Cultura | Gastbeitrag

Digitale Unsterblichkeit?

Vom Umgang mit Sterben, Tod und Trauer im Zeitalter der Digitalisierung. Ein Gastbeitrag aus der Zeitschrift Kulturelemente #185: Vom Sein zur Trauer.

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Foto: Kulturelemente
  • Jeder Mensch wird geboren und wird sterben. Aber wann, wo und wie? Der Prozess des Sterbens und der Tod als unausweichliches Ereignis gehören zum humanen Dasein dazu und markieren die Grenzen jedes menschlichen Lebens. Gerade durch die Unausweichlichkeit des Todes wird der Mensch im Laufe seines Lebens nahezu gezwungen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Denn der Mensch weiß, dass er jederzeit sterben kann, und irgendwann sterben muss. [1] Im Sinne der ars moriendi, der Kunst des Sterbens, besteht das ganze Leben der Menschen demnach daraus, „sterben zu lernen“. Gleichzeitig kann die ars moriendi auch als ars vivendi gesehen werden, denn „gut leben kann nur, wer gelernt hat zu sterben“. [2] Sterben lernen bedeutet daher immer auch leben lernen und meint die Entwicklung von Fähigkeiten, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. [3]
     

    Diese Form des digitalen Nachlasses zeigt den Versuch der Menschen, ihr Schicksal der Endlichkeit durch die Schaffung einer virtuellen Identität zu durchbrechen. 


    Die Auseinandersetzung mit dem Sterben, dem Tod und der Trauer begleitet die Menschheit seit jeher und unterliegt einem stetigen gesellschaftlichen Wandel. Nach einem Jahrhundert der Verdrängung erlangt der Tod im 21. Jahrhundert wieder mehr öffentliche Sichtbarkeit – nicht zuletzt durch die fortschreitende Digitalisierung. Virtuelle Räume eröffnen neue Möglichkeiten, den Sterbe- und Trauerprozess zu gestalten. Es werden Erinnerungen an Verstorbene öffentlich geteilt und virtuelle Friedhöfe besucht. Zudem können Online-Gedenkfeiern und das Anzünden virtueller Trauerkerzen Trost spenden. [4] Immer häufiger nutzen Trauernde auch die Künstliche Intelligenz. So werden KI-generierte Chatbots als virtuelle Gesprächspartner*innen in der Trauerbegleitung genutzt. Doch die KI dient nicht nur als Medium, über Verstorbene zu sprechen, sondern auch als Simulation der Verstorbenen selbst – mit dem Ziel einer fiktiven Interaktion mit dem Jenseits. Denn das, womit viele nach einem Todesfall hadern, ist die Tatsache, dass keine soziale Interaktion mit der verstorbenen Person mehr möglich ist und man sich „für immer“ verabschieden muss. Künstliche Intelligenz versucht dem entgegenzuwirken, indem sie durch das Einspeisen persönlicher Daten ein digitales Abbild erschafft, das den verstorbenen Menschen imitiert. Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, mit bereits verstorbenen Personen in Form von KI-Chatbots und Avataren möglichst „persönlich“ und realitätsnahe zu interagieren, was helfen soll, den Schmerz des Verlusts zu lindern. [5] Diese neuen digitalen Praktiken bergen aber auch die Gefahr, dass sich Menschen zunehmend von der Realität des Todes entfernen. Sterben und Trauer sind seelische Prozesse, die ehrliches Mitgefühl und den spürbaren Kontakt von Mensch zu Mensch brauchen. Durch solche digitalen Tools büßen sie an Menschlichkeit ein, eben weil das menschliche Dasein digital durch die Interaktion mit selbstlernenden Kommunikationssystemen ersetzt wird und dadurch eine versteckte Einsamkeit und Entfremdung von der Welt durch technisch kalkulierte Emotionen entstehen kann. [6]

  • Der Tod als Inspiration: Unser Verhältnis zum Tod stellt seit jeher eine der größten Herausforderungen unseres Denkens und Fühlens dar. Er lässt uns trauern und zwingt uns, über die Existenz nachzudenken: über den Sinn von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, über den durch den Tod sanktionierten Zeitbegriff, die Vergänglichkeit – und nicht zuletzt über das, was darüber hinausreichen könnte. Foto: Kulturelemente

    Während manche Menschen in ihrer Trauer Trost bei KI-Chatbots suchen und versuchen, mit virtuellen Kopien verstorbener Personen zu kommunizieren, beschäftigen sich andere bereits zu Lebzeiten mit der Erschaffung eines eigenen virtuellen Abbildes, um der Nachwelt erhalten zu bleiben. Denn nicht jeder möchte sich mit dem unausweichlichen Schicksal abfinden, „nicht mehr zu sein, nachdem man gewesen ist“. [7] Es gibt genügend Unternehmen, die den Wunsch der Menschen nach einer unsterblichen, virtuellen Identität zu einem aufblühenden Geschäftsmodell gemacht haben und gegen Geld die Erschaffung von KI-Doppelgänger*innen anbieten. Durch Unmengen an Bild-, Ton- und Videoaufnahmen wird die KI trainiert, eine realitätsnahe Kopie zu erschaffen, die der entsprechenden Person nicht nur mit ihrer Stimme nahekommt, sondern auch Gedanken und Schlussfolgerungen fasst, die dem Charakter und der Haltung der Person ähneln. Auf diese Weise soll der geistige Tod der Person verhindert und den Menschen die Angst genommen werden, in Vergessenheit zu geraten. [8] Es scheint ein Bedürfnis der Menschen zu sein, nicht nur Materielles, sondern auch ihr Wissen und ihre Lebenserfahrungen weiterzugeben und etwas für die Nachwelt zu „erschaffen“, das über den eigenen, physischen Tod hinausgeht. Diese Form des digitalen Nachlasses zeigt den Versuch der Menschen, ihr Schicksal der Endlichkeit durch die Schaffung einer virtuellen Identität zu durchbrechen. Doch gelingt es durch diese neuen, digitalen Technologien wirklich „die unsterbliche Seele aus dem Gefängnis des vergänglichen Körpers zu befreien“ [9] und so die Endlichkeit des Lebens zu überwinden? 
     

    Was bedeutet es für die Menschheit, wenn die bis dato ausschließlich utopische Idee der Unsterblichkeit durch die rasant fortschreitende Entwicklung künstlicher Intelligenz immer realer wird?

  • Eine Handreichung: Es liegt an uns und unserer Haltung mit der (Un-)Bestimmbarkeit und (Un-)Endlichkeit des Lebens umzugehen. Foto: rawpixel.com
  • Franke und Nass halten fest: „Zum verantwortlichen Menschsein gehört die bewusste Vorbereitung auf Sterben und Tod.“ [10] Mit Blick auf die Digitalisierung stellt sich die Frage, wie verantwortungsbewusst wir wirklich mit dem Sterben und dem Tod umgehen: Was bedeutet es für die Menschheit, wenn die bis dato ausschließlich utopische Idee der Unsterblichkeit durch die rasant fortschreitende Entwicklung künstlicher Intelligenz immer realer wird? Wie gehen wir damit um, wenn die zeitliche Begrenztheit des menschlichen Lebens dadurch plötzlich ins Wanken gerät und die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit immer mehr zu verschwimmen scheint? Was bedeutet das für unser Verständnis vom Tod, wenn der Mensch – dasjenige Lebewesen, das seit jeher weiß, dass es sterben kann und muss – vermeintlich unsterblich wird?

    Wie Zirfas betont, kommt es – eben weil die Menschen sterben müssen – darauf an, „jeden Tag und jede Stunde im Hier und Jetzt zu nutzen und den Wert der Zeitlichkeit als Vergänglichkeit zu begreifen“. [11] Nur wer das Sterben lernt und täglich bereit dazu ist, wird Achtung vor jedem einzelnen Augenblick empfinden [12] und das Leben so gestalten, dass es nicht erst in Zukunft, sondern „in jedem gelebten Augenblick als sinnvoll erfahren wird“. [13] Es liegt an uns und unserer Haltung mit der (Un-)Bestimmbarkeit und (Un-)Endlichkeit des Lebens umzugehen.

  • Zirfas, J. (2014a). Geburt und Tod. In C. Wulf & J. Zirfas (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie (S. 329–340). 
    2 Ricken, F. (2012). Ars moriendi - zu Ursprung und Wirkungsgeschichte der Rede von der Sterbekunst. In F.-J. Bormann & G. D. Borasio (Hrsg.), Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens (S. 309–324). Berlin: De Gruyter. hier S. 316
    3 Zirfas, J. (2014b). Gegenwart. In C. Wulf & J. Zirfas (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie (S. 363–373). Wiesbaden: Springer VS.
    4 Franke, A. & Nass, E. (2024). Humanität von Sterben und Trauer im digitalen Zeitalter. Sondierung für eine Kultur- und Wertediskussion. In S. Scholz & J. Zerth (Hrsg.), Versorgung gestalten in vulnerablen Lebenslagen (S. 147–156). Stuttgart: Kohlhammer.
    5 Wobst, B. & Winschewski, J. (2024). Wir hör'n uns, wenn ich tot bin! [ARD-Dokumentation]. 
    6 Franke & Nass, 2024
    7 Brachtendorf, J. (2012). Sterben - ein anthropologischer Konflikt sui generis? In F.-J. Bormann & G. D. Borasio (Hrsg.),  Sterben. Dimensionen eines anthropologische Grundphänomens (S. 257–270). Berlin: De Gruyter. hier S. 257
    8 Schönwandt, F. (2025). Mein Mann lebt als KI weiter – Lieben und Sterben mit Künstlicher Intelligenz [ARD-Dokumentation]. 
    9 Zirfas, 2014a, S. 330
    10 Franke & Nass, 2024, S. 151
    11 Zirfas, 2014b, S. 364
    12 Korczak, J. (2007). Das Recht des Kindes auf Achtung [1929].  Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
    13 Zirfas, 2014a, S. 333