Autoritäre Involution
Kein Tag vergeht in der Türkei ohne frauenfeindliche oder antidemokratische Äusserung höchster Regierungsvertreter. Dass Frauen auf ihre Karriere verzichten und lieber Kinder machen sollten, hat der türkische Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoglu erklärt, nachdem Staatspräsident Erdogan gefordert hatte, eine Frau müsse mindestens drei Kinder auf die Welt bringen. Doch solange es bei Erklärungen bleibt, werden sie – zu Unrecht – kaum ernst genommen.
Schwerwiegender sind die Involutionsprozesse in der Justiz und bei der inneren Sicherheit. So sind erneut zwei Ermittlungen gegen Erdogan-Schützlinge abgeschmettert worden. Die erste betraf die Verwanzung (Mikrokameras und Mikrophone) des Regierungssitzes des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan, die 2011 von den zuständigen Polizeistellen aufgedeckt worden war. Weil dieser Skandal aber in eine Zeit fiel, in der Al-Kaida-nahe und von Erdogan eingeladene arabische Spitzenbeamte zwei Monate lang im Büro des Regierungschefs ein- und ausgingen, wurden die Ermittlungen gestoppt.
Am Montag, 5. Jänner, entschied die zuständige Parlamentskommission in Ankara, die von der Justiz geforderten Vorladungen von vier AKP-Ministern zu verbieten. Sie sind in den Korruptionsskandal verwickelt, der am Rande auch Erdogan und dessen Sohn gestreift hat. Demgegenüber ist die Polizei mit ungeahnter Brutalität gegen Demonstranten von Menschenrechtsorganisationen vorgegangen, die vor dem Verfassungsgerichtshof gegen Erdogan protestiert hatten. Trotz der eisigen Kälte – es schneit in Istanbul – wurden Wasserwerfer und Tränengas gegen die kleine Gruppe eingesetzt.
In Izmir hat ein Gericht die Verantwortlichen für den Tod eines kurdischen Demonstranten während der Solidaritätskundgebungen für Kobane auf freien Fuß gesetzt. Dagegen wurde die Fernseh-Journalistin Sedef Kabas erneut festgenommen, weil sie kritische Tweets gegen Erdogan gepostet hatte. Sie war bereits am 30. Dezember in Haft genommen und nach zwei Tagen freigelassen worden.
Geradezu hysterisch reagiert das türkische Regime auf jede noch so kleine Kritik. Und so verwundert es nicht, dass die Regierung ein Gesetz verabschieden wird, das es dem Innenminister erlaubt, über einzelne Städte oder Regionen für maximal sechs Monate den Ausnahmezustand zu verhängen. Jede auch noch so kleine Unruhe oder Demonstration, bei der es zu Gewaltausübung kommt, kann der Anlass dafür sein.
Das Regime fürchtet nicht nur die Kurden, deren Stimmen Erdogan definitiv verloren hat, nachdem er die terroristischen ISIS-Milzen unterstützt und die Peschmerga-Kämpfer behindert hat. Jetzt geht im 1.150 Zimmer-Präsidentenpalast in Ankara auch wieder die Angst vor den türkischen Regimegegnern um. Denn Erdogan hat beschlossen, seinen Ministerpräsidenten fortan bei Regierungssitzungen zu flankieren und zu langfristig zu ersetzen.
Das wäre der nächste Schritt zur angekündigten Umwandlung der Türkei in ein reines Präsidialsystem. Und wenn es dem neuen Sultan auch gelingt, den noch laizistischen Staat in ein islamisches Gebilde umzuwandeln, würde sein Plan aufgehen, ein von den Ottomanen geführtes sunnitisches Reich aus der Taufe zu heben, in dem -vermutlich - auch der islamische Terrorstaat ISIS einen Platz finden wird.
Doch weil ich meine Türkei-Beobachtungen mit einer positiven Nachricht abschliessen will, hier ein Hoffnungsschimmer, der die Religionsfreiheit betrifft. Demnach dürfen die syrischen Christen in Yesilköy in Istanbul eine neue Kirche bauen. Das wäre insofern sensationell, als die türkische Republik zum ersten Mal seit ihrer Gründung 1923 den Neubau eines christlichen Gotteshauses erlaubt. Bisher durften christliche Kirchen höchstens rennoviert werden.