„10 Prozent weniger Studenten“
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SALTO: Herr Weissensteiner, es studieren heute so viele junge Menschen wie noch nie, gleichzeitig herrscht Fachkräftemangel. Wie sehen Sie diese Diskrepanz?
Alex Weissensteiner: Wir haben einen Rückgang der Geburtenraten. Die Kerngruppe zwischen 19 und 25 Jahren nimmt ab. In absoluten Zahlen werden daher weniger studieren, in Südtirol wird die Zahl um 10 Prozent zurückgehen, wenn wir uns die Gruppe der unter 19-Jährigen anschauen. Wir haben derzeit nicht das Problem, dass wir zu viele Akademiker haben. Wir haben einfach zu wenig Leute, ob Ärzte oder Wirtschaftsberater.
Also keine falsche Bildungspolitik?
Es wird häufig so gesehen, dass Universitäten den Handwerken oder anderen Berufsgruppen ohne universitäre Ausbildung zu viele Leute abziehen. Es ist nicht so, dass wir Akademiker ausbilden, die danach keine Arbeit finden. Wir haben sowohl bei den Handwerkern als auch bei den Akademikern in vielen Bereichen zu wenig Leute. Die Universität kann die Sozial- und Familienpolitik nicht kurzfristig beeinflussen, mittel- und langfristig vielleicht schon. Kurzfristig werden wir das demografische Problem nicht lösen können.
„Wir wissen, dass einige mit Studienplatz unsere Universität aufgrund der Wohnungsnot nicht wählen.“
Muss aber nicht auch die Frage erlaubt sein, welche Jobs heute angesichts der Klimakrise noch Sinn machen?
Wenn wir das Klimaproblem lösen wollen, wird neben technischen Lösungen auch eine Umstellung der Lebensformen erforderlich sein. Als Universität sehen wir uns dem Klimaplan Südtirols und den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen verpflichtet.
Ihrer Universität kann man tatsächlich nicht vorwerfen, an den Bedürfnissen der Wirtschaft vorbei zu lehren.
Wir starten nur einen Studiengang, wenn drei Dinge zusammenkommen: Erstens braucht es eine bestimmte Menge an Studenten, die das Studium attraktiv finden. Zudem muss auch das Territorium ein Interesse an dem Studium haben. Wenn es irgendwelche Fächer wären, wo es keinen Arbeitsmarkt gibt, dann würden wir am Markt vorbeiproduzieren. Der dritte Faktor ist unsere Fähigkeit als Universität, diese Dienstleistung mit unseren Ressourcen erbringen zu können. Wenn alle drei zusammenspielen, dann gibt es eine Schnittmenge und in der Schnittmenge können wir agieren.
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Wie beurteilen Sie die Krisen unserer Zeit als Finanzmathematiker?
Die zwei Krisen unserer Zeit sind der demografische Wandel und die Klimakrise, das sind die großen ernst zu nehmenden Themen, wo wir auch als Universität gefordert sind. Wir sind jetzt in der zweiten Stufe. Die erste Stufe war das Wachrütteln. Es hat doch lange Zeit eine beachtliche Anzahl an Personen gegeben, die das Ganze geleugnet haben.
Was meinen Sie jetzt genau?
Wir brauchen nur den ehemaligen Präsidenten der USA betrachten, der einfach sagt, dass es die Klimakrise nicht gibt. Es sei nicht menschenverschuldet. Und dort braucht es Wissenschaft, die das widerlegt.
Das machen sie ja, 99 Prozent der Wissenschaftlerinnen sagen das.
Richtig. Das muss bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen. Ich denke, das ist geschafft. Heute wird der Großteil der Personen zustimmen, dass der Mensch einen wesentlichen Anteil – die Hauptschuld – an dieser Klimakrise hat. Das ist die erste Stufe, die ist jetzt geschafft. Wenn wir jetzt in der zweiten Stufe die Dinge verbessern wollen, dann stellt sich die Frage, wie wir das machen. Es braucht in bestimmten Bereichen neues technisches Wissen, etwa in der Autoindustrie.
Das E-Auto ist bereits auf dem Markt…
Wenn man sich Deutschland anschaut, dann könnte man einfach vermuten, dass sie über die Jahre die besten Ingenieure hatten. Sie haben Autos gebaut, die auf dem Stand der Technik waren, es müsste doch jetzt einfach sein, auf eine andere Art der Mobilität umzusteigen. Man sieht, dass das so einfach nicht ist. Deswegen braucht es jetzt in dieser zweiten Phase neues und anderes Wissen, das auch nicht das ganze Problem lösen wird.
Stichwort Wohnungsnot – wie viele Wohnheimplätze braucht es in Südtirol für Studierende noch?
Wir weisen seit Jahren auf dieses Problem hin. Derzeit plant das Land rund 800 Heimplätze. Wenn diese Menge tatsächlich realisiert wird, glauben wir, dass das ausreicht. Dadurch wird der extreme Preisdruck etwas genommen und Studierende, die es sich derzeit nicht leisten können, haben dann die Möglichkeit, hier zu studieren. Wir wissen, dass einige mit Studienplatz unsere Universität aufgrund der Wohnungsnot nicht wählen.
Die Stadt Bozen hat eine Preisgrenze für die monatliche Miete von 600 Euro festgelegt.
Das ist eine vernünftige Grenze, natürlich ist sie noch hoch, aber am privaten Markt haben wir Angebote von mindestens 800 Euro. Wenn man auf private Initiativen angewiesen ist, müssen diese sich auch rechnen. Ansonsten muss man auf öffentliche Heime setzen.
„Wir haben derzeit 300 Forschungsprojekte von 500 Forschern.“
Welche Ziele verfolgen Sie für die Universität in den nächsten Jahren?
Neben der Einführung neuer Studienprogramme an der neu eröffneten Fakultät für Ingenieurswissenschaften wollen wir neue Formen des Lehrangebotes schaffen. Auf der einen Seite gibt es speziell im Masterprogramm eine zunehmende Anzahl an Studenten, die bereits arbeiten. Diese brauchen mehr Flexibilität und deshalb wollen wir die Fernlehre ausbauen. Sie sollen die Möglichkeit haben, das Studium über einen längeren Zeitraum zu absolvieren und dafür die Studiengebühren zu reduzieren.
Auf der anderen Seite?
Es gibt einen zunehmenden Bedarf an Weiterbildung für bereits Berufstätige, die vielleicht schon einen Studienabschluss haben. Es geht hier nicht um ein gesamtes Studium, sondern um kleine Lerneinheiten. Für diese Personen möchten wir ein zusätzliches Angebot schaffen, etwa in der öffentlichen Verwaltung, in der Sanität, im Bankwesen oder auch im Journalismus. In all diesen Berufsgruppen braucht es laufende Weiterbildung, zum Teil bieten wir diese bereits an.
Was ist der Grund für diesen Trend?
Viele Universitäten haben durch die alternde Bevölkerung entdeckt, dass es auch nach dem Abschluss eines Studiums Weiterbildung braucht. Durch den demografischen Wandel wird die Anzahl der potenziellen Studierenden um 10 Prozent zurückgehen.
Wie sieht die Zusammenarbeit der Uni heute mit der lokalen Wirtschaft aus?
Wir haben die Zusammenarbeit in den letzten zehn Jahren stark ausgebaut. Die Drittmittel sind von weniger als einer Million auf 16,5 Millionen Euro angewachsen. Viele Projekte, die auch über den PNRR (nationaler Wiederaufbaufonds, Anmerkung d. Red.) finanziert wurden, sind in Zusammenarbeit mit lokalen Unternehmen. Wir haben derzeit 300 Forschungsprojekte von 500 Forschern. Das Ziel in den nächsten Jahren wird sein, neben der Zusammenarbeit mit Großunternehmen verstärkt mittlere und kleine Unternehmen anzusprechen.
Wie sieht die Zusammenarbeit klassischerweise aus?
Wir sehen in verschiedenen Studienprogrammen Praktika vor, derzeit haben wir etwa 470 Praktikumsvereinbarungen mit in Südtirol ansässigen Unternehmen. Häufig ergibt sich im Anschluss die Möglichkeit, dass Studenten ihre Diplomarbeit im Auftrag des Unternehmens schreiben. Hier entsteht der erste Kontakt zwischen Betreuer der Universität und Unternehmen. Bei Interesse kann darauf aufbauend ein größeres Forschungsprojekt entstehen. Wenn ein kleines Unternehmen selbst die finanziellen Ressourcen nicht dafür aufbringen kann, stehen je nach Thema EU-Mittel zur Verfügung.
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