auf die Frau. Das war aber in ganz Südtirol ein Brauch, vielleicht auch in Nordtirol, es war völlig missverstanden worden, der Mann ist im Wochenbett bei ihr gelegen und hat schon wieder wollen, anstatt sie in Ruhe zu lassen und ihr die Zeit zu geben, sich zu erholen. Nein, so geht man nicht mit Frauen um! Es braucht die Hingabe von beiden.
Ich war anders, ob es modern war, weiß ich nicht, aber ich habe mir nie etwas gefallen lassen.
Haben es Frauen jetzt einfacher als früher?
Sowieso, jetzt haben sie selber Geld.
Sie waren immer eine Besondere, moderner als die anderen.
Ich war anders, ob es modern war, weiß ich nicht, aber ich habe mir nie etwas gefallen lassen. Ich weiß nicht, ob dadurch mein Leben schwieriger war. Ich habe nicht gewusst, was schwierig ist und was nicht schwierig ist. Ich habe es so genommen, wie es ist, und es nicht hinterfragt. Ich wollte mir selber treu sein.
Und woher haben Sie diesen Charakterzug? Ist er angeboren oder sind Sie so geworden?
Von meinem Vater, denke ich.
Er hat sich nicht viel um Sie gekümmert.
Überhaupt nicht, einmal weiß ich noch, da war ich 14 oder 15 Jahre alt, da wollte er mir eine schmieren, da habe ich gesagt, untersteh dich, diese Zeiten sind vorbei. Das ist unerwartet gekommen für ihn, so ist er gegangen und hat nie mehr versucht, mich zu schlagen.
Würden Sie im Nachhinein etwas anders machen?
Vielleicht schon, aber ich weiß nicht, was. Ich schaue gelassen und versöhnt auf mein Leben zurück, weil ich der Meinung bin, dass alles so sein soll, wie das Schicksal ist. Der Verstand allein könnte nicht begreifen, warum etwas so ist und etwas so.
Alles kann man auch nicht verstehen mit dem Verstand. Manches kann man nur glauben und annehmen ...
Man muss etwas hinnehmen, wenn es anders nicht ist. Wenn mir ein Sohn getötet wird, kann ich es mit dem Verstand nicht verstehen. Man weiß, was man gehabt hat, sobald man es verloren hat. Wer hätte denn jemals geglaubt, dass ich hier liegen muss und nicht mehr weiterkomme?
Ist das Ihr Häuschen, in dem Sie nun wohnen?
Das ist das Haus meiner Söhne, ich will keinen Besitz. So kann ich meine Meinung immer frei äußern. Ich habe es gemeinsam mit meinen Söhnen gebaut, habe es auf meinen Mann schreiben lassen, auch wenn das Geld über meine Beziehungen gekommen ist, die ich hatte in meinem Leben, er hatte nicht viel Geld, das wäre sich mit seinem Verdienst nie ausgegangen. Aber ich habe es auf ihn schreiben lassen, um sein Selbstbewusstsein zu stärken. Sobald er gestorben ist, habe ich es auf meine Söhne geschrieben.
Sie hatten viele Freunde, die Sie sehr geschätzt haben.
Ja, ich denke schon. Das Schönste ist eine Beziehung mit Männern, in denen jede Zärtlichkeit ausbleibt. Sobald Zärtlichkeiten zustande kommen, kommt die Eifersucht, und die Eifersucht ist ein Gift. Und solche Männerfreundschaften hatte ich einige, wunderbare. Die meisten sind inzwischen tot, an das muss man sich beim Alt-Sein gewöhnen, dass die Leute gehen. Es waren ehrliche Freundschaften mit Männern. Die haben dann wohl andere Frauen geheiratet, aber ihren Frauen auch in meiner Anwesenheit gesagt, sie hätten mich geheiratet, wäre das möglich gewesen.
Auf einem Tischchen in der Stube stehen gerahmte Fotografien. Rechts die Verstorbenen, links die Lebenden, die ihr lieb waren. Eine Zeichnung von ihr als junges Mädchen, sie war auch äußerlich eine Schönheit.
Es gibt kein Hochzeitsfoto, das habe ich nicht gewollt, es war keine richtige Hochzeit, es war eine Vernunftehe und weiter nichts, eine Ehe ohne Gefühle. Sie hat geklappt, weil sie klappen musste, nur deshalb. Mein Mann war ein Triebmensch, wohl oder übel dem Frieden zuliebe habe ich fünf Kinder bekommen. Einmal hat er mich gewürgt, da hatte ich auf dem Hals Striemen, da musste ich den Advokaten verständigen. Er hat mich gewürgt, weil ich nicht gefügig war, da musste ich Grenzen setzen und ihm zeigen, was ihn erwartet.
Wieso haben Sie als so unabhängige, freie Frau gerade diesen Mann geheiratet?
Er suchte dringend eine Frau und ich einen Mann, nach dem, was geschehen war. Kein anderer stand zur Verfügung, ich war ja auch nicht mehr ganz jung. Meine älteren Bekannten waren alle verheiratet, die haben nicht gewartet, ich wollte ja eigentlich nie heiraten.
Bertoffen sind alle in diesem Moment und sie schweigt traurig. Das Leben an der Seite eines Mannes zu verbringen, für den man nicht viele Gefühle hat, hieß auch unendlich tapfer sein. Das war sie gewiss.
Und wie kam er damit zurecht, dass er eine Frau hatte, die ihn nicht liebte?
Er hat sich vielleicht in jemand anderen verliebt, das wird er schon haben, aber ich habe so getan, als ob ich es nicht wüsste und nicht sehe. Ich habe versucht, nicht nachzudenken. Ich habe immer von einem Tag auf den anderen gelebt und heute nur an morgen gedacht. Wir sind immer knapp gewesen. Er hat ja nicht viel verdient als landwirtschaftlicher Arbeiter. Er hatte ja nichts gelernt, er hat ja nichts gewusst.
Ich hoffe so sehr, dass die Engländer noch zu Verstande kommen, die Einigkeit macht stark. Wenn Europa auseinanderfällt, dann kommt der Dritte Weltkrieg, ohne Wenn und Aber.
Hat sich Ihr Mann bei Ihnen entschuldigt?
Nein, hat er sich nicht, das hat er nicht verstanden. Als sechstes oder siebtes Kind habe ich ihn immer betrachtet. Hätte ich ihn als Mann betrachtet, dann wären wir auf gleicher Höhe gewesen, aber das waren wir nie.
Vielleicht hat er darunter gelitten.
Das glaube ich nicht, ich denke, das hat er so gar nicht verstanden. Er hat als junger Mensch keine Liebe bekommen, das habe ich gewusst. Er hat nie lernen dürfen, was Liebe bedeutet. Er war ein lediges Kind und hat nie gespürt, was Mutterliebe ist. Seine Eltern wurden vom Knecht als Hirtenkinder in das gleiche Bett gelegt, weil der Knecht bei der Köchin schlafen wollte, so ist er entstanden, seine Eltern waren 15, als er geboren wurde. Seine Eltern waren ja selbst noch Kinder.
Tu nur selber schauen auf dich, andere schauen nicht auf dich.
So war es für mich leichter, weil ich ihn als mein letztes Kind betrachtet habe. Dadurch konnte ich es auch irgendwie verstehen, wenn er mir wehtun wollte, wenn er gewalttätig zu mir war. Er hatte anderes nie gelernt. Das Leid hat mich auch stark gemacht. Ich habe mir meine Freiheit bewahrt.
Ihre Stimme ist nicht gebrochen, sie ist traurig, nachdenklich. Es mag vielleicht überheblich klingen, was sie sagt, es mag so klingen, als ob sie das Leben aus dem Blickwinkel einer Frau gelebt hätte, die glaubte, etwas Besseres zu sein. Das wollte sie bestimmt nie. Sie wollte nur ihr Leben leben, nicht das einer anderen. Sie wollte sich selbst treu sein, wissend, dass man sie deswegen skeptisch betrachten würde. Sie war ihr Leben lang auf der Suche. Sie ist es auch jetzt noch, auf der Ofenbank.
Was haben Sie Ihren Kindern mitgegeben? Oder besser, was sollten sie unbedingt fürs Leben lernen?
Dass Geld kein Statussymbol sein darf. Meine Kinder fühlen sich alle gleichwertig.
Sie mögen alle Kinder gleich?
Ich nehme sie an, wie sie sind. Kein Kind gleicht dem anderen. Alle sind ein Wunder: Sie haben eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren. Und doch gleicht keines dem anderen und sie sind alle einzelne Kreaturen, und so nehme ich sie alle so, wie sie sind, also nicht gleich. Ich habe mit allen Frieden. Mögen, gernhaben ... Ich musste manchmal feststellen, nach dem Bruch der großen Liebe habe ich eigentlich niemanden mehr richtig gernhaben können. Ich bin unfähig geworden zu lieben, ganz gleich, wer es ist, ich habe wunderbare Freunde gehabt und habe sie heute noch, aber lieben, mich aufgeben ...
Die große Liebe war die erste?
Das war der Erste. Ich habe mit 21 noch keinen Mann gehabt – ich habe nie ein Verhältnis gehabt. Als die Heidi auf die Welt gekommen ist, war ich 24.
Ich denke doch, dass es früher ganz etwas anderes war zwischen Mann und Frau, weniger eine seelische Angelegenheit. Diese seelische Angelegenheit war für mich aber damals schon wichtig. Heute ist das vielleicht öfters so. Aber ob die Jungen es deshalb einfacher haben? Das möchte ich nicht behaupten. Denn das Schicksal spielt überall mit. Besser, wenn man sich nicht einmischt. Bei meinen Schwiegerkindern war ich immer die beste Schwiegermutter, obwohl kaum einer mehr beieinander ist, denn ich habe mich nie eingemischt. Als die Kinder kamen und fragten, Mutti, was sagst du denn, da sagte ich immer, du hast deine Meinung und er oder sie eine andere Meinung, das müsst ihr selber wissen. Sie sind pflichtbewusst, meine Kinder, das muss ich sagen, stark und unkonventionell. Ein bisschen anders sind sie schon auch.
Sie sind auch politisch interessiert gewesen, Sie haben Alexander Langer gut gekannt, waren seiner interethnischen Politik gegenüber aufgeschlossen, haben Ihre Verehrung seinen innovativen Gedanken und seiner grünen Partei gegenüber nie verheimlicht, was in so einem engen Tal wie dem Ihren sicherlich eine Besonderheit war?
Ja, wir waren befreundet. Und ich denke nie, dass er sich selber umgebracht hat. Das war nicht seine Art und Weise, Widerstand bedeutete für ihn, immer wieder neu anzufangen und nie nachzugeben. Das vom Seil, das sagen die Leute. Die reden viel, die Leute. Aber nie, nie, das glaube ich nie. Das war nicht sein Charakter. Umgebracht, mag schon sein, aber nicht freiwillig. Vielleicht haben sie ihn gezwungen. Er hat seine Frau sehr geliebt und ich denke, dass sie ihn so irgendwie erpresst haben. Denn über die Politik wäre er nie erpressbar gewesen. Höchstens privat.
Was hat Ihnen so gefallen am Alexander Langer?
Dass er so ein Idealist gewesen ist, ein Brückenbauer, ein Vermittler. Er war ja ein hervorragender Klosterschüler und als er nicht mehr in der damals nahezu allmächtigen Südtiroler Volkspartei war, hat die Kirche ihn links liegen gelassen. Bei mir war das ja auch so. Denn ich war in der Sozialen Fortschrittspartei vom Egmont Jenny, der auch aus ideologischen Gründen aus der SVP ausgeschieden war, und da kam einmal der Pfarrer zu mir und sagte, ich solle ihm bestätigen, dass ich nicht bei dessen Partei sei, dann habe ich erst verstanden, was die SVP für eine Macht hat. Das ist schon manchmal „hetzig“ gewesen, weil ich hier die Einzige war, die nicht bei der SVP war. Da fällt mir gerade auf, ich habe keinem einzigen meiner Kinder je gesagt, sie sollen zu meiner Partei gehen, ich habe ihnen immer die freie Entscheidung gelassen, weil wenn man bei der SVP nicht gehorcht, dann haben sie dir Probleme bereitet.
Ich denke nie, dass Aleander Langer sich selber umgebracht hat. Das war nicht seine Art und Weise, Widerstand bedeutete für ihn, immer wieder neu anzufangen und nie nachzugeben.
Die Politik interessiert mich immer noch. Aber nicht mehr die Dorf-Politik, unser Bürgermeister ist sehr vorsichtig. Und auch die Südtiroler Politik interessiert mich nicht mehr, die italienische gefällt mir überhaupt nicht, die rettet im Moment nur der Staatspräsident. Der Mattarella, das ist ein feiner Mann. Die Italiener haben immer einen, der sie rettet. Was mich interessiert, das ist die Europapolitik. Ich hoffe so sehr, dass die Engländer noch zu Verstande kommen, die Einigkeit macht stark. Wenn Europa auseinanderfällt, dann kommt der Dritte Weltkrieg, ohne Wenn und Aber. Das sieht man ja, wenn man nach Amerika schaut. Solange sie Süd und Nord waren, haben sie gestritten. Europa muss zusammenhalten. Zusammenhalten ist überhaupt wichtig im Leben. Ja, und ehrlich sein.
Was, glauben Sie, wird sein, wenn alles vorbei ist?
Ich komme an den rechten Ort, weil ich tiefgläubig bin, ich weiß, wie das geht. Die Materie kommt von den Eltern und deren Eltern, diese zerfällt und es bleibt nichts mehr. Doch die Seele bleibt. Nicht das Herz. Davon bin ich überzeugt. Die Seele lebt weiter. Deswegen schaue ich, ordentlich zu leben. Natürlich Mensch bleibt man, und weil es der Himmelsvater war, der uns erschaffen hat, weiß er schon, was im Menschen menschlich ist. Der Pfarrer hat mir kürzlich gesagt, wenn er abends hundemüde nach Hause kommt, dann wäre es so nett, wenn da jemand wäre, der etwas gekocht hat, dass es ein bisschen heimisch wäre, dass er jemanden zum „Hoagaschtn“ hätte, zum „Hoamgartln“, zum Reden, einfach ge-meinsam die Zeit fein zu verbringen. Wir sind alle Menschen, das weiß der Herrgott schon. Deswegen wird nicht alles vorbei sein, wenn es vorbei ist.
Viele 90-Jährige werden müde nach einer Stunde Gespräch. Sie blinzeln und die Augenlider werden schwer. Nicht so Anna Notdurfter Stolzlechner, sie will uns gar nicht gehen lassen. Sie würde gerne noch stundenlang erzählen, auch wenn sie das „Gfratschle“ nicht mag. Das „Gfratschle“ auf der Straße, schnell, schnell, sei auch etwas ganz anderes.
Das, was ihr noch geblieben sei von früher, sei ein wenig Grips, sagt sie, alles andere sei „tscharigegangen“. Irgendwie ist man gerührt, hier sitzen zu dürfen. Dankbar, an diesem, ihrem Leben teil haben zu dürfen. Sie strahlt Stärke aus, auch wenn die Haare am Kopf dünn geworden sind, die Stimme zart ist, die Haut an den Händen fast durchsichtig. Sie ist so gebrechlich, so jung. Sie kann sich kaum bewegen. Doch neben ihr zu sitzen, vermittelt das Gefühl, selbst unbeweglich und starr zu sein. Sich verneigen möchte man vor einer unbestimmbaren Kraft, zugleich hinauslaufen, schreien, etwas tun, Sinnvolles, Gerechtes, emphatisch.
Tu nur selber schauen auf dich, andere schauen nicht auf dich. Mach das besser selbst. Lebe dein Leben. Also deines. Ich versuche das immer noch, täglich ermahne ich mich. Sei kämpferisch und wählerisch, mit wem du Umgang pflegst und plauderst. Sei einfach du. Dann freust du dich auch im Alter jeden Tag, weil alles, auch ein Schmerz, seine Richtigkeit hat.
Text: Astrid Kofler
Fotos: Thomas Wiedenhofer
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Sehr schöne und berührende
Sehr schöne und berührende Geschichte einer sehr selbstbewussten alters-weisen Frau! Und das ohne Feminismus! Die Feministinnen sollten diese Geschichte ganz inbrünstig lesen und das auf sich wirken lassen!
Frau Anna hat mich an eine Frau in unserer Nachbarschaft erinnert, die Hosen trug und rauchte, wie ein Mann. Man sagte über sie, sie sei ein halber Mann. Sie war dann aber bald die erste Frau im Tal, die mit einer anderen Frau zusammenlebte. Sie hatte aber auch ein "ledigen" Sohn.
Die Geschichte hat mich auch an meiner Eltern erinnert, die auch während der deutschen Besatzungszeit nur geheiratet haben, weil meine Mutter schwanger war. Jetzt sind wir elf Geschwister, die noch alle Leben.
Meine Eltern stammten beide aus Optanten-Familien. Das Wegziehen wurde aber nie konkret. Mein Vater war angeblich ein Hitler-Sympathisant, musste aber nicht zum Militär, weil er früh ein Waise wurde und ältester formal die Rolle des als Familienoberhauptes übernehmen musste. Er war aber beim Südtiroler Ordnungsdienst. Einmal sollte er mit seinen Kollegen auf eine Alm steigen, um ein sogenanntes Partisanen-Nest aus zu heben - die waren auch bewaffnet. Dort vermutete man zwei Brüder einer Familie im Dorf, die mit der Familie meines Vater sehr eng war. Ja die angeblich meiner Großmutter, die als Witwe für elf Kinder zu sorgen hatte, in Notzeiten ausgeholfen hat.
Mein Vater lies sich also von einem Kollegen ersetzten; sie tauschten den Turnus. Und genau dieser Mann kam bei einer Schießerei ums Leben. Wenn es meinen Vater getroffen hätte, würde es mich und meine Familie nicht geben. Nicht vorstellbar!
In risposta a Sehr schöne und berührende di Weiser Mann
Das Wort "Feminismus" wird im
Das Wort "Feminismus" wird im Interview nicht genannt, trotzdem stimmen viele Lebensziele und Aussagen dieser Frau mit den feministischen Anliegen überein: Selbstbestimmung über Körper und Geist und bei der Partnerwahl, eigenes Geld verdienen, das Aufbegehren gegen Gewalt (auch in den eigenen vier Wänden) und gegen tradierte, patriarchale Regeln... Von daher braucht man nicht etwas gegeneinander ausspielen, das eh schon gemeinsam und Hand in Hand geht.
In risposta a Das Wort "Feminismus" wird im di Kara Oke
Ich würde da meinen: tra il
Ich würde da meinen: tra il dire et il fare c´é di mezzo il mare. Kampf-Feministinnen jammern und fordern; auch Dinge, die schon ohne Widerstand möglich wären. Frau Stolzlechner hat von niemandem etwas gefordert, sondern sie hat Spielräume genutzt, welche die Gesellschaft zulässt. Sie klagt über niemandem, nimmt jeden wie er ist - auch die eigenen Kinder. Sie hadert mit niemandem und klagt nicht, obwohl sie es sehr oft schwer gehabt haben muss!