Wie die Adria zu mir kam

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Ex libris
Questo estratto dal libro di Anita Rossi fa parte del nuovo formato “Ex libris” su SALTO.
Dieser Auszug aus dem Buch von Anita Rossi ist Teil des neuen Formats "Ex libris" auf SALTO.
Als Kind habe ich den Sand der Adria-Strände erst Wochen, nachdem wir wieder aus dem Urlaub zurück waren, aus den Sandalen gekriegt. Ein Souvenir an den Gesang der Zikaden, an flirrende Hitze und den Duft von Pinien und Meer. Für meine Eltern gehörte es zum Pflichtprogramm, uns Kindern die jährliche Jodration und Wasserspiele am „Adriameer“ zu ermöglichen, während sie selbst Sonnenschirm mit Halbpension buchten. Mit dem Wirtschafswunder hat dieser Küstenstreifen touristisch und damit wirtschaftlich enorm aufgeholt. Zuvor war das Leben hier von harter körperlicher Arbeit auf dem Feld und im Boot bestimmt. Meine Verwandten väterlicherseits waren an der Oberen Adria daheim, und so tauchte ich als Kind ein in eine Welt von Fischern, streunenden Katzen und Feigenrausch. Vor zehn Jahren fanden mein Mann und ich unsere eigene Bleibe in der Nähe von Caorle. Seitdem gehen wir von dort aus auf Entdeckungstour in den unterschätzten Landstrichen zwischen dem Podelta und Triest. Genau dorthin möchte ich Sie mitnehmen – in das von Wasser geprägte Zwischenreich abseits der bekannten Kulturstädte sowie ins Hinterland, an Orte maximal 80 Kilometer von der Küste entfernt. Die Tourismushochburgen lassen wir getrost links liegen.
Öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad und Boot eröffnen ungeahnte Perspektiven auf Land, Wasser und deren Menschen.
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Mittelmeerkennerin: Anita Rossi, geboren 1969, aufgewachsen in Südtirol in einer Familie mit Wurzeln im Veneto. Ihre Liebe zur bedrohten Mittelmeer-Lagune hat sie (wie so manches andere) spät entdeckt, erst Jahre nach ihrem Studium mit Schwerpunkt Mediensprache in Innsbruck. Heute lebt sie als freischaffende Journalistin, Podcasterin und Filmemacherin in Brixen und in der Lagune von Caorle. Foto: ©Manuela Tessaro
Lassen Sie sich nicht davon verunsichern, dass Sie mitunter gesichtslose Industriehallen und Monokulturen passieren, denn ganz unerwartet tauchen Lagunenidyll und Naturoasen auf, wie aus der Zeit gefallene borghi, schnurgerade Landstraßen ins Nirgendwo, Platanen- und Pappelalleen neben Mais- und Weizenfeldern, Radwege entlang träge fließender Flüsse. Und befreiende Strandspaziergänge auf knirschendem Muschelsand sind tatsächlich noch möglich, in der Nebensaison oder früh am Morgen. Freuen Sie sich außerdem auf eine beglückende regionale Küche. Und ganze zwölf UNESCO-Stätten des Weltkultur- und Naturerbes (der insgesamt 59 italienischen)! Eine sanfe Annäherung an die ökologisch hochsensible Gegend ist mir ein Anliegen: Überschwemmungen haben bereits gigantische Mengen an Adriasand weggespült, Dünenlandschaften verschwinden, und der Anstieg des Meeresspiegels infolge der Erderwärmung ist eine ernsthafte Bedrohung.
Kitsch aufs Herz: Wer bliebe von dieser Kulisse auch unberührt?
Fischfang und Prosecco, Zikadengesang und Coccobello: Lagune, vergessene Borghi und Pampa am Übergang von Wasser zum Land. Von Triest bis Chioggia warten Natur und Kultur zwischen Alpen und Meer. Bei Bootsfahrten und Radausflügen entlang der Flüsse und in die Lagunen wirken Landstriche und Städtchen, als sei die Zeit stehen geblieben. Verstohlen schielen wir auf Spuren der Landflucht, auf der Zunge der Geschmack eines Frizzante. Und dann noch die versteckten Schätze aus der reichen venezianischen Vergangenheit: Kirchen, Villen, die Planstädte Palmanova und Torviscosa, archäologische Stätten wie Aquileia, Concordia Saggitaria und Oderzo sowie Osterias mit Charakter. Und die Menschen dahinter, mit ihren Geschichten. Sie laden ein, in dieser unterschätzten Gegend zu verweilen. Foto: folioSelbst das Abnehmen der Nebel-Tage im Winter – ein Nebel, der die Landschaf genauso verschluckt wie die nächste Straßenkurve – ist für Weinbauern Grund zur Klage, weil der Boden weniger Feuchtigkeit speichert. Überhaupt sind mir gewisse Orte und Phänomene ein Vorwand, um die Geschichten derer zu erzählen, die sie bewohnen. Gemeinsam mit Fuchs und Hase, die sich gute Nacht wünschen und Jägern ein Schnippchen schlagen. Nicht immer werden Sie auf das Auto verzichten können, doch vertrauen Sie darauf: Öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad und Boot eröffnen ungeahnte Perspektiven auf Land, Wasser und deren Menschen. Auf einer Fernwanderung von den Alpen bis ins fache Land habe ich einige der hier beschriebenen Orte erwandert. Der Blick von den Bergen auf die Lagune verhieß mir grenzenlose Weite, jener zurück mutete mitunter surreal an: Die Venezianer bezeichnen die Aussicht von der Lagune auf die Voralpen als stravedamento und treffen damit voll ins Schwarze, weist der Begriff doch sowohl auf eine verzerrte Sichtweise als auf eine übergroße Bewunderung hin. Kitsch aufs Herz: Wer bliebe von dieser Kulisse auch unberührt? Oder vom Adria-Sonnenuntergang, wenn der Feuerball im Eiltempo hinter dem Horizont verschwindet.
Musikalische Landschaft: Den Soundtrack mitgeliefert: Wenn wir uns auf ein Reiseziel einlassen, sind alle Sinne auf Empfang, nicht nur unsere Augen. Die Atmosphäre einer Landschaf kann die Musik am besten erfassen, und wer kann dieses Lebensgefühl besser konservieren als italienische Cantautori und Cantautrici? Daher empfehle ich Ihnen in jedem Kapitel einen passenden Song. Foto: folioDas Reisebuch von Anita Rossi ist in der OH!-Reihe des folio-Verlages erschienen und wurde vergangene Woche auf der Buchmesse in Leipzig erstmals vorgestellt.
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