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Charme wider Scham

Auf flussdiktate folgt körperkantate: Die Innsbrucker Lyrikerin Siljarosa Schletterer widmet ihr zweites Buch dem weiblichen Körper und dem dort gewachsenen Sprachkorpus.
entschämungen – körperkantate, Siljarosa Schletterer
Foto: SALTO
  • „Wir brauchen eine neue Sprache für den Körper.“, so lauten die ersten Worte der Gedichtsammlung „entschämungen – körperkantate“, mit der sich Schletterer eingangs (nur) musikalisch, später auch anatomisch mit unserem sprachlichen Umgang mit dem ihr gegebenen Körper auseinandersetzt. Wer Zweifel an einer sprachlich männlichen Dominanz über den weiblichen Körper hat, der wird wahrscheinlich auch grammatikalische Strukturen wie das generische Maskulinum abwinken und ist vielleicht nicht Zielpublikum der Gedichte. Aber was für viele nach wie vor eine Intimzone ist, öffnet Siljarosa Schletterer nicht nur durch ein am Anfang stehendes „wir“ zu einem Diskurs, der weiter geht. Denn egal wie sehr sich Frau emanzipiert und ihre eigenen Entscheidungen über ihren Körper trifft, die Sprache, mit der sie diesen bezeichnet bleibt in der Regel eine vorwiegend männlich geprägte und es gilt, Alternativen zu finden.

  • Siljarosa Schletterer (*1991) hat in Innsbruck Vergleichende Literaturwissenschaften und Musikwissenschaften studiert und für die Jahre 2021/2022 das Große Literaturstipendium des Landes Tirols in der Kategorie Lyrik erhalten (je Sparte mit 15.000 Euro dotiert). Neben ihrer Tätigkeit als Literaturvermittlerin und Lyrikerin verfasst Schletterer Rezensionen und Besprechungen, unter anderem für Die Presse und Der Standard. Zudem ist sie Mitglied der IG Autorinnen Autoren Österreich, sowie Vorstandsmitglied der IG Autorinnen Autoren Tirol.

    Ihr Lyrikdebüt „azur ton nähe – flussdiktate“ erschien 2022 beim Limbus Verlag, bei dem Anfang März auch „entschämungen – körperkantate“ publiziert wurde. Am 25. März, durfte sich Schletterer – neben Emila Kaschka und Veronika Zorn – über den Anerkennungspreis ihrer Alma Mater freuen. Hauptpreisträgerin des Literaturpreises der Universität Innsbruck war Miriam Unterthiner, für ihren Theatertext „Blutbrot“. Siljarosa Schletterer ist Co-Organisatorin des Innsbrucker Lyrikfestivals W:Orte.

  • Die kargen, essenziellen Gedichte der Autorin setzen bei der Sprache an, hinterfragen und schaffen Sichtbarkeit für problematische Etymologien. Alternativen und Unterschiede sucht sie dabei etwa in hochsprachlich verfassten, wie auch im Nordtiroler Dialekt angefertigten Nachdichtungen, die als Duett auf Doppelseiten Platz finden. Eine Gegenüberstellung oder ein Spiegel tut sich dann um die Fadenheftung des rund hundertseitigen Büchleins auf, auch im negativ, etwa: „du bist /  keine dose keine / pflaume kein schlitz / & kein / spalt (…)“ was auf „du bisch / koa bix & koa fotza / koa tasch koa / spålt  (…)“ trifft und das duetto vagina abrundet. Die durchgängig systematisch vergebenen Titel verweisen in halb medizinischen Titeln auf einen Körperort. Manchmal streift die Autorin diesen, manchmal vertieft sie den Ort oder widmet einen Text einer Frau oder einem Mann. Ihren Einflüssen trägt sie dabei stets Rechnung, über die Musik hinaus und hin zu viel beachteten Körpern wie jenem der Gisèle Pelicot. Auch das öffnet den Blick für Stellen, wo die Haut sensibel dünner ist, in Lust oder Leid, ebenso wie die Blicke der Autorin auf männliche Körperteile. Im recitativo präputium (Vorhaut; Am Ende des Bandes steht ein medizinisches Glossar, Anm. d. Red.) fragt sich Schletterers lyrisches Ich etwa, warum viele Männer nicht über den eigenen Körper schreiben: „(…) da denkt sie / an ihren lesehunger / nach vorhäuten & eicheln / & wie anmaßend / es wäre // wenn sie / darüber schriebe“. Der Wechsel des Blickpunktes fällt da nicht schwer, sprachlich und künstlerisch haben Männer diese Bedenken selten, der „männliche Blick“ ist längst kein ausschließliches Filmphänomen mehr. Die Scham wird nicht nur körperlich der Frau zugeschrieben.

  • Seite 41: Auch als ein für Etymologie zu begeisternder Leser war mir persönlich nicht bewusst, dass sich Scheide und Vagina die gleiche, kriegerische Bedeutungsebene teilen. Foto: Siljarosa Schletterer / Limbus Lyrik

    Ein Perspektiv-Wechsel zum sogenannten schöneren Geschlecht ist dabei spannend und, egal zu welchem Geschlecht man sich selbst rechnet, lustvoll. Der Band ist ein Geschenk „für alle die körper hören & den mut haben die stimme zu erheben“. Fürs erste gilt es zuzuhören und die Käfigtür des Körpers ein Stück weit zu öffnen. „my body is a cage“ zählt so nach Johann Sebastian Bach zu den ersten musikalischen Referenzen im Band. Auch so geht nicht nur in der Disco eine Entschämung über geteiltes Gefühl und geteilte (sprachliche) Musikalität. Unklar ist, ob die Autorin dabei an den originalen Song von Arcade Fire, die Version von Peter Gabriel oder eine dritte Fassung gedacht hat. Eine Annäherung an ein gemeinsames Fühlen schafft sie sowieso. 

  • Siljarosa Schletterers „entschämungen – körperkantate“ ist, wie ihr Debüt, bei Limbus Lyrik erschienen. Wie auch zu „azur ton nähe – flussdiktate“ hat der Haller Künstler Franz Wassermann das Umschlagmotiv und einige  Grafiken beigesteuert. Über einen QR-Code am Ende des Buches können digitale Zusatzinhalte wie Musik und Schattenspiel zu den Texten abgerufen werden.

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