Società | Sensibilisierung
„Das geht überhaupt nicht zu sagen“
Foto: Georg Lembergh
Auszug aus dem Buch „Wir brechen das Schweigen. Betroffene sprechen über sexuellen Missbrauch“, Raetia Verlag 2022;
Triggerwarnung: Die folgenden Texte enthalten Schilderungen von sexualisierten Gewalthandlungen, die belastend und retraumatisierend wirken können.
Namen, Orte, Berufe und andere personenbezogene Angaben wurden verändert, um die Anonymität der Betroffenen zu wahren.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Begebenheiten sind rein zufällig.
Veronika Oberbichler: Das heißt, dass auch Freunde von deinem Onkel übergriffig geworden sind – das höre ich da jetzt heraus?
Valentina: Genau. Der eine, ich sage jetzt einfach die Vornamen, weil sonst glaube ich, tue ich mich schwer: Der Bruno hat nicht weit weg in der Nachbarschaft gewohnt, das sind vielleicht 300 Meter von unserem Bauernhof entfernt. Bruno ist derjenige, der mich über einen sehr langen Zeitraum hinweg immer wieder missbraucht und vergewaltigt hat. Ich erinnere mich leider auch da nicht genau, wie das angefangen hat, aber ich denke, dass ich so vier oder fünf Jahre alt war. Bis zum Alter von ungefähr zwölf Jahren ist es immer wieder passiert.
Das war immer verbunden mit Ekel und damit, dass er Sachen macht, die ich gar nicht will.
Wie ist denn das abgelaufen? Wie ist Bruno ins Haus gekommen?
Es war immer außerhalb des Hauses, im Stadel oder in der näheren Umgebung. Wenn ich auf dem Feld war, oder im Wald oder in der Nähe von seinem Wohnhaus.
Wie alt war er?
Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, dass er so zwischen zwölf und 15 Jahre älter war als ich. Also ein junger Mann … Er hat viel getrunken, und deswegen denke ich mir, dass er mit einem meiner Onkel befreundet war, weil der auch viel im Gasthaus war und auch viel getrunken hat.
Und wie standst du zu Bruno? Das lässt sich ja gar nicht einordnen für ein Kind ...
Ich nahm ihn als einen unangenehmen Menschen wahr. Der mir natürlich bekannt war, weil er ja in der Nachbarschaft lebte und mit meinen Onkeln unterwegs war. Also habe ich wohl angenommen, dass alles okay ist, dass ich in Sicherheit bin, wenn er mit meinen Onkeln unterwegs war.
Wenn es für dich in Ordnung ist, könntest du hier noch ein wenig detaillierter erzählen. Aber nur, wenn es für dich passt.
Ich kann versuchen, einzelne Situationen zu beschreiben. Ich kann es zeitlich nicht einordnen, weil das in meiner Erinnerung verschwimmt, wann was gewesen ist. So Situationen, an die ich mich erinnern kann, sind z. B. im Stadel. Da gibt es ein Loch, wo man das Heu in den Stall hinunterwirft. Genau neben dem Loch, das ja offen war, habe ich mich hinsetzen müssen und er setzte sich neben mich.
Dann nahm er meine Hand und legte sie auf seinen Penis und hat so gerieben. Dann versuchte er mich zu küssen. Dabei stank er nach Alkohol. Er hatte zudem einen Schnauzer. Es war eine Katastrophe.
Und dann hat er irgendwie meine Beine so auseinander ... Dann ist er mit dem Penis in mich hinein … Ich lag da genau neben dem Loch und wusste nicht, ob ich da hinunterfalle oder nicht.
Du hattest also Todesängste ...
Und er hat gesagt, ich dürfe niemandem etwas sagen. Wenn ich jemandem etwas sage, würde er die Polizei holen. Er hatte ein Messer und ich hatte einfach Angst, dass er das wirklich macht. Mir war irgendwie klar, dass ich das, was da gewesen ist, nicht sagen darf. Das geht überhaupt nicht zu sagen.
Das, was überhaupt nicht zu sagen geht, ist das, wo wir nicht schweigen dürfen. Aber es ist klar, dass du es damals in dieser Situation nicht sagen hast können.
Ich hatte Angst, dass er wirklich zur Polizei gehen würde, und fürchtete, dass die Polizei etwas gegen mich tun könnte.
Wahrscheinlich hätte ich ein anderes Umfeld gebraucht, um zu reden, um mich mitzuteilen.
Ein Wahnsinn, diese Einschüchterung ...
Irgendwie ist es dann passiert, dass es immer öfter zu solchen Situationen gekommen ist. In der Nachbarschaft gab es ein Gasthaus und dahinter einen Verschlag, wo allerhand Sachen abgestellt waren. Er hat mich in einen dunklen Raum gebracht und mich gezwungen, meine Beine auseinanderzutun. Das war immer verbunden mit Ekel und damit, dass er Sachen macht, die ich gar nicht will.
Du hast klar gespürt, dass du das nicht willst, aber zugleich bist du dem nicht entkommen ...
Je mehr derartige Situationen es gegeben hat, umso weniger war es mir möglich. Ich habe verstanden, ich müsste es jemandem sagen, aber ich habe gemerkt, es geht nicht. Je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr hatte ich das Gefühl, ich kann zu Hause nichts sagen. Ich hatte immer das Gefühl, die ganze Schuld und die ganze Scham liegen auf mir.
Ich frage mich zum Beispiel, ob es eh das ganze Dorf gewusst hat.
Aber dabei war es genau umgekehrt!
Ja. Eine andere Situation war: Ich musste in den Wald, um Preiselbeeren oder Blaubeeren zu pflücken. Das habe ich sehr gerne getan. Aber oft hat er mich am Haus vorbeigehen sehen und hat mich gefragt, wohin ich gehe. Dann sagte er, er kommt nach. Es endete damit, dass ich halb nackt in den Beeren gelegen bin und er mich missbraucht hat. Zum Schluss hat er mir geholfen, ein paar Pilze zu sammeln, und gesagt, die kannst du mit nach Hause nehmen, dann fällts nicht auf, dass du eigentlich was anderes getan hast.
Dass DU was anderes getan hast? ER war der Täter!
Genau so war es, wenn ich die Kühe hüten musste, da war ich alleine auf dem Feld. Wenn er kommt, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich hatte Angst, auch vor dem Entdecktwerden. Ich hatte Angst, weil ich
etwas Verbotenes tat, ich hatte Angst, dass er mir etwas antut, ich hatte Angst, dass er mich bei der Polizei anzeigt.
Valentina fällt es schwer weiterzureden. Ich ermutige sie.
Wahrscheinlich hätte ich ein anderes Umfeld gebraucht, um zu reden, um mich mitzuteilen. Dabei hat es schon Zeichen gegeben, aber die sind … nicht gesehen worden. Ich frage mich aus der zeitlichen Distanz so viele Dinge ...
Was fragst du dich denn?
Ich frage mich zum Beispiel, ob es eh das ganze Dorf gewusst hat. Dass also im Gasthaus darüber geredet worden ist. Damals waren ja viele im Suff. Ich denke, das war relativ normal, die werden sich schon alles Mögliche erzählt haben. Dann hat vielleicht der eine erzählt: „Du, bei der gehts.“ Und dann bist du schon zugerichtet, bist eine leichte Beute.
Findest du, das macht einen Unterschied, wie über sexuelle Gewalt gesprochen wird?
Für mich macht es einen großen Unterschied. Wenn ich in der Vergangenheit darüber geredet habe, habe ich meist nur gesagt, ich bin sexuell missbraucht worden. Und mit diesem Satz hat man es auch so stehen lassen können. Ich musste eigentlich gar nichts mehr dazu sagen und die anderen denken sich dann halt was auch immer. Vielleicht fragen sie noch nach, wer es war, ob es der Vater gewesen ist oder der Onkel. Ich hatte immer das Gefühl, ich passe mit meiner Geschichte in diese klassischen Bilder von Missbrauch nicht hinein. Um das Ausmaß überhaupt darstellen zu können, müsste man weiter ausholen können. Es geht nämlich auch um größere Strukturen, man müsste sich die gesamte gesellschaftliche Struktur anschauen, wie das funktioniert, an dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin, oder meinetwegen in der Südtiroler Gesellschaft. Man redet über ganz viele Dinge nicht, es gibt ein riesiges Tabu, und alle schauen weg und niemand schützt die Kinder oder stellt sich ganz eindeutig auf die Seite der Opfer. Und deswegen ist es wichtig, auch über Details zu sprechen, weil ich glaube, dass solche Strukturen öfters vorkommen. Der Satz „Ich bin sexuell missbraucht worden“ ist in dieser Form falsch für mich, einerseits weil da „ich“ steht, aber da hat es mich als Mensch gar nicht mehr gegeben. Ein Missbrauch ist eine totale Missachtung deiner Person. Außerdem richtet sich in der Aussage „Ich bin sexuell missbraucht worden“ die Aufmerksamkeit auf dich als Betroffene und nicht auf den Täter. Der gerät aus dem Blickfeld, finde ich. Das ist das Dilemma der Passivkonstruktionen in der deutschen Sprache: Solange ich selber von mir sage „Ich bin sexuell missbraucht worden“, bin ich gar nicht in Verbindung mit mir. Richtig wäre: „Mein Nachbar hat mich sexuell missbraucht, und wenn du es mit mir aushalten magst, erzähle ich dir, wie es für mich war.“
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Kindsmißbrauch ist wohl eine
Kindsmißbrauch ist wohl eine der zerstörendsten Taten die ein Mensch begehen kann. Oft sind die Täter selbst Opfer gewesen. Das Umfeld von Kindern muss lernen, den Kindern liebevoller und aufmerksamer zuzuhören und ihnen umfassende Geborgenheit zu bieten. Wenn Kinder sich dann noch selbst als die Schuldigen erleben, sind sie völlig ausgeliefert. Deshalb ist es sinnvoll offen darüber zu sprechen.
Erschütternd!
Erschütternd!
Es tut mir so Leid. Danke an
Es tut mir so Leid. Danke an die Autorin für dieses wichtige Buch. Danke an Valentina und die anderen Frauen für ihren Mut und die Bereitschaft, das Schweigen zu brechen und das Unsagbare zu erzählen.
In risposta a Es tut mir so Leid. Danke an di Silke Raffeiner
Danke an die katholische
Danke an die katholische Kirche die systematisch alles gewusst und VERTUSCHT hat und noch heute tut! Danke Muser und Co. DANKE IHR PHARISÄER!!!!!
„Mein Nachbar hat mich
„Mein Nachbar hat mich sexuell missbraucht, und wenn du es mit mir aushalten magst, erzähle ich dir, wie es für mich war.“ Danke für Ihren Mut.
Sie hatten damals nicht die Möglichkeit sich zu wehren oder solcher Grausamkeit zu entfliehen. Das mindeste, was ich nun tun kann – was wir als Gesellschaft tun können - ist solidarisch und herzlich Anteil nehmen, gemeinsam gesellschaftliche Tabuisierungen brechen, und ein neues Menschenbild für die Zukunft anstreben. Den moralische, politische und soziale Haltungen sind aufs engste mit Menschenbildern verknüpft.
Erinnerung: Mittwoch, 9.11.2022, 18:30 Uhr, Sparkassensaal im Waltherhaus Bozen