Zuviel Leistungsdruck im Sport
Beim ergebnisorientierten Sport geht der Trend noch immer in Richtung Frühspezialisierung. Stimmt es, dass je früher diese erfolgt, umso bessere Leistungen der Sportler/-in später bringt?
Cattani: Die Antwort lässt sich relativ kurz und einfach formulieren. Frühspezialisierung zielt darauf ab, Kinder und Jugendliche möglichst schnell zu Wettkampferfolgen zu führen. Das kann und darf v.a. im Kindesalter kein primäres Ziel sein. Frühspezialisierung im Sport bringt eine beschleunigte Leistungsentwicklung mit einer Verkürzung der Anstiegsphasen. Kinder und Jugendliche sind dadurch kurzfristig vielleicht erfolgreich. Allerdings zeigen sämtliche Erkenntnisse auch, dass auf diese Weise entweder eine frühe, abrupte Beendigung der Laufbahn erfolgt oder eine Verkürzung der Hochleistungsphase und der gesamten Laufbahn damit verbunden ist. Im Sport macht demzufolge nur ein langfristiger Leistungsaufbau Sinn. Mehrjahres-Trainingspläne sind ein Muss. Die Realität sieht leider häufig anders aus. Sport im Kindes- und Jugendalter sollte nicht nur Wettkämpfen bestehen. Es gilt die Heranwachsenden für den Sport zu begeistern und sie durch vielfältige Sportangebote möglichst umfassend zu fördern.
Sie behaupten, dass ein Kind, das auf einem Bauernhof aufwächst, häufig über bessere koordinative Fähigkeiten verfügt, als ein Kind, das sich sehr früh auf eine Sportart spezialisiert. Was meinen Sie damit?
Cattani: Kinder, die bereits vom Kleinkindalter den Alltag vielfältig, kreativ und spielerisch erforschen, eignen sich eine ausgezeichnete Basis an. Durch das Herumwälzen, auf Bäume-Klettern, die Mithilfe bei Wiesen-, Garten- oder Erntearbeit, entfaltet sich ein sehr gutes Körpergefühl mit einem Feingespür für Gleichgewicht, Orientierung, Differenzierung und Reaktion. Hierbei handelt es sich um entscheidende koordinative Grundlagen erfolgreicher Sportler/-innen. Genau solche Bewegungsimpulse müssen in das Training eingebaut werden. Oder aber das Erleben dieser qualitativen Vielfalt würde der Sportunterricht übernehmen, was allen Kindern zu Gute käme, nicht nur den Kindern, die ohnehin viel Sport betreiben. Dazu müssten vor allem in den Grundschulen Sportlehrer/-innen unterrichten, genau dort ist ein “Lernen auf Anhieb“ noch möglich. Boden-Geräteturnen, leichtathletische Disziplinen, kreative Gestaltungsformen, Abenteuer- und Ballspiele eignen sich im Kindesalter hervorragend als Inhalte. Die vorgesehene Anzahl an Sportstunden in der Woche ist zu gering, um allein dadurch größere Fortschritte erwarten zu können.
Cattani: Immer mehr, immer schneller, immer besser. Dieser Spruch gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch im Sport. Was ist Ihre Meinung dazu?
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Dies hat seine positiven und seine negativen Seiten. Erfolgreiche Unternehmen konzentrieren sich in erster Linie auf ihre Kernkompetenzen und versuchen langsam auch andere Faktoren zu verbessern. Genauso sollte es auch im Sport sein. Werden junge Sportler/-innen gefordert und gefördert, muss an den individuellen Stärken angeknüpft werden. Im langfristig, gezielt angesetzten Trainingsprozess verschwinden dann auch die Schwächen. Die Eltern tragen nicht selten zur Verstärkung des Leistungsdruckes bei. Schließlich ist der leistungsbezogene Sport häufig mit erheblichen Kosten verbunden. Dabei sollten sich die Wettkämpfe aus ihrer Sicht doch auch rechnen. Kinder und Jugendliche sind aber keine kleinen Erwachsenen. Lassen wir den Kindern und Jugendlichen die Zeit, sich zu entwickeln. Wird aus dem Kind kein Star, halb so wild, wenn die Freude und Motivation weiterhin am Sport aufrecht geblieben ist. Nur Einzelne schaffen den Sprung an die Spitze.
Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sollte regelmäßige Bewegung in jedem Alter gefördert werden, denn es ist eine der besten Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu stärken und vielen Krankheiten vorzubeugen.
Cattani: Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt Erwachsenen und Senioren sich mindestens 150 Minuten pro Woche körperlich zu betätigen, Kindern sogar 60 Minuten am Tag. Auch deshalb sollten die Sportangebote in Südtirol so organisiert sein, dass jeder in jedem Alter die Möglichkeit hat, möglichst vielseitig Sport zu betreiben. Leider ist es momentan noch oft so, dass jene, die leistungsmäßig nicht mithalten können, aus der Trainingsgruppe austreten müssen oder es schließlich selbst wollen. Dabei verlieren sie nicht selten die Freude am Sport. Dem könnten die Vereine entgegenwirken, wenn sie zunehmend auch Angebote für vielfältige, nicht leistungsorientierte Sport- und Bewegungsformen umsetzen würden.