Wider dem Politischen
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Biedermeier ist tot, lang lebe Biedermeier.
Die von allen Seiten immer wieder unterstellte Politikverdrossenheit ist die größte Lüge des 21. Jahrhunderts. Dieser implizite wie explizite Vorwurf richtet sich vornehmlich an die jüngere Generation und beinhaltet in Wirklichkeit nichts anderes als die Unterstellung der älteren Semester, dass sich junge Leute nicht mehr in den sicheren Gewässern der Parteiendemokratie befinden. Dieser Ausbruch aus den klassischen Schemata politischer Partizipation fühlt sich zwar nach Selbstbemächtigung an, hat aber eine dunkle Kehrseite. „Das Politische“ hat sich in früheren Zeiten hauptsächlich innerhalb der Parteien, in Vereinen und (koordiniert und organisiert) auf den Straßen abgespielt und wurde in den klassischen Medien wie Fernsehen und Print reflektiert. Der Raum des Politischen war also eng definiert, wenngleich jeder aktiven oder zumindest passiven (konsumtiven) Zugang zu ihm hatte, wenn er oder sie ihn denn wollte. Heute ist das Politische nicht im Rückgang, sondern auf unangenehme Weise auf dem Vormarsch. Politik ist allgegenwärtig, zu allgegenwärtig.
Die Demarkationslinien zwischen der politischen Sphäre und dem unpolitischen Raum existieren nicht mehr. Heute ist alles politisch. Wie man sich im Alltag ausdrückt – es zählt nicht mehr, was man sagt, sondern schon, wie man es sagt (Gendersprache oder nicht), um Rückschlüsse auf die politische Einstellung zu ziehen; wie man sich anzieht – konservativen Menschen wird der BWL‑Justus‑Stil zugeschrieben, links‑alternative oder liberale Menschen erkennt man scheinbar am geschlechterdekonstruierenden Vintage‑Kleidungsstil. Bei beiden werden somit aus alltäglichen, unpolitischen, von persönlichen Präferenzen abhängigen Entscheidungen Rückschlüsse auf die politische Einstellung gezogen. Man könnte es auch an Essgewohnheiten festmachen: Der Grüne isst vegan, die Linke trinkt Matcha, der Rechtskonservative isst Schnitzel. Die Politik verfolgt die Menschen somit in jeder Sekunde ihres Lebens. Das politisch wertende Urteil eines anderen über einen selbst lauert an jeder Ecke der materiellen Welt. Auch die immaterielle, digitale Welt ist geprägt durch diese Omnipräsenz des Politischen. Die neuen Medien sind schon längst zum Schlachtfeld der öffentlichen Meinung geworden. Auch hier verlocken Posts über alltägliche Aktivitäten, Sprache und geteilte Freizeitaktivitäten dazu, voreilige Schlüsse hinsichtlich politischer Gesinnung zu ziehen. Die sozialen Medien haben den Raum des Politischen zu einem allgegenwärtigen Kontinuum gemacht, das ausnahmslos alles politisiert, wenn es den Algorithmen und den Benutzern opportun erscheint.
Diese „Verallgegenwärtigung“ der Politik in der Mediendemokratie und Aufmerksamkeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist in höchstem Maße übergriffig und außerdem unsinnig. Sie entzieht den Individuen die freie Entscheidungsgewalt über die eigenen Vorlieben im Alltag und führt zu einem paranoiden Gefühl, einer dauernden Beobachtung ausgesetzt zu sein. Das Subjekt politischen Handelns und Denkens wird somit zum hilflosen Objekt, das dem öffentlichen Urteil permanent ausgeliefert ist. Diese Permanenz beeinträchtigt die politisch‑emotionale Psychohygiene. Der Mensch braucht den Rückzugsort des Privaten, die Flucht in den Alltag und in einen geschützten Raum. Wenn wir es nicht schaffen, wieder zu einer politischen Hygiene zu gelangen, die Öffentlichkeit und Privates einigermaßen sauber voneinander trennt, wird die Frustration und Polarisierung weiter zunehmen. Und die Menschen werden rechts‑ und linksautoritären Parteien weiterhin zuströmen. Denn sie verkörpern durch ihren Führungsstil das Versprechen, den Menschen die wichtigen Entscheidungen und das selbstständige Denken abzunehmen und Einförmigkeit herzustellen, um genau von dieser dauernden Gegenwart des Politischen befreit zu sein.
Ich kann mit einem weiteren…
Ich kann mit einem weiteren Klischee dienen: Ältere Semester reagieren unrund auf Fallfehler. Außerdem war das Private schon zu meiner Zeit politisch, damals wie heute eigentlich kein Grund zum Heulen. Wenn das mediale Stumpfsinn-Trommelfeuer zu arg wird, kann ein Waldspaziergang manchem Essay und Kummer vorbeugen oder wäre der - gemäß dem grobhölzernen Wahrnehmungsraster des Autors - etwa zu rechts-konservativ gebrandet? Dann sei rasch links-alternativ gegensteuernd eine duldsame Fichte umarmt und alles ist wieder schön gemittet und gut.