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Kosmopolitische Kindheit

Die Villa Freischütz in Obermais wird bald aus ihrer Jahrzehnte andauernden In-Sich-Versunkenheit erwachen. Ein "vissidarte"-Gastbeitrag von Sonja Steger.
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Foto: Foto: Vissidarte

Bühnenbild
Ein verstecktes Gässchen in Obermais, trockenmauergesäumt. Ein Garten, in dem die Schönheit der Verwilderung herrscht, darin steht die Villa Freischütz. 1909 ließ sie der Meraner Metzgermeister Ignaz Gritsch im Heimatstil erbauen. Ihr Name ist der anno dazumal beliebten Oper von Carl Maria von Weber entlehnt, deren Lieder vermutlich auch in Meran Gassenhauer waren. Gritsch hatte die Villa nie selbst bewohnt, die Wohnungen vermietete er von Anfang an. 1922 erwarb Franz Fromm die Villa.

Ich fühle mich an die Romane von Dostojewski erinnert. Oder spüre ich doch eher einen Hauch von Hundert Jahre Einsamkeit? Wie dem auch sei, ein Personenregister wäre hilfreich, um den Überblick nicht zu verlieren, denn verwirrend viele Protagonisten hinterließen ihre Spuren an diesem Ort. Konzentrieren wir uns auf einen …

Held
Derer gäbe es viele in dieser Geschichte, unzweifelhafte und problematische. Ich wähle Franz Fromm (1854‒1941). Warum? Das liegt auf der Hand: Der Preuße und Abkömmling einer wohlhabenden Tuchfabrikanten-Dynastie, war Weinhändler in Barcelona, Sammler, Privatgelehrter und Witwer – seine Gemahlin, die in Peru geborene Tochter eines preußischen Konsuls, Luisa Vernal y Hilliger, verstarb, bevor Franz Fromm Meran als sein Kurdomizil erwählte. 
Nun gut, ab 1905 hält sich Franz Fromm ‒ mit Kindern und Hauspersonal ‒ während der Wintermonate als Kurgast in Meran auf und bewohnte Villen und Schlösser, wie das verschwundene Schloss Riedenstein, die Schlösser Rubein, Labers und Rametz. Kurzum: Das Meran der Belle Époque gefiel ihm so sehr, dass er seinen Hauptwohnsitz dorthin verlagerte.

Die Sprösslinge der großbürgerlichen Familien Fromm und Navarini erlebten hier eine unbeschwerte Kindheit.

Der Hauptanteil des Erinnerungsfundus in der Villa Freischütz stammt von Franz Fromm. Seine riesige Sammlung von Kunst und Kunstgewerbe, Möbeln und Alltagsgegenständen wurde verschifft von Barcelona nach Triest, von dort aus bedurfte es unzähliger Wagenladungen, um sie nach Obermais zu bringen.
Weitere Erinnerungsträger kamen im Laufe eines Jahrhundert dazu: Korrespondenz und  Tagebücher, die fast lückenlos erhalten geblieben sind, sowie zahllose Objekte, die seine Nachfahren im Haus hinterließen. Viele dieser tatsächlichen und ideellen Schätze erzählen auch von den Kindern Fromm und Navarini.

Großbürgerliche Kindheit
Der kosmopolitische Familienvater verwandte viel Sorgfalt und Zeit in die Bildung seiner vier Kinder. Zoila, Luisa und Paco (Francisco); sein Sohn Jorge starb 1918 an der Spanischen Grippe in Schloss Rubein. Gouvernanten umsorgten die Heranwachsenden, Hauslehrer unterrichteten Sprachen, Naturkunde, Musik und Malerei. Im Haus schlummern unzählige Spielsachen – von Puppen bis Zinnsoldaten; es findet sich didaktisches Lehrmaterial: darunter ein famoser Globus, mehr dazu später, Fossilien-, Stein- und Insektensammlungen; auch Material und Werkzeug zum künstlerisch-musischen Gebrauch ist erhalten geblieben. Zoila malte, schnitzte und fertigte Objekte aus Metall an. Luisa musizierte und sang. Paco sammelte Schmetterlinge, Käfer und Fossilien.

Es könnte der Eindruck entstehen, die Kinder hätten ausschließlich Hausunterricht genossen. Dem war nicht so, diese Förderung wurde ihnen zusätzlich geboten. Die Mädchen besuchten die Schule bei den Englischen Fräulein, der Junge die Landwirtschaftsschule in San Michele all‘Adige.

Zeitsprung zur Stifterin
Luisa Fromm heiratete 1925 General Enea Navarini, der Ehe entsprangen zwei Kinder, Rosamaria, die Gründerin der Stiftung Navarini-Ugarte, und ihr Bruder Paolo. Rosamaria berichtete von einer glücklichen und unbeschwerten Kindheit. Vor allem die liebevollen Kindermädchen und Erzieherinnen, die ihre Mutter mit Bedacht eingestellt hatte, waren ihr in guter Erinnerung geblieben. Ihre Mutter Luisa, die eine Gesangsausbildung in Berlin genossen hatte, delegierte die Betreuung ihrer Kinder, standesgemäß und wohlwissend, dass sie diese Aufgabe überfordert hätte. Die heranwachsende Rosamaria besuchte die Schule an verschiedenen Orten, u.a. in Rom und Forlì, da ihr Vater, General Navarini, in ganz Italien tätig war. Musisch begabt, widmete sie sich von Kindheit an dem Malen und Handarbeiten, ihre liebsten Lebensgefährten waren ihre Tiere.

Da ihre große Liebe bei einem Autounfall ums Leben kam, schenkte sie ihr Herz keinem anderen mehr. Rosamaria blieb ledig und kinderlos. Sie bewahrte das Erbe ihrer Vorfahren, pflegte ihr Interesse für Antiquitäten, umsorgte ihre Haustiere: Hunde, Katzen und Vögel. Lange Zeit spielte sie mit dem Gedanken, das Haus, die Kunstsammlung, die historischen Alltagsobjekte der Allgemeinheit zugänglich zu machen. 2012 fasste sie einen Entschluss und gründete die Stiftung Navarini-Ugarte. Namengebend sind ihr Vater und ihr Großonkel, der Halbbruder ihrer Großmutter, der peruanische Nationalheld Alfonso Ugarte. Bei diesem Unterfangen vertraute sie auf die Unterstützung von Freundinnen und Vertrauten. Ihre Träume werden jetzt Wirklichkeit.