Niemand zuerst
1919-1939-1969. Nur einer, der im Saal sitzt, hat alle drei Jahreszahlen miterlebt. Bruno Bertoldi, Jahrgang 1918, ist der letzte noch lebende Überlebende des Massakers von Kefalonia. Ende September 1943 tötete die deutsche Wehrmacht auf der griechischen Insel über 5.000 italienische Soldaten, die sich zuvor ergeben hatten.
Ein Kriegsverbrechen, das Bertoldi unter anderem in seinen Memoiren erinnert: “Mi ricordo, sì mi ricordo.” Um Erinnerung geht es an diesem Donnerstag Nachmittag auch im Innenhof des Palais Widmann. Dort wird der Tag der Autonomie begangen. 2019 steht er im Zeichen von 100 Jahre Südtirol bei Italien, 80 Jahre Option und 50 Jahre Paketabschluss. 1919-1939-1969 – drei Jahreszahlen, die Südtirol unwiederbringlich geprägt haben. So schmerzhaft, zerrüttend und ungerecht die Erfahrungen, die viele Menschen im Lande damit verbinden, gewesen sein mögen – die Geschichte ausblenden, totschweigen darf, kann und will sich Südtirol im Jahre 2019 nicht (mehr) leisten. Nicht zuletzt deshalb, weil die nachkommenden Generationen Fragen stellen – und ein Recht auf Antworten haben.
Kompromisslos kompromissbereit
Zunächst ist es das Historiker-Trio Martha Stocker, Hans Heiss und Carlo Romeo, die es den vielzählig erschienenen Gästen aus den drei historischen Tiroler Landesteilen nicht erlaubt, in Feierlaune zu verfallen. Mit mahnenden Worten zeichnen sie den Weg nach, auf den sich Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg unfreiwillig begeben hat.
Hans Heiss erinnert an die zunächst “mühsame Kohabitation mit dem Staat Italien”, die ab 1919 begann; an die Spaltung der Gesellschaft, zwischen den Sprachgruppen, später zwischen Optanten und Dableibern; an die “Entfremdung des Migranten”, die Südtiroler, die sich fürs Auswanden entschieden, erfuhren; an die “Mitläufer, Täter und Zuseher, die es neben den Opfern und den einzelnen, die Widerstand geleistet haben” während des italienischen und deutschen Faschismus in Südtirol gab; an den “Sieg der Autonomie, der Demokratie und der Diplomatie”, als am 23. November 1969 53,4 Prozent der SVP-Delegierten für das Paket stimmte, mit dem 1972 das Zweite Autonomiestatut Wirklichkeit wurde.
Die unverkennbare Rolle von Silvius Magnago auf dem “demokratischen Weg hin zu einer Lösung, die wohl beispiellos ist”, rückt Martha Stocker ins Zentrum ihrer Rede. Die Gräben und die Zerrissenheit, die er selbst und Südtirol während des Faschismus erlebte und erlitt und die auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges nachwirkten, “haben ihn ein Leben lang beschäftigt”, sagt Stocker. Derart, “dass wir ihn zur Optionsausstellung 1989 fast zwingen mussten, weil er Angst hatte, dass alles ‘aufgerogelt’ wird”. Doch Magnago sei es gelungen, “Rückschläge in ein Potential der Kraft” umzuwandeln und gemeinsam mit seinen Mitstreitern sowie den Vertretern auf italienischer Seite – namentlich nennt Stocker Alcide Berloffa, Giuseppe Saragat und Aldo Moro – dafür zu sorgen, dass am Ende “der Verständigungswille über das gegenseitige Misstrauen siegte”.
Mit dem Kompromiss als politische Tugend, den er für die am Ende gelungene Autonomielösung in den Mittelpunkt rückt, knüpft Carlo Romeo an seine Vorredner an. Zusammenschauen, etwas hergeben und dafür etwas anderes bekommen – “die Abkehr von der Idee der Selbstbestimmung, dafür eine Reihe an Garantien für die Entwicklung der sprachlichen Minderheit” –, das ist für Romeo die Kompromissfähigkeit, die er bei den Vätern der Autonomie verortet. Auf beiden Seiten.
Zusammenschauen für die Zukunft
Die Geschichte kennen, begreifen und verstehen, wie sie das Heute und Morgen prägt – diesen Appell richten die drei Historiker mit großer Inbrunst an die im Saal versammelten Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur, Medien und Zivilgesellschaft. “Hinter den wichtigen Sätzen der Verfassung und des Südtiroler Autonomiestatuts steht Geschichte, Erlebtes und Erlittenes” – Martha Stocker zitiert die ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes (“Die Würde des Menschen ist unantastbar”) und der italienischen Verfassung (“Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik”) – “und zugleich ein Versprechen für die Zukunft.” Ein solches will Hans Heiss auch den anwesenden Verantwortungsträgern abringen: “Geschichte mahnt zur Achtsamkeit und Wahrung der Werte – Friede, Gerechtigkeit, Freiheit sind keine Selbstläufer. Es gilt, die Zukunft der nächsten Generation in den Blick zu nehmen, heute mehr denn je. Denn die Handlungsspielräume, um eine gerechte und nachhaltige Ordnung zu schaffen, sind denkbar eng.”
Verantwortung übernehmen, für das eigene Handeln, in jedem Lebensbereich, ist der Wunsch, den Carlo Romeo den Anwesenden mit auf den Weg gibt. Und Stocker wünscht sich “Begeisterungsfähigkeit – dass wir imstande sind, junge Menschen anzusprechen, damit sie politisch gestalten wollen. Das setzt voraus, dass wir alle begeistert sind, wir alle an das glauben, was wir vertreten, und uns des Wertes der Autonomie bewusst sind”.
Niemand zuerst
Mit dem gelungenen Bogenspann, eingeleitet von dreisprachiger Poesie der Gadertaler Lyrikerin Roberta Dapunt, hätte die Veranstaltung 100-80-50 ein würdiges Ende nehmen können. Dieses aber läuten die drei Landeshauptleute von Südtirol, Tirol und Trentino ein. Günther Platter spricht über die “echte Unrechtsgrenze”, die mit dem Vertrag von Saint Germain 1919 am Brenner gezogen wurde und über seine Überzeugung, dass die drei Landesteile in der heutigen Europaregion stark genug seien, “um 100 Jahre Trennung zu überwinden”. Ein Jahrhundert kann ausreichen, um vieles aufzuarbeiten und zu überwinden, sagt Maurizio Fugatti. Zugleich seien 100 Jahre “aber wenig für jene, bei denen die Geschichte Wunden und Leid hinterlassen hat”.
Als letzter dieser eineinhalbstündigen Gedenkveranstaltung spricht Arno Kompatscher. Die Autonomie ermögliche es Südtirol, gestalten zu können und dürfen, zugleich aber erfordere sie, “Verantwortung zu übernehmen, wie es in unserem Land weitergeht”. “Die große Herausforderung heute ist, wie wir unser geschichtliches Erbe in die Zukunft tragen – danach fragen uns auch die jungen Menschen.” Des Landeshauptmanns Antwort: In einer Gesellschaft, in der sich immer mehr Risse auftun und drängende Aufgaben zu lösen sind, “Politik stets als Kunst des Möglichen verstehen, Werte nicht aus den Augen verlieren, mit Augenmaß auf andere zugehen und sich mit Respekt begegnen – viel mehr als es zuletzt der Fall war”.
“‘America first’, ‘prima gli italiani’, ‘Österreich zuerst’ haben keinen Platz bei uns! Im Jahr 2019 stehen wir vor viel größeren Herausforderungen”, meint Kompatscher. “Es gibt Menschen vieler Sprachen, die hier eine vorübergehende oder dauerhafte Heimat gefunden haben. Wir müssen den sozialen Zusammenhalt stärken und eine ökonomische Entwicklung auch vor dem Hintergrund der Ökologie meistern. Und das kann nur miteinander gehen”.
Keiner im Saal klatscht nicht. Auch die anwesenden Lega-Vertreter, die im Trentino und in Südtirol Regierungsverantwortung innehaben, heben ihre Hände zum Applaus – sie, die die Spaltung und das “Irgendjemand-zuerst”, das im 20. Jahrhundert viele Wunden in Südtirol aufgerissen hat, und gegen das jene, denen am 5. September als große Väter der Autonomie gedacht wird, jahrzehntelang angekämpft haben, im 21. Jahrhundert im Wahlprogramm haben.
Auch daran darf an diesem Tag erinnert werden.