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Möglich ist nicht gleich tragbar

Südtirol sperrt für drei Wochen zu. Reicht es, im Extremfall die Reißleine zu ziehen? Freie Intensivbetten sind schließlich nur Teil der Rechnung.
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Foto: (c) pixabay

Laut Gesundheitslandesrat Thomas Widmann waren Mitte der Woche 35 der 100 möglichen Intensivbetten in Südtirol belegt. “Absolut nicht gut”, schätzte Widmann die Situation im Dolomiten-Interview ein, “sehr schwierig und extrem”, aber noch nicht so, dass die Reißleine gezogen werden muss. Nun hat die Landesregierung beschlossen, genau das zu tun: die Reißleine ziehen. Die hohen Infektionszahlen und das Auftreten der Virusmutation in Südtirol ließen die erneute Verschärfung der Coronamaßnahmen nicht länger aufschieben, so die Pressemitteilung der Landesregierung am Donnerstagabend. Die beschlossenen Maßnahmen treten ab Montag (8. Februar) für drei Wochen in Kraft. Die Details werden um 11 Uhr bekannt gegeben. Auch die Opposition hat eine Pressekonferenz geplant.

Aber reicht es, im Extremfall die Reißleine zu ziehen?

35 von 100 Intensivbetten belegt, Tendenz steigend. Sorge bereiten aber nicht nur die belegten, sondern auch die zur Verfügung stehenden Intensivbetten. Existiert nebst der Inneneinrichtung auch der nötige Personalschlüssel, um eine Intensivbehandlung von bis zu 100 Patienten zu gewährleisten? Wenn ja, in welcher Form? Fragen, die die Politik und deren Kritiker zu lösen suchen, aber vor allem unter Ärzten und Pflegepersonal für Verunsicherung und Zweifel sorgen.

Letzten Endes bleibt die Rechnung, ob Südtirol über das nötige Personal für die Intensivbetreuung von bis zu 100 Patienten verfügt, aber nicht Ärzten und Pflegepersonal überlassen, sondern jenen, die über die Zahlen der Gesamtsituation verfügen: dem Gesundheitslandesrat und seinem Expertenkomitee. Ersterer ist sich sicher: Ja, so Widmann, Südtirol verfüge über genügend Personal, um einer Extremsituation von bis zu 100 Intensivpatienten ins Auge sehen zu können. Dazu dürfe es laut Widmann aber auf keinen Fall kommen; es bleibe nämlich zu bedenken, dass jenes Personal, aus dem diese Rechnung speist, natürlich irgendwo abgezogen werden muss.

Diese Qualifizierung bringt Widmanns klares “Ja” ins Wanken. Es nagt der Verdacht, dass sein klares “Ja” bestenfalls als “Jein” zu werten wäre.

 

Rechnung ohne Preis?

 

Weil die Antwort auf die Frage, ob das Südtiroler Sanitätssystem einer Belastung von bis zu 100 Intensivbetten gewachsen wäre, nicht nur über Leben und Tod entscheidet, sondern sich auch darüber hinaus maßgeblich auf das öffentliche Leben niederschlägt, wird ihr zurecht Aufmerksamkeit zuteil.

Dabei rückt – vom Sanitätspersonal geleitet – Wesentliches aus dem Blickfeld: Anstatt einer Antwort, ob denn nun: ja oder nein, bedarf die Frage nach den noch zur Verfügung stehenden Intensivbetten vor allem einer Gegenfrage. Zu welchem Preis kann die Betreuung von bis zu 100 Intensivpatienten gewährleistet werden?

Um nicht in Spekulationen abschweifen zu müssen, lässt die Frage auch mit Blick auf die Gegenwart dringende Schlüsse zu: Zu welchem Preis wird die Betreuung von 35 Covid-Intensivpatienten gewährleistet?

In erster Linie die Patienten: Da Personal von anderen Stationen abgezogen werden muss, bleiben wichtige Vorsorgeuntersuchungen und jegliche operativen Eingriffe, die nicht unbedingt und sofort notwendig sind, auf der Strecke. Dies hat unter anderem verspätete Krebsdiagnosen oder das erhöhte Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, zur Folge.

In zweiter Linie jene, die an vorderster Front gegen das Virus kämpfen: Ärzte und Pflegepersonal. Was im März noch Ausnahmezustand und gemeinsamer Kampf gegen das Virus war, wird heute zum periodisch wiederkehrenden Einzelkampf –, wobei sowohl Bevölkerung als auch Politik auf deren Kampfwillen zählen. Konkret bedeutet dieser Kampf für die Ärzte der Intensivstation eines Südtiroler Krankenhauses seit November alle vier Tage Nachtdienst; acht Nachtschichten im Monat. Kräftezehrende 12-Stundendienste am Rad: 2 Tage Dienst, dann 2 Tage frei, dann die Nachtschicht und so weiter. Urlaub nur als Tauschgeschäft und bei dringenden Angelegenheiten. Wer vorher aus Familien- oder anderen persönlichen Gründen eine Teilzeitstelle hatte, wird zur Vollzeit promoviert. Die momentane Situation lässt keine andere Einteilung zu; eine Situation mit bis zu 100 Intensivpatienten möchte sich wohl niemand vorstellen müssen. Auch unter dem Pflegepersonal macht sich die Erschöpfung breit, genaue Auskünfte möchte aber niemand geben. “Anstrengend ist es schon”, heißt es lediglich. Auch hier wurden Teilzeitstellen mit Zusatzstunden aufgestockt. Jede und jeder arbeite mehr, viel mehr, und das, obwohl zur Unterstützung der Intensivstationen Pflegepersonal von den anderen Stationen abgezogen werden musste.

Muss die Reißleine jetzt – plötzlich – gezogen werden? Die Frage, die die Landesregierung gestern Abend bejahte, lässt kaum mehr als Momentaufnahmen, Spekulation und Panik zu. Anstatt sich von Momentaufnahmen und Spekulationen treiben zu lassen, müssen Politik und Bevölkerung aber auf Wesentlicheres zurückgreifen: Ist der Preis, der von Patienten und Sanitätspersonal über so lange Zeit gezahlt wird, noch tragbar?